· Fachbeitrag · Gebührenbemessung
Absage an interne Tabellen: Keine Typisierung bei der Bemessung der Rahmengebühren
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
(LSG Sachsen 22.4.13, 8 AS 527/12 B KO, Abruf-Nr. 131932) |
Sachverhalt
Der Antragsteller bezog Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Er hat vor dem SG mehrere Verfahren um die Höhe der ihm ab dem 1.7.06 zustehenden Leistungen geführt. Gestritten wird nun noch um die Kostenfestsetzung in einem Eilverfahren des Antragstellers um vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, nachdem der Grundsicherungsträger ihm Leistungen wegen fehlender Mitwirkung gemäß § 66 SGB Abs. 1 versagt hatte. Das SG hatte dem Eilantrag statt gegeben und den Antragsgegner zur Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers verpflichtet. Die den Antragsteller vertretende Rechtsanwältin beantragte die Kostenfestsetzung auf der Grundlage einer Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV RVG. Diese wurde vom Urkundsbeamten des SG in Höhe der Mittelgebühr von 250 EUR als angemessen festgesetzt. Die dagegen gerichtete Erinnerung hat das SG zurückgewiesen. Die Beschwerde der Rechtsanwältin zum LSG hatte keinen Erfolg.
Entscheidungsgründe
Das LSG hat die Beschwerde als zulässig angesehen. Es hält an der ständigen Rechtsprechung des bisher für Kostensachen zuständigen 6. Senats fest, wonach § 178 S. 1 SGG der Statthaftigkeit einer Beschwerde zum LSG nicht entgegensteht, soweit - wie hier - die Vergütungsfestsetzung des im Wege der PKH beigeordneten Rechtsanwalts betroffen ist. Zwar entscheidet nach § 178 S. 1 SGG das SG über Erinnerungen gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle endgültig. Diese Vorschrift wird jedoch von § 56 Abs. 2 S. 1 i.V. mit § 33 Abs. 3 S. 1 RVG als speziellerer Norm verdrängt.
Das LSG hat die Beschwerde jedoch als unbegründet angesehen. Bei der Bemessung der Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV RVG hat das LSG auf die Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG abgestellt und die vom SG festgesetzte Mittelgebühr als angemessen angesehen. Ausgangspunkt der Bestimmung der billigen Gebühr ist in jedem Fall die Mittelgebühr. Unter Beachtung der - nicht abschließenden - Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG sind danach alle konkreten Umstände des Einzelfalls wertend zu betrachten, um in einer Gesamtschau zu beurteilen, ob von der Mittelgebühr nach oben oder nach unten und gegebenenfalls in welchem Maß abzuweichen ist. Der Senat hält an der Rechtsprechung des bis 15.7.12 für das Kostenrecht zuständigen 6. Senats des LSG Sachsen zur „Chemnitzer Tabelle“ nicht fest. Zur Vereinheitlichung und zur Vorhersehbarkeit von PKH-Vergütungsfestsetzungen hatte der 6. Senat ein System zur vereinfachten Bestimmung der billigen Gebühr in sozialgerichtlichen Verfahren entwickelt. Die damit einhergehende weitreichende Typisierung hält der jetzt erkennende Senat jedoch nicht für vereinbar mit § 14 Abs. 1 RVG. Der zur Rechtfertigung eingeführte Rechtssicherheitsgedanke trägt die dem Tabellensystem immanente Pauschalierung nicht. Der Gedanke stößt dann an seine Grenzen, wenn er den vom Parlamentsgesetzgeber vorgegebenen Rahmen des § 14 Abs. 1 RVG nicht beachtet. Diese Gefahr besteht, denn das Tabellensystem wird den Umständen des Einzelfalls nicht durchgehend und nicht hinreichend gerecht. Die Anwendung der „Chemnitzer Tabelle“ stößt bei der Überprüfung der anwaltlichen Ermessensentscheidung daher an tatsächliche und rechtliche Grenzen, die den Senat hindern, sie weiter anzuwenden. Maßgebend ist vielmehr eine Bewertung des jeweiligen Einzelfalls anhand der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG. Den konkreten Umständen des hier zu entscheidenden Falls trägt die Festsetzung der Verfahrensgebühr in Höhe der Mittelgebühr von 250 EUR ausreichend Rechnung.
Praxishinweis
Die Entscheidung ist in doppelter Hinsicht interessant:
- Das LSG ist der Zeit - ebenso wie die übrigen LSG (vgl. die Nachweise im Beschluss) - voraus, was die Zulässigkeit des Rechtsmittels angeht. Denn das 2. KostRMoG sieht in § 1 RVG einen neuen Absatz 3 vor, wonach im RVG ausdrücklich geregelt wird, dass die Vorschriften des RVG über Erinnerung und Beschwerde den Regelungen der für das zugrunde liegende Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften vorgehen. Damit erledigen sich in Zukunft die Fragen nach dem anwendbaren „Rechtsmittelrecht“. Es gelten im RVG immer die Regelungen der §§ 56, 33 RVG als „Spezialrecht“.
- Zuzustimmen ist dem LSG auch bei der Abkehr von der „Chemnitzer Tabelle“. Die alte Rechtsprechung des LSG Sachsen war mit § 14 Abs. 1 RVG und den dort enthaltenen und zur Gebührenbemessung im Einzelfall heran zu ziehenden Kriterien nicht zu vereinbaren. Das RVG sieht eine Einzelfallentscheidung auf der Grundlage der in § 14 Abs. 1 RVG normierten Entscheidungskriterien vor. Da haben Tabellen und statistische Überlegungen - wie sie früher das LSG angestellt hat - keinen Raum. Übersehen wird bei der Zugrundelegung von Tabellen zudem auch, dass qualitative Kriterien für die Gebührenbestimmung dann häufig außen vor bleiben. Gerade die bekommen aber bei der erforderlichen Einzelfallbetrachtung das ihnen vom Gesetzgeber in § 14 Abs. 1 S. 1 RVG zugewiesene Gewicht.
Wichtig | Diese Überlegungen gelten im Übrigen nicht nur für das Sozialrecht, sondern auch im Straf- und Bußgeldverfahren. Auch hier haben die Gerichte teilweise interne Tabellen und Richtlinien entwickelt, die jedoch nicht - zumindest nicht allein - Grundlage der Gebührenbemessung sein dürfen/können.