20.11.2012
Hessisches Finanzgericht: Beschluss vom 08.10.2012 – 4 V 1661/11
- Wird die Kapitalertragsteueranrechnungsbescheinigung von dem ausstellenden Kreditinstitut widerrufen, obliegt es dem Steuerpflichtigen die Erhebung der Kapitalertragsteuer auf Dividenden- bzw. Dividendenkompensationszahlungen anhand anderer geeigneter Beweismittel nachzuweisen.
- Der Einbehaltung der Kapitalertragsteuer durch den Emittent der Aktien berechtigt nicht zur Anrechnung der Steuer bei Dividendenkompensationszahlungen.
- Eine mehrfache Anrechnung von Kapitalertragsteuer trotz einmaliger Entrichtung ist nicht gesetzesgemäß.
- Die Anrechnungsbescheinigung nach § 45a Abs. 2 EStG liefert zum einen den Anscheinsbeweis für die entrichtete Kapitalertragsteuer. Zum anderen hat sie Tatbestandsmerkmalsfunktion bei § 36 Abs. 2 Nr. 2 S. 2 EStG.
- Das Geltendmachen von Kapitalertragsteuer als Abzugsteuer in Kenntnis der Nichterhebung der Steuer stellt trotz Vorliegens einer Anrechnungsbescheinigung eine arglistige Täuschung i.S.d. § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO dar.
Tatbestand
Die Antragstellerin begehrt die Aussetzung der Vollziehung der geänderten Bescheide über die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen für die Jahre 2006 bis 2008. Streitig ist die Rückforderung der angerechneten Kapitalertragsteuer.
Die Antragstellerin betreibt ein Unternehmen, das die Verwaltung eigener Vermögenswerte, insbesondere den Handel mit Finanzinstrumenten für eigene Rechnung zum Gegenstand hat. Alleiniger Gesellschafter ist Herr G 1. Er ist zugleich alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer. Als weiterer alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer war bis zum 24.12.2008 Herr G 2 bestellt, dessen Geschäftsführungsbefugnis bei Rechtsgeschäften von über 50.000 EUR jedoch insoweit eingeschränkt war, als er dafür der Zustimmung der Gesellschafterversammlung bedurfte.
In den Jahren 2006 bis 2008 tätigte die Antragstellerin Geschäfte mit marktgängigen Aktien deutscher Aktiengesellschaften, die überwiegend im Dax 30 und vereinzelt im M-Dax gelistet waren. Die Aktien wurden kurz vor bzw. am Tag der jeweiligen Hauptversammlung „cum dividende” gekauft und kurz nach der Dividendenzahlung wieder verkauft. Dazu hatte die Antragstellerin der BANK 1, die zugleich die Konten- und Wertpapierdepots der Antragstellerin führte, einen schriftlichen Auftrag zur Ausführung von Wertpapier- und Derivatgeschäften erteilt, in dem die Einzelgeschäfte genau bezeichnet waren (vgl. Anlage 1 bis 3 zum Antragsschriftsatz der Antragstellerin vom 18.05.11). Die BANK 1 führte die erteilten Wertpapiergeschäfte auftragsgemäß durch. Das Risiko von Kursschwankungen sicherte die Antragstellerin mit sog. Kurssicherungsgeschäften ab. Insgesamt betrugen die Anschaffungskosten für die von der Antragstellerin erworbenen Aktien im Jahr 2006 3.717.759.808 EUR, im Jahr 2007 5.779.073.986 EUR und im Jahr 2008 6.390.993.567 EUR. Die ausgezahlten Netto-Dividenden wurden auf dem Konto der Antragstellerin bei der BANK 1 gutgeschrieben. Die BANK 1 bescheinigte der Antragstellerin per Jahressteuerbescheinigungen für die Streitjahre den Einbehalt der Kapitalertragsteuer auf die Dividendenerträge.
Das Finanzamt erließ daraufhin am 28.08.2007 einen Bescheid über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für 2006, in dem es Kapitalertragsteuer auf Dividendenerträge in Höhe von 22.972.800 EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von 1.263.504 EUR anrechnete. Der Bescheid über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für 2007 erging am 11.06.2008 und sah eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer auf Dividendenerträge in Höhe von 37.956.440 EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von 2.087.604,20 EUR vor. In dem am 09.06.2009 erlassenen Bescheid über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für 2008 rechnete das Finanzamt Kapitalertragsteuer auf Dividendenerträge in Höhe von 46.470.140 EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von 2.555.257,37 EUR an.
Die in den Körperschaftsteuerbescheiden festgesetzten Beträge wurden an die Antragstellerin erstattet. Dies führte zu einer Erstattung von 22.815.413,09 EUR in 2006, 37.192.138,59 EUR in 2007 und 46.363.050,99 EUR in 2008. Der Bescheid für 2008 wurde am 29.01.2010 zur Vornahme eines Verlustrücktrages aus 2009 in Höhe von 14.992 EUR geändert, was zu einer weiteren Erstattung von insgesamt 2.372,70 EUR führte. Alle erlassenen Bescheide ergingen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
Im Rahmen einer bei der Antragstellerin durchgeführten Außenprüfung, die bisher nicht abgeschlossen ist und in der es insbesondere um die Rechtmäßigkeit der Anrechnung von Steueranrechnungsbeträgen auf Dividenden geht, wurde festgestellt, dass die vorgenommenen Aktiengeschäfte alle außerhalb der Börse als sog. OTC-Geschäfte abgewickelt wurden. Der Aktienhandel (sog. cum/ex Modell) erfolgte nach einer Handelsstrategie der Kanzlei K und der BANK 1 über den zwischengeschalteten englischen BROKER B. In einem Gutachten der Kanzlei K durch Herrn X für die BANK 1 und die Antragstellerin vom 12.01.2007 bzw. vom 16.01.2008 wird die Struktur des Aktienhandels dargestellt sowie die sich daraus ergebenden steuerlichen Konsequenzen und deren Risiken - insbesondere im Hinblick auf die ab dem 01.01.2007 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen - untersucht. Darin kommt zum Ausdruck, dass es sich bei dem Vorverkäufer sowie dem Käufer um ein im Ausland ansässiges Unternehmen und dem den Verkaufsauftrag ausführenden Kreditinstitut um ein ausländisches handeln müsse. Zum anderen wird in dem Gutachten ausgeführt, dass bei Leerverkäufen an die Antragstellerin die Anwendung der Neuregelung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG auf Dividendenzahlungen ab 01.01.2007 keine für sie veränderte steuerliche Situation mit sich bringe. Die Analyse des Aktienhandels aufgrund der Konto- und Depotauszüge der BANK 1 ergab, dass es in allen Streitjahren zu Lieferverzögerungen gekommen ist, so dass die Aktien zum Teil „T+3” (d.h. mit einer Verzögerung von drei Tagen), aber auch „T+4” ins Depot der Antragstellerin eingebucht wurden.
Nachdem der Betriebsprüfer den zuständigen Veranlagungsteilbezirk am 28.12.2010 über die bei der Antragstellerin vorgefundenen OTC-Geschäfte und die Lieferverzögerungen bei einer Anzahl von Aktienlieferungen informiert hatte, erließ das Finanzamt am 03.02.2011 geänderte Anrechnungsverfügungen für die Jahre 2006 bis 2008. Darin wurde die Anrechnung der Kapitalertragsteuer gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO zurückgenommen und folgende Anrechnungsbeträge sowie Zinsen zurückgefordert:
Kalenderjahr | Kapitalertragsteuer | Solidaritätszuschlag | Zinsen |
2006 | 22.972.800,00 EUR | 1.263.504,00 EUR | 3.905.376,00 EUR |
2007 | 33.956.440,00 EUR | 2.087.604,20 EUR | 4.175.204,00 EUR |
2008 | 46.470.140,00 EUR | 2.555.857,67 EUR | 2.323.505,00 EUR |
Gesamt | 107.399.380,00 EUR | 5.906.965,87 EUR | 10.404.085,00 EUR |
Das Finanzamt begründete die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung insbesondere damit, dass die Anrechnungsverfügungen rechtswidrig seien, da die Voraussetzungen für die Anrechnung der Kapitalertragsteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 EStG nicht vorlägen. Durch den Widerruf der Jahressteuerbescheinigungen fehlten bereits die tatbestandsmäßig für die Anrechnung erforderlichen Steuerbescheinigungen. Demzufolge treffe die Antragstellerin die Beweislast dafür, dass tatsächlich Kapitalertragsteuer auf die Dividendenbezüge einbehalten worden sei.
Diesen Nachweis habe die Antragstellerin nicht erbracht. Die Einschaltung des ausländischen Brokers BROKER B, London erhärte zudem im Zusammenhang mit den getroffenen Feststellungen der Außenprüfung über die Abwicklung der Aktiengeschäfte nach der Handelsstrategie der steuerlichen Berater die Vermutung, dass die Kapitalertragsteuer nicht - wie zunächst bescheinigt - einbehalten und abgeführt worden sei.
Unabhängig vom Fehlen der erforderlichen Bescheinigungen sei die Antragstellerin aber auch deshalb nicht Anrechnungsberechtigte nach § 20 Abs. 2a Satz 1 EStG, da sie nicht wirtschaftlicher Eigentümer (§ 39 AO) der von ihr erworbenen Aktien und damit nicht Anteilseigner gewesen sei.
Demgegenüber trägt die Antragstellerin vor, dass es für die Änderung der Anrechnungsverfügung bereits an einem rechtswidrigen Verwaltungsakt fehle, weil die Anrechnungsvoraussetzungen des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG vorlägen. Sie meint, dass sie zum Zeitpunkt der Dividendenausschüttung wirtschaftliche Eigentümerin und damit als Anteilseignerin zur Anrechnung von Kapitalertragsteuer berechtigt gewesen sei. Dies gelte selbst im Fall von sog. Leerverkäufen. Dass die Kapitalertragsteuer erhoben worden sei, ergebe sich bereits aus der Auszahlung der um die Kapitalertragsteuer gekürzten Netto-Dividende bzw. der Netto-Dividenden-Kompensationzahlung. Dabei sei evident, dass die hier betroffenen M-Dax- bzw. Dax 30-Aktiengesellschaften die Kapitalertragsteuer auch abgeführt hätten. Durch die Vorlage der Jahressteuerbescheinigung habe die Antragstellerin den Nachweis für die Erhebung der Kapitalertragsteuer erbracht. Dass die Bescheinigung unrichtig sei, habe das Finanzamt nicht nachgewiesen. Ebenso wie das Risiko der Nichtabführung von Kapitalertragsteuer den Fiskus treffe, gelte dies auch für das Risiko der Nichtaufklärbarkeit der Frage, ob Kapitalertragsteuer erhoben worden sei, da die, die Bescheinigung ausstellende Bank, ebenso Verwaltungshelfer und Beliehene des Fiskus sei. Die Steuerbescheinigungen hätten ihre Tatbestandswirkung für die Anrechnung der Kapitalertragsteuer auch nicht ex-tunc durch das Rückforderungsverlangen der BANK 1 verloren. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei der Widerruf einer bereits erteilten Steuerbescheinigung mit Tatbestandswirkung irrelevant. Dass die ausgestellte Steuerbescheinigung objektiv richtig sei, ergebe sich bereits aus der Regelung des § 45a Abs. 3 EStG. Danach habe ein inländisches Kreditinstitut die Steuerbescheinigung zu erteilen, wenn es für Rechnung des Schuldners die Dividenden bzw. Dividenden-Kompensationszahlungen auszahle. Es komme dabei nicht darauf an, welches Kreditinstitut auf Veräußerseite eingeschaltet gewesen sei. Die BANK 1 sei auch bei einem Leerverkauf gezwungen gewesen, die Bescheinigung unabhängig vom Geschehen auf der Veräußerungsseite auszustellen. Selbst eine doppelte Anrechnung von Kapitalertragsteuer stehe der Rechtmäßigkeit der Bescheinigung demzufolge nicht entgegen. Da nach § 45a Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz EStG der Emittent der Aktien in den Fällen des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG ebenfalls als Schuldner der Kapitalerträge gelte, würde er damit nach § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG als Schuldner der Abzugssteuer fingiert. Bei der Beurteilung, ob der Steuerabzug durchgeführt worden ist, komme es daher nur darauf an, dass der Emittent der Aktien diesen vorgenommen habe, was nicht ernsthaft zweifelhaft sei. Unabhängig davon lägen hier die Änderungsvoraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO auch deshalb nicht vor, weil kein Erwirken der Anrechnung durch die Antragstellerin vorliege.
Zwischenzeitlich sind am 24.02.2012: 65.500.000 €, am 26.07.2012: 27.633.000 € von Haftungsschuldnern und am 30.07.2012 30.577.430,87 € von der Antragstellerin auf ihre Steuerschuld gezahlt und entsprechend der Tilgungsbestimmungen verrechnet worden.
Die Antragstellerin hat daraufhin ihren ursprünglichen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide, soweit die Steuerschulden getilgt wurden, in einen Antrag auf Aufhebung der Vollziehung umgestellt. Sie beantragt nunmehr:
1. Die Vollziehung der Bescheide über die geänderte Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen und Körperschaftsteuer für 2006, 2007 und 2008 sowie der Bescheide über Zinsen für Körperschaftsteuer für 2006, 2007 und 2008, alle vom 03.02.2011, ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ohne Sicherheitsleistung in der Höhe auszusetzen, in der Zahlungen an den Antragsgegner noch nicht erfolgt sind;
2. soweit Zahlungen an den Antragsgegner erfolgt sind, die Vollziehung der Bescheide über die geänderte Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen und Körperschaftsteuer für 2006, 2007 und 2008 sowie der Bescheide über Zinsen zur Körperschaftsteuer für 2006, 2007 und 2008, alle vom 03.02.2011, ohne Sicherheitsleistung ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung aufzuheben.
3. hilfsweise, die Beschwerde zum Bundesfinanzhofs zuzulassen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Er verweist darauf, dass die Änderung der ursprünglichen Anrechnungsverfügungen wegen fehlender anrechenbarer Kapitalertragsteuer nach § 130 Abs. 2 AO rechtmäßig sei. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin sei vorliegend nicht auf die Besteuerung der (Ur-) Dividende mit der Anrechnung der Steuerabzugsbeträge, die vom Schuldner der Kapitalerträge, dem Emmitent der Aktien nach § 44 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 3 EStG abgeführt wurde, abzustellen. Denn die Antragstellerin habe hier Dividendenausgleichszahlungen im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG vereinnahmt, die in Höhe der Netto-Dividenden von dem BROKER B auf das Konto der Antragstellerin bei der BANK 1 überwiesen worden seien. Auch gelte der Emittent der Aktien für die Anwendung des § 45a Abs. 3 Satz 1 EStG gemäß § 45a Abs. 3 Satz 3 EStG zwar als Schuldner der Kapitalerträge - nicht aber als Schuldner der Kapitalertragsteuer. Nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG habe das für den Verkäufer der Aktien den Verkaufsauftrag ausführende inländische Kreditinstitut den Steuerabzug vorzunehmen. Folglich sei bei den
Dividendenausgleichszahlungen nicht wie bei der (Ur-)Dividende der Emittent der Aktien der Entrichtungspflichtige, sondern die Depotbank des (Leer-)Verkäufers. Für das Jahr 2006 sei ohnehin kein Steuerabzug auf Dividendenausgleichszahlungen erfolgt, da diese erst ab 01.01.2007 geschaffenen gesetzlichen Voraussetzungen für die Erhebung der Steuerabzugsbeträge auf Dividendenausgleichszahlungen noch nicht existent gewesen seien. Mit dem Fehlen der Erhebung der Kapitalertragsteuer sei damit die zwingende Voraussetzung für deren Anrechnung im Rahmen des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.
Dem Gericht haben die Verwaltungsakten zur Steuernummer vorgelegen. Sie waren Gegenstand des Verfahrens.
Gründe
Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist nicht begründet.
Nach dem Gesetz (§ 69 Abs. 3 und 2 FGO) kann das Gericht die Vollziehung eines Steuerbescheides auf Antrag des Steuerpflichtigen ganz oder teilweise aussetzen bzw. aufheben, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides bestehen oder wenn die Vollziehung für den Steuerpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da dem Steuerpflichtigen durch eine Aussetzung der Vollziehung nur ein vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden soll, beschränkt sich das Verfahren auf eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund des zwischen den Beteiligten unstreitigen Sachverhaltes und der vorliegenden Beweismittel. Diese Prüfung ergibt folgendes:
Nach summarischer Prüfung bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte. Das Finanzamt hat die ursprünglichen Anrechnungsverfügungen 2006 bis 2008 zutreffend nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO geändert und die zunächst steuermindernd berücksichtigte Kapitalertragsteuer zu Recht nicht auf die Körperschaftsteuerschuld angerechnet.
1. Nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Diese Regelung gilt auch für Anrechungsverfügungen, wenn und soweit diese -wie vorliegend - als Verwaltungsakt anzusehen sind.
Im Streitfall liegen insoweit nach summarischer Prüfung die Voraussetzungen für eine Änderung der Anrechnungsbescheide vor, da die Antragstellerin durch ihre Angaben in den Steuererklärungen und die vorgelegten Bescheinigungen zu Unrecht den Eindruck erweckt hatte, dass anrechenbare Kapitalertragsteuer vorliege, um die die Körperschaftsteuerschuld zu mindern sei. Diese daraufhin erfolgte Anrechnung der Kapitalertragsteuer durch Bescheide vom 28.08.2007, 11.06.2008 und 20.01.2010 war rechtswidrig.
a. Nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG i.V.m. § 31 Abs. 1 KStG wird auf die Einkommensteuer/Körperschaftsteuer die durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer/Körperschaftsteuer angerechnet, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt und nicht die Erstattung beantragt oder durchgeführt ist. Die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer wird nicht angerechnet, wenn die in § 45a Abs. 2 oder 3 EStG bezeichnete Bescheinigung nicht vorgelegt worden ist.
„Erhoben” im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG ist die in Form der Kapitalertragsteuer erhobene Einkommensteuer bereits dann, wenn sie vom Schuldner der Kapitalerträge für Rechnung des Gläubigers der Kapitalerträge einbehalten wurde. Auf die Abführung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer an das Finanzamt kommt es dabei nicht an.
Allerdings muss die anzurechnende Kapitalertragsteuer dabei auf solche Einkünfte entfallen, die bei der Einkommensteuerveranlagung erfasst wurden. Für Kapitaleinkünfte bestimmt § 20 Abs. 2a EStG, dass der Anteilseigner Einkünfte aus Kapitalvermögen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG erzielt. Anteilseigner ist derjenige, dem nach § 39 AO die Anteile im Zeitpunkt des Gewinnverwendungsbeschlusses zuzurechnen sind. Das kann nach § 39 Abs. 2 AO auch ein wirtschaftlicher Eigentümer sein, der wie ggf. bei „cum-/ex-Geschäften” nicht zugleich Inhaber der Aktien ist. Durch die Einführung der Regelung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG kann es für die Frage der Anrechnungsberechtigung jedoch bei Aktienverkäufen dahinstehen, ob bei Leerverkäufen das wirtschaftliche Eigentum bereits mit Kaufvertragsabschluss übergeht. Denn der Steuerpflichtige, der gerade nicht wirtschaftlicher Eigentümer geworden ist, hat die Dividendenkompensationszahlungen als Kapitaleinkünfte zu versteuern, so dass jedenfalls Einkünfte im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG vorliegen, die entweder im Rahmen des Satzes 1 oder des Satzes 4 zu erfassen sind.
Für die Anrechnungsberechtigung kommt es daher nicht darauf an, ob die Einnahmen nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 oder Satz 4 EStG zu erfassen sind; entscheidend ist vielmehr, ob hinsichtlich der bei der Veranlagung zu erfassenden Einkünfte eine Erhebung der Kapitalertragsteuer vorliegt. Es kommt also darauf an, ob auf die zu erfassenden Einkünfte der Steuerabzug vorgenommen wurde.
Die Beweislast für die Erhebung der Kapitalertragsteuer trifft nach allgemeinen Grundsätzen denjenigen, der die Anrechnung begehrt (Kirchhoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 36 EStG, Rn. D171). Dies ist im Streitfall die Antragstellerin.
b. Vorliegend hat die Antragstellerin diesen Nachweis nicht erbracht. Zwar hat die Antragstellerin bei der Abgabe der Steuererklärung eine Anrechnungsbescheinigung der Bank nach § 45a Abs. 2 EStG vorgelegt, die regelmäßig den Anscheinsbeweis für die Zahlung der anzurechnenden Kapitalertragsteuer liefert. Diese Anrechnungsbescheinigung hat die ausstellende Bank jedoch widerrufen. Damit entfällt auch die ihr innewohnende Beweisvermutung.
Soweit die Antragstellerin unter Hinweis auf die Rechtsprechung darauf verweist, dass es ausreiche, wenn die Anrechnungsbescheinigung vorgelegen habe, mit der Folge, dass auch bei Widerruf der Anrechnungsbescheinigung die Voraussetzungen für die Anrechnung noch bestünden, verkennt die Antragstellerin die doppelte Funktion, insbesondere den Beweiswert dieser Bescheinigung. Zweck der Bescheinigung ist zum einen die besondere Nachweisfunktion für die entrichtete Kapitalertragsteuer. Sie liefert den Anscheinsbeweis für die Entrichtung der Kapitalertragsteuer auf die erhaltenen Zahlungen. Zum anderen ist die Bescheinigung materiell-rechtliche Voraussetzung und Tatbestandsmerkmal für die Anrechnung (BFH-Urteil vom 12.02.2008 VII R 33/06, BFH/NV 2008, 845). Liegt die Bescheinigung nicht vor, ist das zusätzliche Tatbestandsmerkmal zur Anrechnung der Kapitalertragsteuer nicht erfüllt (BFH-Urteil vom 29.04.2008, VIII R 28/07, BStBl II 2009, 842). Selbst wenn man unter Hinweis auf die Rechtsprechung (BFH-Beschluss vom 20.08.2007 I B 98/07, BFH/NV 2007, 2276) die Meinung vertritt, dass durch die Rückforderung der Anrechnungsbescheinigung das Tatbestandsmerkmal der Vorlage einer Anrechnungsbescheinigung nach § 45a Abs. 2 EStG nicht entfällt, wird jedenfalls die Anscheinsbeweisfunktion durch den Widerruf der Bescheinigung beseitigt.
Soweit die ausstellende Bank die Bescheinigung zurückfordert, weil - wie im Streitfall - wegen möglicher Einschaltung einer ausländischen Depotbank begründete Zweifel an dem Einbehalt der Kapitalertragsteuer auf die geleisteten Ertragszahlungen bestehen, kann die Bescheinigung keinen Beweis mehr für die Entrichtung der Kapitalertragsteuer bieten. Um die Anrechnung erhobener
Kapitalertragsteuer zu erreichen, bedarf es demzufolge zum Nachweis für die Erhebung der Kapitalertragsteuer anderer geeigneter Beweismittel. Diesen Nachweis hat die Antragstellerin trotz ausdrücklichen Hinweises des Finanzamtes nicht erbracht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass hier der Emittent der Aktien (DAX 30-Unternehmen) den Steuerabzug auf die Dividende vorgenommen hat, hätte die Antragstellerin für diesen Fall glaubhaft machen müssen, dass es sich hier nicht um Aktienleerverkäufe gehandelt hat und dass sie zum Zeitpunkt der Ausschüttung wirtschaftliche Eigentümerin der Aktien war. Dies hat sie weder hinreichend dargelegt noch glaubhaft gemacht.
c. Soweit die Antragstellerin unter Hinweis auf die Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 23.04.1996, VIII R 30/93, BFHE 181, 7) ausführt, dass es nicht darauf ankomme, ob die Kapitalertragsteuer tatsächlich abgeführt worden sei, betrifft dies nur solche Fälle, in denen die Abzugssteuer von den Erträgen auch tatsächlich einbehaltenen wurde. Dies folgt aus der Erwägung, dass sich der Fiskus beim Einzug der Kapitalertragsteuer des Schuldners der Kapitalerträge als „Verwaltungsgehilfen” bedient, der Gläubiger der Kapitalerträge (Steuerschuldner) den Steuereinbehalt dulden muss und auf die Abführung der eingehaltenen Kapitalertragsteuer durch den Schuldner der Kapitalertragsteuer regelmäßig keinen Einfluss nehmen kann. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, das Risiko der Nichtabführung der Kapitalertragsteuer durch den Schuldner der Kapitalerträge und den Ausfall der Kapitalertragsteuer dem Fiskus zuzuweisen, der sich des Schuldners der Kapitalerträge als „Verwaltungshelfer” bedient (BFH-Urteil vom 23.04.1990 a.a.O.). Ein solcher Fall liegt hier aber gerade nicht vor, da nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden ist, dass Kapitalertragsteuer auf die Dividendenerträge bzw. die Ausgleichszahlungen tatsächlich einbehalten wurde. Der Umstand, dass nur die Gutschrift der Nettodividende bei der depotführenden Bank des Gläubigers der Kapitalerträge erfolgt, besagt nicht, dass die Depotbank des Schuldners der Kapitalerträge die Kapitalertragsteuer auf die Kapitalerträge auch einbehalten
hat. Eine Verpflichtung zur Einbehaltung der Kapitalertragsteuer auf dividendengleiche Bezüge besteht insoweit nur bei inländischen Instituten (§ 44 Abs. 1 Satz 3 EStG). Zumindest in den Fällen, in denen nicht ersichtlich ist, ob es sich bei der depotführenden Bank um ein inländisches Institut handelt, kann nicht unterstellt werden, dass die Kapitalertragsteuer einbehalten wurde. Es ist daher fernliegend, die depotführende Bank, insbesondere, wenn es sich um ein ausländisches Institut
handelt, als Verwaltungshelfer des Fiskus anzusehen. Solange die Bank keine Kapitalertragsteuer einbehalten hat, besteht keinerlei Beziehung zu der depotführenden Bank.
Zwar mag es zutreffen, dass bei Ausstellung einer Steuerbescheinigung das Risiko für deren Falschausstellung in der Sphäre der Finanzverwaltung liegt. Dem Fiskus jedoch darüber hinaus auch die Nachweispflicht aufzuerlegen, wenn keine Steuerbescheinigung vorgelegt oder eine solche widerrufen wurde, führt jedoch zu weit. Da die depotführende Bank, die die Aktien für den Kapitalanleger verwaltet und die bei Auszahlung der Kapitalerträge die Kapitalertragsteuer einzubehalten hat, in diesen Fällen ihre Verwaltungshelferrolle gerade nicht nachgekommen ist bzw. sich von ihrem Handeln distanziert hat, ist die Nachweispflicht insoweit dem Sphärenbereich des Kapitalanlegers, hier der Antragstellerin, zuzuordnen.
d. Soweit die Antragstellerin ferner ausführt, dass es wegen der gesetzlichen Fiktion des § 45a Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz EStG, nach der der Emittent der Aktien als Schuldner der Kapitalerträge gilt, für die Durchführung des Steuerabzugs nur darauf ankommt, dass dieser den Steuerabzug ausgeführt habe, wovon im Streitfall zweifelsfrei auszugehen sei, ist dies rechtsirrig. Denn nach der Norm gilt der Emittent nur als Schuldner der Kapitalerträge. Er wird darüber hinaus nicht als Schuldner der Abzugssteuer nach § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG fingiert. Dass die Abführung der Kapitalertragsteuer durch den Emittenten der Aktien für die Erhebung der Steuer auf Dividendenkompensationszahlungen nicht ausreicht, ergibt sich bereits aus dem Sinn und Zweck der Neuregelung des Jahressteuergesetzes 2007.
Danach soll die Depotbank eines Leerverkäufers nunmehr gerade verpflichtet sein, Kapitalertragsteuer auf die Ausgleichzahlung einzubehalten und an ihr Betriebsstättenfinanzamt abzuführen (§ 44 Abs. 1 Satz 3, 5 EStG). Erklärtes gesetzgeberisches Ziel war es dabei, durch Einführung eines neuen Kapitalertragssteuererhebungstatbestandes in § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG „dem Fiskus die Kapitalertragsteuer betragsmäßig zur Verfügung zu stellen, die dem Anrechnungsanspruch des Aktienerwerbers entspricht”. Die Auslegung der Antragstellerin
widerspricht diesem Gesetzeszweck. Dass der Gesetzgeber mit seiner Regelung auf halben Weg stehen geblieben sein soll, ändert dabei nichts an dem im Gesetzestext niedergelegten Zweck der gesetzlichen Regelung.
e. Soweit die Antragstellerin unter Hinweis auf den Gesetzestext in § 45a Abs. 3 Satz 1 EStG ausführt, die BANK 1 habe die Bescheinigung zu erteilen, unabhängig davon, ob die Kapitalertragsteuer tatsächlich gezahlt worden sei, ist dies unzutreffend. Die Antragstellerin verkennt dabei, dass die Bescheinigung nicht nur Tatbestandsmerkmal des § 45a Abs. 2 EStG ist, sondern insbesondere
auch Beweismittelfunktion hat. Zweck der Bescheinigung ist gerade der Nachweis einbehaltener und abgeführter Kapitalertragsteuer auf die zugeflossenen Erträge (BFH-Urteil vom 29.04.2008 VIII R 28/07, BStBl II 2009, 842). Sofern diese zu beweisende Tatsache nicht vorliegt, darf demgemäß auch keine Bescheinigung ausgestellt werden. Alles andere würde die „Verwaltungshelferrolle” der Bank ad absurdum führen. Wenn das Gesetz von einer Verpflichtung zur Ausstellung der Bescheinigung spricht, bezieht sich dies auf den Regelfall und setzt angesichts des Regelungszwecks denklogisch voraus, dass auch Kapitalertragsteuer erhoben wurde. Die Bescheinigung würde entwertet, wenn trotz begründeter Zweifel an der Erhebung von Kapitalertragsteuer das die Bescheinigung ausstellende inländische Kreditinstitut gleichwohl dessen Zahlung bescheinigen müsste. Der Fiskus hat demzufolge in seinen Verwaltungsanweisungen (BMF-Schreiben vom 05.11.2002, BStBl I 2002, 1338) die Kriterien festgelegt, nach denen abweichend vom Regelfall begründete Zweifel an der Einbehaltung der Kapitalertragsteuer bestehen, die der Ausstellung einer Steuerbescheinigung entgegenstehen.
Insbesondere die Haftungsregelung des § 45a Abs. 7 EStG bei falschen Bescheinigungen impliziert, dass die inhaltliche Richtigkeit der zu bescheinigenden Tatsachen (und zwar in erster Linie die Erhebung der Kapitalertragsteuer) maßgebend ist. Von dem ausstellenden Kreditinstitut kann daher nicht die Bestätigung von Inhalten verlangt werden, von denen es nicht nur keine positive Kenntnis hat, sondern bei denen darüber hinaus noch begründete, in den BMF-Schreiben konkretisierte Zweifel an der Richtigkeit des Inhaltes der Bescheinigung bestehen. Des Weiteren ergibt sich durch den in § 45a Abs. 2 Satz 1 KStG niedergelegten Vorbehalt bezüglich der Regelungen in Abs. 3 und 4 der Norm, dass diese Verpflichtung nur besteht, wenn die Kapitalerträge durch ein inländisches Institut gezahlt werden. Bestehen - wie im Streitfall - begründete Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei der depotführenden Bank um ein ausländisches Institut handelt, besteht nach der gesetzlichen Regelung keine Verpflichtung zur Erteilung der Steuerbescheinigung.
f. Die Ansicht der Antragstellerin, die Kapitalertragsteuer sei wegen der gesetzlichen Regelung auch ggf. doppelt anzurechnen, obwohl sie nur einmal abgeführt worden sei, ist abwegig. Sie widerspricht bereits dem Grundverständnis der Kapitalertragsteuer als Abzugssteuer. Die Kapitalertragsteuer ist keine Steuer eigener Art, sondern eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer in Form einer Einkommensteuervorauszahlung für Rechnung des Gläubigers bestimmter Kapitalerträge (BFH-Urteil vom 18.02.1970 I R 97/66, BStBl II 1970, 464). Die Rechtsprechung hat in ihren Entscheidungen die in § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 EStG getroffene Regelung stets „wirtschaftlich” verstanden und die Einbehaltung der Kapitalertragsteuer als Grundvoraussetzung für deren Anrechnung angesehen (vgl. nur BFH-Urteil vom 23.04.1996 VIII R 30/93, BFHE 181,7; Urteil vom 20.10.2010 I R 54/09, BFH/NV 2011, 641). Diesen Grundsätzen widerspricht die formaljuristische Auslegung der Antragstellerin, die mit dem steuerrechtlichen Grundprinzipien der Anrechnung von Abzugssteuern nicht in Einklang zu bringen ist. Im Sachzusammenhang mit der Systematik der Anrechnung der Kapitalertragsteuer als Abzugsteuer ist eine Gesetzesauslegung dahingehend, dass eine
Anrechnung erfolgen kann, ohne dass Abzugssteuern einbehalten wurden, nicht vertretbar. Es ist evident, dass als Vorauszahlung nur Steuern angerechnet werden können, die auch tatsächlich erhoben worden sind.
2. Mangels hinreichender Glaubhaftmachung der Erhebung von Kapitalertragsteuer auf die erhaltenen Kapitalerträge durch die Antragstellerin liegen daher die Voraussetzungen der Anrechnung des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG im Ergebnis nicht vor. Der ursprüngliche Anrechnungsbescheid ist somit rechtswidrig und kann nach § 130 Abs. 2 AO geändert werden. Dessen Tatbestandsvoraussetzungen sind im Streitfall bei summarischer Prüfung gegeben.
a. Der Umstand, dass die Steuerbescheinigung durch die BANK 1 erst nach Durchführung der Änderung des Anrechnungsbescheides widerrufen wurde, schließt die Änderung des ursprünglichen Bescheides nicht aus. Soweit es für die Aufhebung oder Änderung eines Bescheides entscheidend auf die Sachlage zur Zeit des Erlasses des Verwaltungsaktes ankommt, lagen bereits zu diesem Zeitpunkt die Tatbestandsvoraussetzungen der Änderungsnorm vor. Da die Antragstellerin den Nachweis der Erhebung der Kapitalertragsteuer nicht erbracht hat, ist bereits zu diesem Zeitpunkt die Anrechnung rechtswidrig. Der zunächst bestehende Anscheinsbeweis aufgrund der Bescheinigung der BANK 1 hat sich durch den Widerruf dieser Bescheinigung als nicht haltbar erwiesen und führt, da keine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist, zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ex tunc.
b. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin liegt im Streitfall auch ein „Erwirken” der Anrechnung durch die Antragstellerin vor. Ein solches Erwirken ist, wie das Finanzgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 08.12.2009 15 K 6030/09 B (die Aufhebung des Urteils durch den BFH erfolgte aus anderen Gründen, vgl. BFH-Urteil vom 09.12.2010 VII R 3/10, BFH/NV 2011, 750) zutreffend ausgeführt hat (ebenso BFH-Urteil vom 22.08.2006 I R 42/05, BFH/NV 2007, 404) bereits dann gegeben, wenn die Antragstellerin - wie vorliegend - durch Vorlage
einer unrichtigen Bescheinigung die Anrechnung der Kapitalertragsteuer verursacht hat. Ohne die Angaben in den Körperschaftsteuererklärungen und insbesondere ohne die Vorlage der Steuerbescheinigung hätte das Finanzamt die Kapitalertragsteuer nicht angerechnet.
c. Die Frist des § 130 Abs. 3 AO steht einer Änderung der Anrechnungsverfügung ebenfalls nicht entgegen. Nach § 130 Abs. 3 Satz 1 AO ist die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nur innerhalb eines Jahres nach Kenntnis des Finanzamts von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen möglich. Soweit es mehrere Tatsachen sind, die jede für sich nicht geeignet ist, Zweifel an der Richtigkeit der Anrechnungsverfügung zu begründen, die aber zusammengenommen die Rechtmäßigkeit der Änderung der Anrechnungsverfügung ergeben, liegt der die Frist auslösende Umstand erst vor, wenn die Tatsachen kumulativ vorliegen, die zur Rechtswidrigkeit der Anrechnungsverfügung führen. Da das Finanzamt vorliegend erst sukzessive im Rahmen der Außenprüfung Kenntnis von Tatsachen erlangt hat, die auf einer Rechtswidrigkeit der Anrechnung schließen ließen und die zur Zurückforderung der Bankbescheinigung führten, war die Jahresfrist zum Zeitpunkt des Erlasses der geänderten Anrechnungsbescheide vom 03.02.2011 noch nicht abgelaufen. So hat das Finanzamt unter anderem erst durch die Antwort auf die Prüfungsanfragen Nr. 3 und 4 vom 18.05.2010 erfahren, dass es sich bei den vorliegenden Geschäften um OTC-Geschäfte handelte und dass es - was noch später bekannt wurde - bei einer Vielzahl der Transaktionen zu Lieferverzögerungen gekommen ist.
d. Darüber hinaus ist die Frist des § 130 Abs. 3 Satz 1 AO vorliegend auch unbeachtlich, da nach summarischer Prüfung vorliegend eine Rücknahme der Anrechnungsverfügung auch nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO möglich war. Nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO darf ein Verwaltungsakt, der einen rechtserheblichen Vorteil begründet, nach § 130 Abs. 3 Satz 2 AO außerhalb der Jahresfrist des Satzes 1 zurückgenommen werden, wenn er durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, erwirkt worden ist. Arglistige Täuschung ist eine bewusste vorsätzliche
Irreführung, wobei bedingter Vorsatz ausreicht. Sie kann auch in dem pflichtwidrigen Verschweigen entscheidungserheblicher Tatsachen bestehen (von Wedelsstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO-Kommentar, § 130 AO, Rn. 10, BFH-Urteil vom 23.07.1998, VII R 141/97, BFH/NV 1999, 433).
Davon ausgehend liegt arglistiges Handeln, das eine Änderung nach § 130 Abs. 3 Nr. 2 AO rechtfertigt, dann vor, wenn ein Steuerpflichtiger die Anrechnung von Kapitalertragsteuern in seiner Steuererklärung, ggf. durch Vorlage von Kapitalertragsteuerbescheinigungen, in Kenntnis der Nichteinbehaltung der geltend gemachten Abzugssteuern, geltend macht.
aa. Vorliegend hatte die Antragstellerin nach summarischer Prüfung Kenntnis von der Nichteinbehaltung der geltend gemachten Kapitalertragsteuer, so dass eine Änderung der Anrechnungsverfügungen auch nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO gerechtfertigt ist.
Der Antragsgegner weist zutreffend darauf hin, dass die Handelsstrategie nach dem „Modell X” ersichtlich darauf beruht, durch die Einschaltung einer ausländischen Depotbank eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer auf Aktienleerverkäufe zu erhalten, ohne dass auf die Aktienkompensationszahlungen Kapitalertragsteuer durch die ausländische Bank entrichtet wurde. Die Notwendigkeit der Einschaltung einer ausländischen Depotbank ergibt sich dabei aus dem Gutachten von Herrn X vom 16.01.2008, wo es heißt, dass es sich bei dem Vorverkäufer und dem Verkäufer um ein im Ausland ansässiges Unternehmen handelt (Anlage AG 8, Seite 5, 1. Aufzählungspunkt, Satz 5 „Anlagenband Finanzamt”). Weiterhin wird auf dem Schaubild in der Anlage 1 zu dem genannten Gutachten (Anlage AG 8, Seite 45 a.a.O.) auf den ausländischen Verkäufer und Vorverkäufer verwiesen. Insbesondere aber das Schreiben von Herrn X vom 12.01.2007 an die BANK 1, in dem er ausführt, dass die Strategie auch nach 2007 noch funktioniere, wenn das den Verkaufsauftrag ausführende Kreditinstitut für den im Ausland ansässigen Verkäufer ein ausländisches, nicht jedoch - wie § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG dies verlangt - ein inländisches Kreditinstitut ist (Anlage AG 6, Seite 2, letzter Absatz a.a.O.), weist darauf hin, dass die Einschaltung einer ausländischen Depotbank Voraussetzung bei den Aktienverkäufen entsprechend dem vorgegebenen Muster war.
Nur vor diesem Hintergrund, der Anrechnung nicht gezahlter Kapitalertragsteuer machte das genannte Modell wirtschaftlich einen Sinn. Die Einschaltung eines ausländischen Brokers sowie die nicht termingerechte Erfüllung bei einzelnen Transaktionen und die Einschaltung von Herrn X als Berater der Antragstellerin bei Anbahnung und Abwicklung der Geschäfte lassen bei summarischer Prüfung darauf schließen, dass es sich vorliegend um Aktienverkäufe nach dem im Gutachten vorgegebenen Muster handelte. Zwar weist die Antragstellerin zutreffend darauf hin, dass ausländische Broker sich auch einer inländischen Depotbank bedienen könnten. Diese theoretische Möglichkeit ist jedoch praktisch auszuschließen, da sie bei der o.g. Handelsstrategie wirtschaftlich keinen Sinn macht.
bb. Soweit die Antragstellerin ausführt, dass sie mit der Handelsstrategie lediglich Arbitragegewinne haben erzielen wollen, ist dies nicht glaubhaft. Der Antragsgegner weist zutreffend darauf hin, dass die gewählte Gestaltung unter Einschaltung der BANK 1 für die behauptete Arbitragestrategie viel zu kostenintensiv und der Handel Antragstellerin/Broker der kürzere, günstigere und risikolosere Weg gewesen wäre. Im Einzelnen wird insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des Antragsgegners in seinem Schriftsatz vom 13.06.2012 verwiesen. Auch widerspricht die gewählte Gewinnverteilung dem Vorliegen von Arbitragegeschäften. Es wäre unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bei Arbitragegeschäften nicht nachvollziehbar, warum die Antragstellerin 65 % des durch sie zu erzielenden Kapitalertragsteueranrechnungsvolumens an die BANK 1 London hätte zahlen sollen. Vielmehr sprechen sowohl die Gewinnverteilungsvereinbarung als
auch die gewählte Gestaltung bei summarischer Prüfung für das Vorliegen von Aktienleerverkaufsgestaltungen.
Aufgrund der genannten Umstände ergibt sich nach summarischer Prüfung zur Überzeugung des Gerichts, dass den vorliegend geltend gemachten Kapitalertragsteueranrechnungen Aktienleerverkäufe unter Einschaltung einer ausländischen Depotbank zugrunde liegen, bei denen keine Kapitalertragsteuer auf die Aktienkompensationszahlungen einbehalten wurde.
Dass der Geschäftsführer und alleinige Gesellschafter der Antragstellerin, Herr G 1, die näheren Einzelheiten der Handelsstrategie kannte, ergibt sich bei summarischer Prüfung zum einen bereits aus der Höhe des eingesetzten Kapitals von rund 15 Milliarden Euro. Es erscheint lebensfremd, dass ein kapitalmarkterfahrener Investor wie Herr G 1 solche Beträge einsetzt, ohne das Risiko zu kennen und dazu die Einzelheiten der Handelsstrategie geprüft zu haben. Zum anderen lässt der Umstand, dass Herr G 1 der eigentliche Initiator der Geschäfte war, der sich aktiv auf die Suche nach Herrn X und der BANK 1 begeben hat (vgl. Schreiben der BANK 2 vom 18.07.2007, Anlage AG 14, vom 19.09.2007 Anlage AG 15, und vom 25.09.2007, Anlage AG 16 a.a.O.) sowie der Umstand, dass Herr G 1 bei der BANK 1 angefragt hat, ob sie in der Lage sei, die Struktur nach dem Gutachten X umzusetzen (vgl. Email von Herrn vom 13.04.2006, Anlage AG 19 a.a.O.) darauf schließen, dass Herrn G 1 zumindest die wesentlichen Punkte der Handelsstrategie bekannt waren, er die Sache überblickt und damit wissentlich gehandelt hat.
Mit dem Geltendmachen von nicht einbehaltener Kapitalertragsteuer als Abzugssteuer im Rahmen der Körperschaftsteuererklärung in Kenntnis des Umstandes, dass dem bescheinigten Kapitalertragsteuerbetrag keine einbehaltene Steuer zugrunde lag, täuschte er den Antragsgegner nach Aktenlage über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Steueranrechnung. Er handelte damit arglistig, um sich
nicht gerechtfertigte Steuervorteile zu verschaffen. Dass er dabei auf die Anrechnung von nicht einbehaltener Abzugssteuer vertraut hat, widerspricht elementaren Grundsätzen der Plausibilität im System der Steueranrechnung und kann nur als Schutzbehauptung angesehen werden.
3. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist die Vollziehung der geänderten Anrechnungsverfügungen auch nicht bereits deshalb auszusetzen, weil die Vollziehung der Bescheide eine unbillige nicht durch überwiegend öffentliche Interessen gebotene Härte im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO darstellt. Eine unbillige und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte liegt vor, wenn dem Steuerpflichtigen durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides wirtschaftliche Nachteile drohen, die durch eine etwaige spätere Rückzahlung der eingezogenen Beträge nicht ausgeglichen werden oder nur schwer wieder gut zu machen sind, oder wenn die Vollziehung zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Steuerpflichtigen führen würde (BFH-Beschluss vom 05.03.1998 VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325). Anhaltspunkte hierfür sind im Streitfall nicht ersichtlich. Zwar handelt es sich hier um eine überdurchschnittlich hohe Forderung, die jedoch lediglich die Rückzahlung bereits ausgezahlter Gelder betrifft. Bei dem Geschäftsvolumen der Antragstellerin dürfte sie in der Lage sein, sich zum Ausgleich der Forderung notfalls die erforderlichen Gelder von ihrem Alleingesellschafter, dessen Vermögen sie einsetzt und verwaltet, zu beschaffen. Auch hat der Ausgleich eines Großteils der Forderungen gezeigt, dass die Antragstellerin über Finanzierungsmöglichkeiten verfügt, die über das Übliche hinausgehen. Abgesehen davon führt vorliegend wegen der geringen Aussichten der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren das Vorliegen einer unbilligen Härte nicht zur Aussetzung der Vollziehung.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
5. Gründe, die die Zulassung der Beschwerde rechtfertigen, sind nicht ersichtlich.