14.03.2013 · IWW-Abrufnummer 142969
Finanzgericht München: Urteil vom 26.07.2012 – 5 K 2812/11
1. Auch der nichtige Bescheid kann mit der Anfechtungsklage angefochten werden.
2. Die streitigen Einkommensteuerbescheide für 2007 leiden an einem besonders schwerwiegenden Fehler, der bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen wurden im Streitfall in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, die ergangenen Einkommensteuer-bescheide 2007 als verbindlich anzuerkennen. Die Schätzung weicht in krassem Umfang von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und verlässt den zulässigen Schätzungsrahmen in einem dermaßen eklatanten Umfang, dass sich schon aus diesem Grund der Verdacht einer unzulässigen Strafschätzung aufdrängt. Im Streitfall liegen keine geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung von Kapitaleinkünften und von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (in dermaßen eklatanter Höhe) vor. Zum Zeitpunkt der Schätzung blieben feststehende Tatsachen entgegen der gesetzlichen Regelung in § 162 Abs. 1 AO unberücksichtigt.
3. Der Steuerpflichtige kann, wenn keine Anhaltspunkte für mögliche Verzögerungen vorliegen, davon ausgehen, dass werktags im Bundesgebiet aufgegebene Sendungen am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden. Dass der Briefumschlag bei der Autofahrt vom Sitz zur Beifahrertür hin rutschen konnte, gehört zu den Umständen, die nie mit hundertprozentiger Sicherheit zu vermeiden sind. Das Verlangen des FA, die Briefe vor dem Einwurf in den Briefkasten jedes Mal abzuzählen, ist überzogen. Auch in der Steuerverwaltung existiert kein Kontrollsystem für die gesicherte vollständige Postaufgabe bei der Post oder beim Briefkasten. Nur eigenes Verschulden des Prozessbevollmächtigten, nicht aber Verschulden des ordnungsgemäß ausgewählten, instruierten und überwachten Büropersonals werden dem Verfahrensbeteiligten gemäß § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet.
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
In der Streitsache
hat der 5. Senat des Finanzgerichts M. durch die Richterin am Finanzgericht … als Einzelrichterin auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 26. Juli 2012 für Recht erkannt:
1. Die Einkommensteuerbescheide 2007 vom 4. August 2009 und vom 7. Juli 2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 werden aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Gründe
I.
Die Klägerin wird vom Beklagten (dem Finanzamt) zur Einkommensteuer veranlagt. Sie wohnte im Streitjahr in der x-straße in M.
In den Jahren 2004 bis 2006 erzielte die Klägerin als Miterbin lediglich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus dem teilweise vermieteten Objekt in der x-straße in M, das am 26. Mai 2008 für ca. 3 Mio. EUR durch Übertragungen der Erbteile veräußert wurde.
Die Einkommensteuerbescheide 2004 bis 2006 (2004 vom 29. Juni 2007, 2005 vom 25. Oktober 2007 sowie 2006 vom 27. September 2007 und vom 19. Juni 2008 mit einer festgesetztem Einkommensteuer für 2006 von 22.457 EUR) für die Klägerin wurden der Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben.
Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung stammten aus der seit 2003 bestehenden Erbengemeinschaft P./N. und wurden auch im Streitjahr 2007 mit Bescheid vom 10. Juli 2009 vom Lagefinanzamt einheitlich und gesondert festgestellt. Der Feststellungsbescheid 2007 beinhaltete daneben noch Einkünfte aus Kapitalvermögen, die in Höhe von 5 EUR der Klägerin zugerechnet wurden.
Da die Klägerin für das Streitjahr 2007 zunächst keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatte, schätzte das Finanzamt im Bescheid vom 4. August 2009 die Besteuerungsgrundlagen. Neben den bereits vom Lagefinanzamt mitgeteilten Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 35.265 EUR berücksichtigte das Finanzamt Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von 19.204 EUR sowie aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 20.080 EUR und setzte die Einkommensteuer 2007 auf 22.751 EUR fest. Eine Erläuterung, warum Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus nichtselbständiger Arbeit angesetzt wurden und wie sich diese ermitteln, findet sich im Bescheid nicht. Mit Bescheid vom 7. Juli 2010 hob das Finanzamt den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
Dagegen legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 11. August 2010 Einspruch ein. Der Einspruch ging beim Finanzamt erst am 16. August 2010 (Eingangsstempel) ein.
Mit Schreiben vom 1. September 2010 wies das Finanzamt die Klägerin darauf hin, dass die Einspruchsfrist am 12. August 2010 (Donnerstag) abgelaufen sei und der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 7. Juli 2010 verspätet eingegangen sei. Die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien bei Geltendmachung entsprechender Gründe zu prüfen und ggf. zu gewähren.
Mit Schreiben vom 8. September 2010 (Eingangsstempel vom 9. September 2010) beantragte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und teilte dem Finanzamt mit, dass das Einspruchsschreiben vom 11. August 2010 fristgerecht erstellt worden sei, dass der Brief mit dem Einspruchsschreiben auf der Autofahrt ihrer seit Jahren zuverlässig arbeitenden Sekretärin S. vom Beifahrersitz nach rechts heruntergerutscht sei und somit nicht rechtzeitig am „12.08.2010” zur Post aufgegeben worden sei. Am nächsten Tag habe der Ehemann der Sekretärin den Brief auf der Beifahrerseite im Auto entdeckt und zur Post aufgegeben.
Am 30. September 2010 erwiderte das Finanzamt, dass am 12. August 2010 der letzte Tag der Frist gewesen sei und dass auch bei ordnungsgemäßer Aufgabe zur Post am 12. August 2010 kein fristgerechter Eingang beim Finanzamt möglich gewesen wäre. Zur Fristwahrung sei der Eingang beim Finanzamt ausschlaggebend, nicht der Tag des Poststempels. Zur weiteren Prüfung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sollten Kopien des Fristenbuches sowie des Postausgangsbuches vorgelegt werden. An die Beantwortung dieses Schreibens erinnerte das Finanzamt am 15. Juni 2011.
Am 1. August 2011 teilte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Finanzamt telefonisch mit, dass sich die Klägerin seit Mitte 2009 in den USA aufhalte und die Klägerin seither bei ihr nichts mehr bezahlt habe. Bis Mitte August 2011 sei die Klägerin in Deutschland und habe versprochen, die ausstehenden Beträge zu zahlen und die fehlenden Belege zu bringen. Die Prozessbevollmächtigte bat um Fristverlängerung bis 30. August 2011.
Mit Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 wies das Finanzamt den Einspruch als unzulässig zurück. Die vorgetragenen Wiedereinsetzungsgründe seien nicht stichhaltig. Das Fristenbuch und das Postausgangsbuch seien nicht vorgelegt worden.
In der Einkommensteuererklärung für 2007 vom 6. Oktober 2011 erklärte die Klägerin Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 35.265 EUR, dass ihre gesamten Einnahmen aus Kapitalvermögen nicht mehr als 801 EUR betragen hätten und machte wegen der willkürlich vorgenommenen Schätzung der von ihr -auch in den Vorjahren- nicht erzielten Einkünfte aus Kapitalvermögen und nichtselbständiger Arbeit die Nichtigkeit der bisherigen Einkommensteuerbescheide für 2007 geltend.
Mit Ihrer Klage vom 7. Oktober 2011 begehrt die Klägerin unter Vorlage von Auszügen aus dem Fristenbuch und Postausgangsbuch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hilfsweise die Feststellung der Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 2007. Sie bezieht sich auf ihren Vortrag im Einspruchsverfahren, stellt allerdings klar, dass es sich bei dem genannten Datum der Postaufgabe „12.08.2010” im Schreiben vom 8. September 2010 (statt 11. August 2010) unter Bezugnahme auf das Fristenbuch und das Postausgangsbuch um einen Schreibfehler gehandelt habe. Zudem habe das Finanzamt im Bescheid vom 4. August 2009 Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus nichtselbständiger Arbeit willkürlich geschätzt. In den Jahren 2004 bis 2008 habe sie nur Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt. Diese seien auch für das Streitjahr aufgrund der Mitteilung des Lagefinanzamtes in Höhe von 35.265 EUR dem beklagten Finanzamt bekannt gewesen. Die Höhe dieser Einkünfte seien zur Bestreitung des Lebensunterhalts vollkommen ausreichend gewesen, weshalb von einer unzulässigen Strafschätzung auszugehen sei. Sie beziehe sich auf das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25. April 2006 (11 K 1172/05, EFG 2006, 1130), das genau dem Streitfall entspräche, da im Fall des Finanzgerichts Münster Einkunftsarten hinzugeschätzt worden seien, für die es keinerlei Hinweise gegeben habe. In ihrem Fall führten gerade die fehlenden Tatsachenfeststellungen zu einer objektiv willkürlichen Schätzung. Der Nachzahlungsbetrag von 324 EUR belege zudem, dass so geschätzt worden sei, dass die Schätzung in etwa den Einkommensteuervorauszahlungen (vgl. Einkommensteuerbescheid 2006 vom 19. Juni 2008) entsprochen habe, die sich aus dem Bescheid für 2006 unter Berücksichtigung weit höherer Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, als der tatsächlich erzielten, ergeben hätten. Für die weiteren zwei Einkunftsarten hätten dem Finanzamt dem Grunde und der Höhe nach keine Anhaltspunkte vorgelegen. Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen seien von der Prozessbevollmächtigten bis 25. Januar 2011 per Email in die USA weitergeleitet worden. Zahlungen seien daraufhin weder veranlasst worden, noch sei eine Kontaktaufnahme mit der Prozessbevollmächtigten erfolgt. Das Finanzamt habe sämtliche Steuerverbindlichkeiten durch Pfändung ihrer Konten ausgeglichen. Die Behauptung des Finanzamts, dass unwidersprochen Einkommensteuervorauszahlungen bezahlt worden seien, sei somit nicht korrekt. Der Verkaufserlös für die Erbteilsübertragungen sei tatsächlich erst 2009 geflossen. Das Finanzamt habe nur eine von drei Veräußerungsmitteilungen dem Gericht vorgelegt. Der Datenabruf zur Beschaffung von Informationen über Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit sei nach Auskunft anderer Finanzämter auch ohne eTin-Nummer möglich.
Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trägt die Klägerin vor, dass das Finanzamt bei der Klageerwiderung weder auf den konkret vorgetragenen Sachverhalt mit dem Schreibfehler in der Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch auf die vorgelegten Kopien des Fristenbuches und Postausgangsbuches eingegangen sei. Das Finanzamt sei im Juli 2011 mit einem Mitarbeiter ihrer Prozessbevollmächtigten in Kontakt gestanden und habe gewusst, dass die Prozessbevollmächtigte wegen ausstehender Honorarforderungen für sie -die Klägerin- nicht weiter habe tätig werden wollen. Sie sei im August 2011 verspätet aus den USA gekommen, so dass bei der Prozessbevollmächtigten die Zusendung der Unterlagen (Fristenbuch und Postausgangsbuch) in Vergessenheit geraten sei. Aufgrund des häufigen Kontakts zwischen der Prozessbevollmächtigten mit der Veranlagungs- und der Rechtsbehelfsstelle und der Tatsache, dass dem Finanzamt bekannt gewesen sei, dass an ihrem Mandat gearbeitet werde, sei mit der Einspruchsentscheidung nicht gerechnet worden.
Die Klägerin führt ferner aus, dass das Einspruchsschreiben tatsächlich das Datum vom 11. August 2010 trage (und nicht wie vom Finanzamt im Klageverfahren behauptet vom 11. August 2011). Die Rechtbehelfsfrist habe am 12. August 2010 geendet. Die gesamte Ausgangspost sei am Nachmittag des 11. August 2010 kurz vor 17.45 Uhr zum Briefkasten … gebracht worden, da dort um 17.45 Uhr der Briefkasten geleert werde und durch 10-jährige Erfahrung gesichert sei, dass die Post für die 6,1 km entfernte …-straße am nächsten Tag beim Empfänger sei. Nach dem Auffinden des Briefes durch den Ehemann der Sekretärin am Abend des 12. August 2010, habe der Ehemann den Brief auch erst am Abend -möglicherweise nach der Spätleerung- in den nächsten Briefkasten eingeworfen. Der Ehemann der Sekretärin habe seiner Frau zwar berichtet, dass er einen Brief im Auto gefunden und diesen in den Briefkasten eingeworfen habe, jedoch habe er ihr nicht sagen können, um welchen Brief es sich dabei gehandelt habe. Die Sekretärin habe erst am 1. September 2010 durch den Brief des Finanzamts erfahren, dass es sich bei dem von ihrem Ehemann eingeworfenen Brief um das Einspruchsschreiben vom 11. August 2010 gehandelt habe. Die Sekretärin müsse einräumen, dass sie die Briefe vor dem Einwurf in den Briefkasten nicht mehr durchgezählt habe, sondern beim Einwurf ausschließlich auf die Postleitzahl und die dazugehörigen Einwurfschlitze geachtet habe. Der Postausgang der Prozessbevollmächtigten werde tagsüber an zentraler Stelle für drei Kanzleien gesammelt. Der Postausgangskorb, in dem sich täglich zwischen 10 bis 50 Briefe befänden, werde getrennt nach Postleitzahlen (M. und andere) am Briefkasten am Willibaldplatz ausgeleert. Ein zusätzliches Kontrollsystem -wie viele Briefe in welchen Briefkasten eingeworfen würden- sei nicht zumutbar.
Die Klägerin beantragt,
die Bescheide über die Einkommensteuer für das Jahr 2007 vom 4. August 2009 und vom 7. Juli 2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 aufzuheben.
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es nimmt Bezug auf die Einspruchsentscheidung. Laut Fristenbuch der Prozessbevollmächtigten hätten sich am 11. August 2010 sechs Briefe im Postausgang befunden. Ein Kontrollsystem der Prozessbevollmächtigten über die vollständige Aufgabe der gesamten Ausgangspost am Briefkasten habe gefehlt. Selbst wenn der Brief am Spätnachmittag oder Abend bei der Post abgegeben worden sei, sei das Eintreffen beim Empfänger am nächsten Tag nicht gewährleistet gewesen.
Im Hinblick auf die Nichtigkeit der Einkommensteuerbescheide 2007 weist es darauf hin, dass keine groben Schätzungsfehler enthalten seien. Es halte den Schätzungsbescheid für wirksam. Da anfechtbar nur die festgesetzte Steuer sei, die auf unselbständigen Besteuerungsgrundlagen basierten, seien die gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO) zu schätzenden Besteuerungsgrundlagen austauschbar. Die Fehlerhaftigkeit einer Schätzung führe nicht zur Nichtigkeit eines Schätzungsbescheides. Die Schätzung sei erforderlich gewesen, weil die Klägerin trotz mehrfacher Aufforderungen ihrer Erklärungspflicht nicht nachgekommen sei (Urteil des Finanzgerichts M. vom 9. Dezember 2010 2 K 169/07unter diesem Az. hat der 2. Senat des FG M. kein Urteil gefällt; gemeint ist evtl. das Urteil vom 9. Dezember 2010 mit dem Az.: 14 K 2836/09, das das Urteil des FG Nürnberg Az. 2 K 1697/2007 zitiert.. Die Klägerin sei zutreffend im Arbeitnehmerbereich geführt worden. Daher gebe es keine Einkommensteuerakte. Anlässlich einer Kontrollmitteilung der Polizei wegen unerlaubten Betreibens einer Gaststätte sei der Steuerfall im Jahr 2008 an die allgemeine Veranlagungsstelle überwiesen worden. Die Klägerin habe im Vorjahr Einkünfte von ca. 72.000 EUR erzielt. Da die Beteiligungseinkünfte erheblich gegenüber dem Vorjahr gesunken seien, sei im Rahmen der Schätzung davon ausgegangen worden, dass die Klägerin zur Bestreitung ihrer Lebenshaltungskosten zusätzlich weitere Einkünfte habe erzielen müssen. Zudem habe die Klägerin während des Jahres 2007 gewusst, dass die Beteiligungseinkünfte aufgrund der umfassenden Renovierungsmaßnahmen deutlich geringer ausfallen würden. Es sei daher die Annahme naheliegend, dass die Klägerin wie im Jahr 2003 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt habe. Da zum Zeitpunkt der Schätzung die beigefügte Veräußerungsanzeige zum Erwerb des Erbanteils durch die Klägerin bereits vorgelegen habe und im Feststellungsbescheid Einkünfte aus Kapitalvermögen enthalten gewesen seien, sei die Schätzung von Einkünften aus Kapitalvermögen ebenso naheliegend. Weitere Ermittlungen, z.B. Kontenabruf oder die Überprüfung von Freistellungsaufträgen, seien wegen des Massenverfahrens nicht Erfolgs versprechend. Das Finanzamt vertritt die Auffassung, dass es sich an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert habe und nicht bewusst zum Nachteil der Steuerpflichtigen geschätzt habe. Dafür spreche auch der sich ergebende geringe Nachzahlungsbetrag von 324 EUR.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten, die Aufklärungsanordnung vom 3. Juli 2012, die gerichtlichen Schreiben vom 18. Juli 2012, die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen, insbesondere die von Rechtsanwältin … mit Telefax vom 20. Juli 2012 übersandten Unterlagen, und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 26. Juli 2012, Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, dass die konsentierte Einzelrichterin entscheidet.
II.
Die zulässige Klage ist begründet. Das Finanzamt ist zu Unrecht der Durchführung einer Änderungsveranlagung unter Berücksichtigung der Einkommensteuererklärung der Klägerin für 2007 nicht nachgekommen. Die bisherigen Einkommensteuerbescheide für 2007 stehen der Veranlagung nicht entgegen, da sich diese auf eine willkürliche Schätzung von Kapitaleinkünften und Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit stützen und nichtig sind.
1. Auch der nichtige Bescheid kann mit der Anfechtungsklage angefochten werden (BFH-Urteile vom 7. August 1985 I R 309/82, BFHE 145, 7, BStBl II 1986, 42; und vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, BFHE 228, 111, BStBl II 2010, 732). Denn er erweckt den Schein der Rechtswirksamkeit. Die Aufhebung des nichtigen Steuerbescheides beruht auf § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Dem steht auch nicht entgegen, dass die Anfechtung des nichtigen Bescheides mit dem Einspruch nach Ablauf der Einspruchsfrist nach dem Ablauf der Einspruchsfrist erfolgt. Der als nichtig aufzuhebende Bescheid kann keine Rechtswirkungen nach §§ 355, 358 AO haben. Die Rechtsbehelfsfrist braucht dafür nicht gewahrt zu werden (BFH-Urteil vom 17. Juli 1986 V R 96/85, BFHE 147, 211, BStBl II 1986, 834).
2. Die Bescheide vom 4. August 2009 sowie vom 7. Juli 2010 über die Einkommensteuer für das Jahr 2007 sind nichtig und werden aufgrund ihres Rechtsscheins aufgehoben, ebenso wird die Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 aufgehoben.
a) Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Selbst grobe Schätzungsfehler bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen führen regelmäßig nur zur Rechtswidrigkeit und nicht zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheides, und zwar selbst dann nicht, wenn sie auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen.
Ein schwerwiegender Fehler liegt vor, wenn die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt wurden, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen setzt nach § 162 AO voraus, dass die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Dies ist unter anderem der Fall, wenn Mitwirkungspflichten nicht erfüllt werden. Der BFH hat grundsätzlich festgestellt, dass eine Schätzung erst dann in Betracht kommt, wenn alle anderen Möglichkeiten, die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, für das Finanzamt ausgeschöpft sind. Die Erzwingung der Abgabe der Steuererklärungen hat für das Finanzamt Vorrang gegenüber einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (BFH Urteil vom 23. August 1994 – VII R 143/92, BStBl II 1995, 194 unter 2 b dd der Entscheidungsgründe, m.w.N.). Gleichwohl toleriert die Rechtsprechung die Vorgehensweise der Verwaltung, auf Zwangsmittel zu verzichten und die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Dabei räumt sie der Verwaltung einen weiten Schätzungsrahmen ein und legt die Vorschriften über die Schätzung dahin gehend aus, dass Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung getroffen werden, als dies in der Regel nach § 88 AO geboten ist. Der Grad der noch erforderlichen Gewissheit wird in der Weise reduziert, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf und Behörde und Gericht sich hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen können. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss nur schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein und feststehende Tatsachen berücksichtigen (vgl. BFH-Beschluss vom 28. März 2001 VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, m.w.N.). Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, wird eine Schätzung, die den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt, grundsätzlich nur als rechtswidrig angesehen und muss angefochten werden, wenn sie nicht in Bestandskraft erwachsen soll (BFH-Urteil vom 15. Mai 2002, X R 34/99, juris). Gerechtfertigt wird dies auch damit, dass ein Akt der staatlichen Gewalt die Vermutung seiner Gültigkeit in sich trage (BFH-Beschluss vom 1. Oktober 1981 – IV B 13/81, BStBl II 1982, 133 unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Februar 1966 VII CB 149.64, BVerwGE 23, 237, 238; Urteil des Finanzgerichts M. vom 4. September 2008 2 K 1865/08, EFG 2009, 2).
Anders verhält es sich nur, wenn das Finanzamt willkürlich zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt (ständige Rechtsprechung des BFH, z.B. Beschlüsse vom 16. Mai 2003 II B 50/02, BFH/NV 2003, 1150; vom 20. Oktober 2005 IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240). Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein „objektiv willkürlicher” Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das Finanzamt grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen. Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten. Strafschätzungen gilt es zu vermeiden (BFH-Urteile vom 1. Oktober 1992 IV R 34/90, BStBl II 1993, 259; vom 20. Dezember 2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381; vom 15. Mai 2002 X R 34/99, juris; vom 17. Juni 2004 IV R 45/03, BFH/NV 2004, 1618, und BFH-Beschluss vom 20. Oktober 2005 – IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240; Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25. Februar 2006 11 K 1172/05, EFG 2006, 1130; Urteile des Finanzgerichts M. vom 4. September 2008 2 K 1865/08, EFG 2009, 2, und vom 23. Februar 2010 13 K 3668/08, juris).
Dementsprechend hat das Bayerische Landesamt für Steuern mit Schreiben vom 26. Mai 2006, S 0335 – 3 St 41 M, Karte 1 zu § 162 AO (im Wesentlichen inhaltsgleich mit Schreiben vom 10. September 2007, S 0335 – 3 St 41 M) alle bayerischen Finanzämter angewiesen, wie bei Nichtabgabe von Steuererklärungen vorzugehen ist. Danach sind bereits bekannte Sachverhalte im Rahmen der Sch ätzung zu berücksichtigen. Strafschätzungen sind nicht zulässig und stellen auch kein Druckmittel dar, um den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Steuererklärung zu veranlassen. Hierfür sind nach der AO die Festsetzung von Verspätungszuschlägen und das Zwangsmittelverfahren vorgesehen. Insbesondere von der Möglichkeit der Zwangsgeldandrohung und -festsetzung ist in geeigneten Fällen verstärkt Gebrauch zu machen. Vor der Durchführung der Schätzung ist in jedem Fall eine Abfrage im Erhebungsspeicher durchzuführen (O-Abfrage). In Fällen, in denen der Steuerpflichtige bereits erhebliche Steuerrückstände hat, ist zur Vermeidung des Entstehens weiterer, nicht beitreibbarer Steuerrückstände vor Erlass des Steuerbescheides Kontakt mit der Vollstreckungsstelle aufzunehmen. Veranlagungen, bei denen die Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe von Steuererklärungen geschätzt werden müssen, sind grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) durchzuführen. Nur so kann regelmäßig sichergestellt werden, dass spätere Erkenntnisse aus dem Vollstreckungsverfahren bei der Steuerfestsetzung noch Berücksichtigung finden können. Eine etwa notwendige Vollstreckung ist in diesen Fällen unverzüglich einzuleiten. Endgültige Sch ätzungsveranlagungen kommen nur ausnahmsweise dann noch in Betracht, wenn ganz gesicherte Schätzungsgrundlagen vorliegen sollten. Der Vorbehalt der Nachprüfung ist grundsätzlich erst dann aufzuheben, wenn die Steuerfestsetzung/Feststellung für den folgenden Veranlagungszeitraum durchgeführt wird. Dabei soll die Vorbehaltsveranlagung nochmals nach Aktenlage auf evtl. Fehler hin überprüft werden. Ebenso sind die in einem eventuellen Vollstreckungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse zu berücksichtigen (vgl. AEAO zu § 162, Nr. 4). Die Schätzung ist stets in der Akte zu dokumentieren. Dabei soll die Vorlage „AV Schätzung 162 AO Druck” (Veranlagung/Anforderung Steuererklärung) verwendet werden. Bei der Schätzung von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit sind im bundesweiten „Lohndatenspeicher” abgelegte elektronische Lohndaten zwingend heranzuziehen. Sind keine elektronischen Lohndaten im „Lohnspeicher” abgelegt, geht das Finanzamt aber von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit aus, sind bei der Schätzung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, bei denen ein Lohnsteuerabzug vorzunehmen war, auch einbehaltene Lohnsteuerabzugsbeträge in geschätzter Höhe auf die festgesetzte Einkommensteuer anzurechnen. Bei diesen Anrechnungsbeträgen handelt es sich zwar nicht um Besteuerungsgrundlagen im Sinne des § 162 AO, weil sie den Abrechnungsteil des Bescheides betreffen. Die grundsätzliche Verpflichtung zur Anrechnung ergibt sich jedoch in verfassungskonformer Auslegung aus § 88 AO (Willkür- und Übermaßverbot).
b) Nach den o.g. Rechtsgrundsätzen und Verwaltungsanweisungen leiden die streitigen Einkommensteuerbescheide 2007 an einem besonders schwerwiegenden Fehler, der bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.
Die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen wurden im Streitfall in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, die ergangenen Einkommensteuerbescheide 2007 als verbindlich anzuerkennen.
aa) Das Finanzamt hat geschätzt, obwohl noch nicht feststand, ob es die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln kann. Aus den vom Finanzamt spärlich vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Rechtbehelfsakte, ist nicht ersichtlich, ob überhaupt und in welcher Form die Klägerin zur Abgabe der Einkommensteuererklärung angehalten worden ist. Dem Gericht liegen weder Abdrucke der entsprechenden Schreiben noch eine Übersicht über maschinell erzeugte Mahnungen vor. Trotz Aufforderung des Gerichts hat das Finanzamt keine weiteren Unterlagen zur Einkommensteuer 2007 vorgelegt. Zwar hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Sachvortrag des Finanzamt zur mehrfachen Aufforderung, die Einkommen-steuererklärung für 2007 abzugeben, nicht bestritten, jedoch kann sich das Gericht kein Bild davon machen, ob der Klägerin ihre Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärung vom Finanzamt ausreichend verdeutlicht worden ist. Hinzu kommt, dass sich die Klägerin seit Mitte 2009 lange Zeit in den USA aufgehalten hat, sie in dieser Zeit in keinen Kontakt mit der Prozessbevollmächtigten gestanden hat und folglich zweifelhaft ist, ob sie die per Email von der Prozessbevollmächtigten bis Januar 2011 übersandten Mahnungen überhaupt in den USA erreicht haben. Zwangsmittel hat das Finanzamt zur Abgabe der Steuererklärung nicht angedroht und angeordnet.
bb) Die Schätzung weicht in krassem Umfang von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und verlässt den zulässigen Schätzungsrahmen in einem dermaßen eklatanten Umfang, dass sich schon aus diesem Grund der Verdacht einer unzulässigen Strafschätzung aufdrängt.
Die Klägerin hat im Streitjahr neben den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung tatsächlich keine Einkünfte zweier weiterer Einkunftsarten erzielt, geschweige denn derart hohe Einkünfte aus Kapitalvermögen (19.204 EUR) und aus nichtselbständiger Arbeit (20.080 EUR), vgl. die Angaben in der Steuererklärung der Klägerin, die das Finanzamt nicht angezweifelt hat.
cc) Die Schätzung von Kapitaleinkünften sowie Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit ist zumindest objektiv willkürlich und ist nicht nachvollziehbar.
Für das Gericht ist in keiner Weise erkennbar, dass im Zeitpunkt der Schätzung überhaupt Erwägungen zu Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit und aus Kapitalvermögen angestellt worden sind. Entgegen der Weisung des Bayerischen Landesamts für Steuern ist die dem Bescheid vorausgegangene Schätzung nicht in den Akten dokumentiert. Ebenso wenig sind digitale Notizen über angestellte Überlegungen zu den Einkunftsarten und deren Höhe verfügbar. Auch die Einkommensteuerbescheide 2007 enthalten keine Erwägungen zur Schätzung.
Die Schätzung des Finanzamts erfolgte nicht mit dem Ziel den tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen mit ausreichender Wahrscheinlichkeit nahe zu kommen, sondern um über die Steuerbelastung Druck auf die Klägerin auszuüben.
Sofern man überhaupt für möglich hält, dass nicht nur Quantitäten, sondern auch Sachverhalte der Schätzung nach § 162 AO unterliegen, so kommt die Schätzung eines Sachverhalts zu Lasten des Steuerpflichtigen doch nur dann in Betracht, wenn das Aufklärungsdefizit in der Sphäre des Steuerpflichtigen liegt (BFH-Urteil vom 22. Juni 2006 IV R 56/04, BFHE 214, 226, BStBl II 2006, 838).
Zum Zeitpunkt der Schätzung blieben feststehende Tatsachen entgegen der gesetzlichen Regelung in § 162 Abs. 1 AO unberücksichtigt. Aus den Einkommensteuerbescheiden der Vorjahre 2003 bis 2006 ergibt sich, dass die Klägerin keine Einkünfte aus Kapitalvermögen und zuletzt im Jahr 2003 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 6.542 EUR erzielt hat. Bei dem Fall der Klägerin handelte es sich schon drei Jahre zuvor um keinen Arbeitnehmerfall mehr. Der Annahme von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit stand auch entgegen, dass dem Finanzamt (auch nach seinen Angaben im Klageverfahren) keine eTin-Nummer -eine von 2003 bis 31. Oktober 2010 verwendete lohnsteuerliche Identifikationsnummer jedes Arbeitnehmers in Deutschland- der Klägerin bekannt (gewesen) ist. Unwidersprochen hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin darauf hingewiesen, dass dem Finanzamt auch ohne Kenntnis der Nummer im Zuge des eTin-Verfahrens grundsätzlich Informationen für die Ermittlung von Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit zur Verfügung gestanden hätten. Entgegen der Weisungslage hat das Finanzamt beim Erlass des Einkommensteuerbescheides 2007 auch keine Lohnsteuerabzugsbeträge berücksichtigt.
Im Streitfall liegen keine geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung von Kapitaleinkünften und von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (in dermaßen eklatanter Höhe) vor (Urteil des Finanzgerichts Münster in EFG 2006, 1130) und sind auch vom Finanzamt nicht schlüssig dargelegt worden. Das Finanzamt konnte schon keine Angaben zum Beruf der Klägerin machen. Der Klägerin wurden im Rahmen des Feststellungsbescheides 2007 nur 5 EUR Einkünfte aus Kapitalvermögen zugerechnet, so dass deswegen die Schätzung von Einkünften aus Kapitalvermögen in Höhe von 19.204 EUR nicht naheliegend ist. Die Höhe der Vermietungs- und Verpachtungseinkünfte der Vorjahre (72.349 EUR, tatsächlich entnommen: ca. 49.000 EUR) und des Streitjahres (nur 35.265 EUR, tatsächlich entnommen: 14.500 EUR) lassen -mit der Begründung des Finanzamts zur Erhaltung des Lebensstandards- ohne weitere Ermittlungen nicht den zwingenden Schluss auf das Vorliegen weiterer Einkunftsarten weder dem Grunde noch der Höhe nach (ca. 40.000 EUR) zu. Die Klägerin wohnte in ihrer Immobilie und hatte zur Sicherung ihres sonstigen Lebensbedarfs auch 2007 ausreichend Geld zur Verfügung. Zum konkreten Lebensstandard der Klägerin im Streitjahr liegen -auch dem Finanzamt -keine Erkenntnisse vor. Die Veräußerungsanzeige mit dem Hinweis auf weitere Vereinbarungen lässt ebenfalls nicht den zwingenden Schluss zu, dass die Klägerin im Vorjahr, dem Streitjahr, über umfangreiches Kapitalvermögen verfügt haben musste, zumal die Recherche beim Lagefinanzamt vor Erlass des ersten Einkommensteuerbescheids 2007 am 4. August 2009 ergeben hätte, dass das durch die Erbteilsauseinandersetzung betroffene Grundstück am selben Tag des Jahres 2008 verkauft worden ist. Zutreffend hat die Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die Einkommensteuervorauszahlungen nur durch Pfändungen des Finanzamts ausgeglichen worden sind. Den Schätzungsrahmen für die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus Kapitalvermögen an der Höhe der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung des Vorjahres auszurichten, hält das Gericht für nicht plausibel.
Als einziger erkennbarer Gesichtspunkt für das Verhalten des Finanzamts zum Schätzungszeitpunkt bleibt, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und die Klägerin zur Abgabe der Steuererklärung anzuhalten.
c) Die Einspruchsentscheidung ist deshalb ebenfalls aufzuheben. Hinzu kommt, dass nach dem Inhalt des Telefonats zwischen der Bearbeiterin in der Rechtbehelfstelle und dem Mitarbeiter der Prozessbevollmächtigten am 1. August 2011 Anlass bestanden hätte, die Schätzung nochmals eingehend auf Nichtigkeit zu prüfen, da spätestens zu diesem Zeitpunkt dem Finanzamt bekannt wurde, dass sich die Klägerin seit Mitte 2009 für lange Zeit in den USA aufgehalten hat, ohne das Honorar der Prozessbevollmächtigten bezahlt zu haben und ohne mit der Prozessbevollmächtigten Kontakt gehabt zu haben.
3. Aufgrund der Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 2007 vom 7. Juli 2010 kann die Einhaltung der Rechtsbehelfsfrist nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO dahinstehen, ebenso, ob im Streitfall die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfüllt sind.
Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO ist für den Fall, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 110 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Antragsbegründung muss grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist von einem Monat nach § 110 Abs. 2 Satz 1 AO erfolgen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1. Juni 1992 V B 57/92, BFH/NV 1993, 249, vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137, und vom 3. Juli 2000 VI B 223/99, BFH/NV 2000, 1491, jeweils m.w.N.).
Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO spricht aber Folgendes: Der dem Wiedereinsetzungsantrag zugrunde liegende wesentliche Sachverhalt ist innerhalb der Antragsfrist vorgetragen worden und ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
Der Schreibfehler im Schreiben vom 8. September 2010 ist offensichtlich. Dies ergibt sich nach Abgleich mit dem Datum des Einspruchsschreibens -11. August 2010-, den Einträgen im Fristenbuch und im Postausgangsbuch.
Zwar hält es das Finanzamt für nicht möglich, dass innerhalb M. bei Briefaufgabe am 11. August 2010 um kurz vor 17.45 Uhr (kurz vor Entleerung des Briefkastens) der Brief beim Finanzamt rechtzeitig am 12. August 2010 zugegangen wäre. Jedoch spricht für den Vortrag der Klägerin, dass auch das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 8. September 2010 das Finanzamt am 9. September 2010 erreicht hat. Zudem kann der Steuerpflichtige, wenn keine Anhaltspunkte für mögliche Verzögerungen vorliegen, davon ausgehen, dass werktags im Bundesgebiet aufgegebene Sendungen am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden (Beschluss des BGH vom 21. Oktober 2010 IX ZB 73/10, juris, BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 2006 VII B 219/05, BFH/NV 2006, 1504; vom 4. September 2008 I R 41/08, BFH/NV 2008, 2042, Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 110 AO Tz. 57). Verzögerungen bei der Postauslieferung sind im Streitfall weder vom Finanzamt behauptet worden noch sind Verzögerungen ersichtlich.
Für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand spricht ferner, dass die Klägerin ohne Verschulden verhindert war, die Rechtsbehelfsfrist einzuhalten. Dass der Briefumschlag bei der Autofahrt vom Sitz zur Beifahrertür hin rutschen konnte, gehört zu den Umständen, die nie mit hundertprozentiger Sicherheit zu vermeiden sind. Schuldhaftes Verhalten der Prozessbevollmächtigten, insbesondere eine unzulängliche Büroorganisation, ist darin nicht zu erblicken. Unverschuldetes Büroversehen liegt vor, wenn die rechzeitig fertiggestellte Rechtsbehelfsschrift der Bürokraft zur Versendung übergeben worden ist und nicht rechtzeitig versandt worden ist, oder wenn die Sendung versehentlich im Pkw der Bürokraft liegen geblieben ist (vgl. Kucyzynski in Beermann/Gosch, AO und FGO, § 110 AO Rz. 29, mit Rechtsprechungsnachweisen, insbesondere BFH-Urteil vom 6. Juli 1989 IV R 112/87, BFH/NV 1990, 231, BFH-Beschluss vom 30. Januar 1990 VII B 165/89, BFH/NV 1990, 682 unter Bezugnahme auf das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 23. Februar 1978 III 293/77, EFG 1978, 308).
Nur eigenes Verschulden des Prozessbevollmächtigten, nicht aber Verschulden des ordnungsgemäß ausgewählten, instruierten und überwachten Büropersonals werden dem Verfahrensbeteiligten gemäß § 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) zugerechnet (BFH-Urteil vom 11. Januar 1983 VII R 92/80, BFHE 137, 399, BStBl II 1983, 334; BFH-Beschlüsse vom 18. Februar 2000 I B 136/99, BFH/NV 2000, 1108; vom 5. April 2005 I B 146/04, BFH/NV 2005, 1352). Ein solches Vertreterverschulden, namentlich eine Verletzung von Organisations-, Auswahl- und Überwachungspflichten, liegt nach den substantiierten und glaubhaft gemachten Darlegungen im Wiedereinsetzungsantrag jedoch nicht vor. Zudem gebietet die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen. Dies hat der Richter auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zu berücksichtigen. Deshalb dürfen die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835, m.w.N., zu § 110 AO). Das Verlangen des Finanzamts, die Briefe vor dem Einwurf in den Briefkasten jedes Mal abzuzählen, ist überzogen. Auch in der Steuerverwaltung existiert kein Kontrollsystem für die gesicherte vollständige Postaufgabe bei der Post oder beim Briefkasten.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung der Berichterstatterin als konsentierter Einzelrichterin auf § 79a Abs. 3 und 4 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 ZPO.