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  • 16.12.2011 · IWW-Abrufnummer 114087

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 27.09.2011 – 1 Ws 64/10

    Wird die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung nach § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG auf hinzuverbundene Verfahren abgelehnt, steht dem Pflichtverteidiger ein eigenes Beschwerderecht zu. Der Beschuldigte hat hingegen kein Beschwerderecht.



    Der Erstreckungsantrag kann auch noch nach rechtskräftigem Abschluss des Erkenntnisverfahrens gestellt werden.



    Die Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung setzt nicht voraus, dass der Verteidiger in dem hinzuverbundenen Verfahren zuvor einen Antrag nach § 141 StPO gestellt und das Wahlmandat (konkludent) niedergelegt hat.


    1 Ws 64/10

    In der Strafsache
    ...
    hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin
    am 27. September 2011
    beschlossen:

    Tenor:
    Auf die Beschwerde des Pflichtverteidigers, Rechtsanwalt S. wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 11. März 2010 aufgehoben.

    Die Wirkungen der Bestellung des Pflichtverteidigers werden auf das hinzuverbundene Verfahren (517) 61 Js 196/09 (6/09) erstreckt.

    Die Beschwerde des Verurteilten gegen den genannten Beschluss wird als unzulässig verworfen.

    Die Kosten der Beschwerde des Pflichtverteidigers und die ihm dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

    Der Verurteilte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

    Gründe
    Das Landgericht hat es mit Beschluss 11. März 2010 abgelehnt, die Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung nach § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG auf das hinzuverbundene Verfahren (517) 61 Js 196/09 (6/09) zu erstrecken, in dem Rechtsanwalt S. vor der Verbindung als Wahlverteidiger aufgetreten war. Dagegen hat er im eigenen und im Namen des Verurteilten Beschwerde eingelegt. Das Rechtsmittel des Verteidigers hat Erfolg. Die Beschwerde des Verurteilten ist unzulässig.

    Die Anfechtung ist nach § 304 Abs. 1 StPO statthaft. Es gelten die allgemeinen Regeln der StPO, da das RVG gegen Entscheidungen über Anträge nach § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG keinen besonderen Rechtsbehelf vorsieht (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 29. Januar 2008 - 4 Ws 9/08 - bei [...]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. April 2004 - 3 Ws 94/07 - bei [...]; Burhoff RVGreport 2004, 411).

    Der Pflichtverteidiger hat ein eigenes Beschwerderecht (vgl. OLGe Hamm und Düsseldorf a.a.O.), da die angefochtene Entscheidung seinen Gebührenanspruch betrifft. Der Fall ist vergleichbar mit einer Beschränkung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Vergütung eines ortsansässigen Rechtsanwalts, die der bestellte Verteidiger - anders als die Ablehnung seiner Bestellung - selbständig anfechten kann (vgl. OLG Düsseldorf VRS 116, 273). Der Beschwerdewert (§ 304 Abs. 3 StPO) ist für Rechtsanwalt S. ebenfalls erreicht, da schon die mit dem Kostenfestsetzungsantrag vom 4. Dezember 2009 für das hinzuverbundene Verfahren geltend gemachten Grund- und Vorverfahrensgebühren (Nrn 4101, 4105 VV RVG) 200 EUR übersteigen.

    Anders verhält es sich bei dem Verurteilten. Er ist durch die angefochtene Entscheidung nicht beschwert. Denn nur die unmittelbare Beeinträchtigung von Rechten oder schutzwürdigen Interessen begründet eine Beschwer (vgl. KK-Engelhardt, StPO 6. Aufl., Rdn. 30 zu § 304). Die Frage, ob der Verteidiger für das hinzuverbundene Verfahren eine Vergütung aus der Staatskasse verlangen kann, betrifft unmittelbar nur ihn. Auf die Rechtsstellung des Verurteilten hat das mittelbar nur insofern Einfluss, als der gegen ihn bis zur Verbindung entstandene Gebührenanspruch seines Rechtsanwalts bei einer Nichtanwendung des § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG in voller Höhe erhalten bleibt (§ 15 Abs. 4 RVG) und nicht den Begrenzungen des § 52 RVG unterworfen ist, der Verurteilte andererseits bei einer gebührenrechtlichen Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das hinzuverbundene Verfahren die dadurch bedingte (zusätzliche) Vergütung seines Verteidigers aus der Staatskasse nach Nr. 9007 KV GKG als Teil der ihm auferlegten Kosten des Verfahrens (§ 465 Abs. 1 StPO) zu tragen hat.

    Der Verteidiger war nicht gehindert, den Erstreckungsantrag noch nach rechtskräftigem Abschluss des Erkenntnisverfahrens zu stellen. Soweit sich die Gerichte bisher mit dieser Frage befasst haben, gehen sie übereinstimmend davon aus, daß die Antragstellung auch nachträglich möglich ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. April 2007 - 3 Ws 4/07 -; LG Dresden, Beschluss vom 25. Januar 2008 - 3 Qs 188/07 -; LG Freiburg, Beschluss 13. März 2006 - 2 Qs 3/06 - alle bei [...]). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an (noch offen gelassen in KG NStZ-RR 2009, 360 [KG Berlin 17.03.2009 - 1 Ws 369/08]). Die Vorschrift des § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG enthält nach ihrem Wortlaut und Zweck keine zeitliche Beschränkung. Im Gegensatz zur Pflichtverteidigerbestellung, die eine ordnungsgemäße Verteidigung gewährleisten soll und deshalb nach ganz herrschender Meinung rückwirkend nicht in Betracht kommt, ist die Erstreckungsentscheidung rein vergütungsrechtlicher Natur und für das Erkenntnisverfahren ohne Bedeutung.

    Der angefochtene Beschluss hat keinen Bestand. Der Senat trifft die gebotene Ermessensentscheidung selbst (§ 309 Abs. 2 StPO). Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG sind gegeben.

    Nach dieser Vorschrift kann das Gericht bei verbundenen Verfahren die Wirkung des § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen der Pflichtverteidiger vor der Verbindung als Wahlanwalt tätig war. Das betrifft nach einhelliger Ansicht die Fälle, in denen der Verteidiger - wie hier - in dem führenden Verfahren bereits vor der Verbindung bestellt, in dem hinzuverbundenen Verfahren hingegen ausschließlich als Wahlverteidiger tätig war (vgl. KG a.a.O.; Thür. OLG Rpfleger 2009, 171 [OLG Jena 12.06.2008 - 1 AR (S) 13/08]; OLG Hamm NStZ-RR 2005, 285; zuletzt LG Aurich StRR 2011, 244). Die Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, daß die gebührenrechtliche Rückwirkung des § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG, wonach der Pflichtverteidiger eine Vergütung auch für seine vor dem Zeitpunkt der Bestellung entfalteten Tätigkeiten erhält, für das hinzuverbundene Verfahren nicht automatisch eintritt. Mit § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG wird dem Gericht deshalb die Möglichkeit eröffnet, die Rückwirkung der Bestellung auf jenes Verfahren mit der Folge zu erstrecken, daß der Verteidiger auch für die darin erbrachten Leistungen aus der Staatskasse so zu bezahlen ist, als wäre er dort vor der Verbindung bestellt worden.

    Nach dem Willen des Gesetzgebers kommt die Erstreckung "insbesondere dann in Betracht, wenn in einem der verbundenen Verfahren eine Bestellung unmittelbar bevorgestanden hätte" (vgl. BT-Drucksache 15/1971 S. 201). Daraus hat das Landgericht geschlossen, daß eine gebührenrechtliche Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung nur dann möglich ist, wenn der Verteidiger in dem hinzuverbundenen Verfahren zuvor einen Antrag nach § 141 StPO gestellt und das Wahlmandat (konkludent) niedergelegt hatte (so auch LG Berlin JurBüro 2006, 29 [LG Berlin 28.09.2005 - 505 Qs 167/05]), was hier nicht geschehen war. Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Abgesehen davon, daß mit der Hervorhebung "insbesondere" in den Gesetzesmaterialien die dort beschriebene Fallkonstellation nur beispielhaft aufgeführt wird, lässt sich dem nicht entnehmen, daß der Gesetzgeber die Anwendung des § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG von einem Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung in dem hinzuverbundenen Verfahren abhängig machen wollte. Dafür gibt es auch keinen vernünftigen Grund. Vielmehr reicht es nach dem Zweck der Vorschrift aus, daß bei einem getrennten Fortgang des Verfahrens nach den Umständen des Einzelfalles die Bestellung zu erwarten gewesen wäre und sie lediglich durch die Verbindung der Sache zu einem anderen (führenden) Verfahren (§ 4 Abs. 1 StPO) prozessual entbehrlich geworden ist. So liegt es hier.

    Die Anklage in dem hinzuverbundenen Verfahren war am 16. Februar 2009 vor dem Landgericht erhoben worden, so daß bereits zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nach den §§ 140 Abs. 1 Nr. 1, 141 Abs. 1 StPO vorlagen. Dafür, daß der in dem hinzuverbundenen Verfahren seit dem 15. Januar 2009 mandatierte Beschwerdeführer dort weiterhin als Wahlverteidiger auftreten wollte, während er zuvor in dem führenden Verfahren auf sein Betreiben schon kurz nach Erhebung der Anklage am 19. November 2008 zum Pflichtverteidiger bestellt worden war, gibt es keine Anhaltspunkte.

    Die Besonderheiten des Zeitablaufs lassen es hier auch geboten erscheinen, die gebührenrechtliche Erstreckung der Pflichtverteidigung auf die hinzuverbundene Sache auszusprechen. Denn der Beschwerdeführer hatte in der Sache 61 Js 196/09, obwohl sein Mandant in dem führenden Verfahren seit dem 8. Oktober 2008 inhaftiert war, vor Anklageerhebung keine berechtigten Aussichten auf eine Bestellung, da sie nach damaliger Rechtslage noch von einem - hier nicht - gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft abhing (§ 141 Abs. 3 StPO in der Fassung vom 7. April 1987) und in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO die jetzige Nr. 4 (Vollstreckung von Untersuchungshaft) mit der Verpflichtung zu einer unverzüglichen Verteidigerbestellung (§ 141 Abs. 3 Satz 4 StPO) noch nicht eingefügt war. Eine Möglichkeit zur - vom Landgericht geforderten - Anbringung eines Antrages auf Pflichtverteidigerbestellung bestand für den Beschwerdeführer auch nach Erhebung der Anklage nicht, da bereits vor deren Zustellung und ohne vorherige Anhörung des Angeschuldigten und seines Verteidigers am 18. Februar 2009 beide Strafsachen verbunden worden und damit auch gebührenrechtlich zu einer Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 1 RVG verschmolzen waren.

    Die Kosten- und Auslagenentscheidungen beruhen auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO und einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

    RechtsgebietRVG Vorschriften§ 48 Abs. 5 S. 3 RVG