· Fachbeitrag · Bildung einer kriminellen Vereinigung
Das ist die aktuelle BGH-Rechtsprechung zur kriminellen Vereinigung 2.0
von RiAG a. D. Frank Buckow, Berlin
| § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) führte jahrelang eher ein Schattendasein. Der BGH hat nun dessen Anwendungsbereich insbesondere in der Wirtschaftskriminalität neu bewertet. Dazu im Einzelnen: |
1. Einordnung des § 129 StGB
In Bezug auf § 129 StGB wird diskutiert, ob eine unternehmerische Betätigung, Vorausplanung und Organisation kriminalisiert wird (Wimmer, wistra 23, 142; Venn, Anm. zu BGH 3 StR 61/21, ZWH 22, 18). 2004 hatte der BGH es noch abgelehnt, § 129 StGB im Bereich der USt-Hinterziehung anzuwenden (16.3.04, 5 StR 364/03, juris). Es sei nicht feststellbar, dass sich der Wille eines Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit unterordne. Es läge nur eine Bande vor. 2017 wurde § 129 StGB an das EU‒Recht angepasst, das auch die Wirtschaftskriminalität im Blick hat (Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates v. 24.10.08 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, ABl Nr. L 300/42 v. 11.11.08). Die kriminelle Vereinigung (KV) grenzt sich damit von der Bande und der schweren strukturellen Kriminalität ab, die in weiten Teilen auch der organisierten Kriminalität (Anlage E zur RiStBV) unterfallen können.
Schwere strukturelle Kriminalität liegt vor, wenn sich mindestens drei Personen zusammengeschlossen haben, um fortgesetzt Straftaten zu begehen, die einzeln oder insgesamt bedeutsam sind. Diese Strukturen weisen i. d. R. eine flache Hierarchie auf, bei der sich eine sich anlassbezogen ändernde Gruppenzusammensetzung um einen beständigen, dominierenden Kern bildet. Die Struktur ist häufig heterogen und basiert oft auf langjährigen persönlichen und kriminellen Beziehungsgeflechten. Die Tatbeteiligten finden sich, ausgerichtet an der jeweiligen Straftat, arbeitsteilig, nach Fähigkeit/Fertigkeit und auf Zeit mit dem Ziel zusammen, den Profit zu maximieren (iww.de/s10914, S. 58).
2. Elemente der KV
Die Definition der KV muss die EU-Vorgaben berücksichtigen, die sich vornehmlich daran orientieren, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Dabei ist abzugrenzen von der Teilnahme an den geplanten Straftaten und vom Bandenbegriff. Es muss ein organisierter Zusammenschluss vorliegen, d. h. eine Organisationsstruktur und eine gewisse instrumentelle Vorausplanung und Koordinierung von mehr als zwei Personen auf längere Dauer (BGH, a. a. O). Ferner ist ein übergeordnetes gemeinsames Interesse festzustellen, das über Einzelinteressen und beabsichtigte Straftaten hinausgeht. Auch im Bereich der Wirtschaftskriminalität muss eine Gesamtwürdigung erfolgen, die folgende Elemente umfasst: der Umfang und das Ausmaß genutzter ‒ ggf. auch grenzüberschreitender ‒ organisatorischer Strukturen sowie sachlicher Mittel, eine festgelegte einheitliche Willensbildung, ob intern Verstöße gegen gemeinschaftliche Regeln sanktioniert werden, die Anzahl der Mitglieder, ein von konkreten Personen losgelöster Bestand, eine etwaige Gemeinschaftskasse, ob quasistaatliche Autorität beansprucht und ob auf grundlegende gesellschaftliche oder hoheitliche Akteure Einfluss genommen wird.
Je ausgeprägter solche Kriterien vorliegen, desto eher lässt sich der Schluss ziehen, dass es den Einzelnen ‒ gerade bei allgemeiner, auf Gewinnerzielung ausgerichteter Kriminalität ‒ um weitergehende Ziele geht, z. B. dass die Organisation eigenständig fortbesteht um ihrer selbst willen oder ein spezifisches Machtstreben. Da eine Gesamtbetrachtung geboten ist, ist entscheidend, ob die Merkmale insgesamt den Schluss darauf zulassen, dass ein übergeordnetes gemeinsames Interesse verfolgt wird und auf die damit einhergehende vereinigungstypische Dynamik. Bedienen sich die Täter z. B. ausschließlich des eingerichteten Gewerbebetriebs eines (auch) legal am Markt operierenden Unternehmens, dessen Geschäftszweck nicht primär darin liegt, Straftaten zu begehen, lässt allein ein hoher betrieblicher Organisationsgrad keinen Rückschluss auf ein übergeordnetes Interesse zu (BGH 2.6.21, 3 StR 21/21, BGHSt 66, 137). Der Zweck der KV muss sein, gemeinschaftlich Straftaten zu begehen, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren belegt und im Hinblick auf das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gewichtig sind (BGH 25.1.24, StB 3/24, juris). Die bezweckten Straftaten dürfen nicht unbedeutend sein, d. h., sie müssen zumindest durch das strafrechtswidrige Verhalten das Erscheinungsbild der KV aus der Sicht informierter Dritter mitgeprägt haben (BGH 22.2.95, 3 StR 583/94, BGHSt 41, 47).
3. Neue Rechtsprechung des BGH zu § 129 StGB
Beim HAWALA-Banking werden Gelder passwortbasiert über Vertrauensleute weitergeleitet und ausgezahlt, ohne dass Daten und Aufzeichnungen erzeugt und ohne dass die Gelder für die Auszahlung tatsächlich bewegt werden. Es handelt sich um Finanztransfergeschäfte nach § 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 ZAG, die erlaubnispflichtig sind. Der BGH hat eine KV bejaht, da ein übergeordnetes gemeinsames Interesse darin besteht, ein Schattenfinanzwesen zu schaffen, dass die Zahlungen einer staatlichen Kontrolle entziehen will (BGH 2.6.21, 3 StR 61/21, juris; 1.6.23, 3 StR 414/22 und 28.6.23, 3 StR 108/23, PStR 23, 223 ff.).
Im Cyberbunkerverfahren hat der BGH das übergeordnete gemeinsame Ziel darin gesehen, dass ein sich der staatlichen Kontrolle entziehendes Rechenzentrum mit professionellen Organisationsstrukturen für überwiegend kriminelle Angebote bereitgestellt wurde (BGH 12.9.23, 3 StR 306/22).
In einem Verfahren wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, in dem falsche Polizeibeamte von u. a. älteren Mitbürgern verlangten, Vermögenswerte herauszugeben, hielt der BGH § 129 StGB für möglich, wenn neben einem hohen betrieblichen Organisationsgrad über weitere Indizien (Gemeinschaftskasse, Anzahl der Beteiligten, Vorgaben für eine einheitliche Willensbildung) ein übergeordnetes gemeinsames Interesse festgestellt werden kann (BGHSt 66, 137).
4. Europarechtliche Bezüge
In einem Verfahren zum betrügerischen Cybertrading mit internationaler Täterbeteiligung einer europaweit agierenden Tätergruppierung, die arbeitsteilig und mit hohem Organisationsgrad (Callcenter, Programmierer, Zahlungsdienstleister etc.) handelte, bejahte das OLG Bamberg dringenden Tatverdacht gem. § 129 StGB und legte das Verfahren dem EuGH vor, da der Beschuldigte wegen derselben Tat in Österreich verurteilt worden war (EuGH-Vorlage v. 4.6.21, 1 Ws 283/21 juris). Art. 55 SDÜ ermöglicht den EU‒Mitgliedern, Ausnahmen vom Strafklageverbrauch vorzusehen, sofern die öffentliche Ordnung des Mitgliedsstaats gefährdet ist. Deutschland hat davon im Hinblick auf die KV Gebrauch gemacht. Art. 55 SDÜ setzt über die Anzahl der Geschädigten hinaus voraus, dass Deutschland in seinen Sicherheitsinteressen gefährdet ist (EuGH 23.3.23, C-365/21, juris).
5. Folgen für die Ermittlungen und die Berater
§ 129 StGB gestattet heimliche Ermittlungsmöglichkeiten, z. B. §§ 100a ff., 110a ff., 95a, 443 StPO. Selbst wenn sich der Anfangsverdacht nicht bestätigt, bleiben die Ergebnisse verwertbar für Taten, die die KV begehen will, auch wenn es keine Katalogtaten sind (BGH NStZ 98, 426). Die KV könnte als „Türöffner“ in Verfahren der USt-Hinterziehung oder organisierter Steuerhinterziehung (z. B. CumEx) genutzt werden. Wird eine KV angenommen, führt dies im Haftrecht dazu, Verdunklungsgefahr anzunehmen, Beschränkungen im Vollzug anzuordnen und Entscheidungen gem. § 57 StGB zu erschweren. Zuständig ist in Wirtschaftssachen im Ermittlungsverfahren die Wirtschaftsstrafkammer (§ 74e GVG); Ausnahme: Anordnungen gem. §§ 100b und c StPO verbleiben bei der Staatsschutzkammer, § 74a Abs. 4 GVG. Ob eine Anklage auf § 129 StGB neben anderen Delikten gestützt wird, ist wegen der Nachweisprobleme fraglich.