25.04.2012 · IWW-Abrufnummer 121245
Oberlandesgericht München: Beschluss vom 07.03.2012 – 11 WF 360/12
Sind für Teile des Gegenstands verschiedene Gebührensätze anzuwenden und ist dabei auf eine der entstandenen Verfahrensgebühren gleichzeitig eine Geschäftsgebühr nach Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG anzurechnen, so ist zuerst die Anrechnung und dann die Prüfung der Kappungsgrenze des § 15 Abs. 3 RVG vorzunehmen (erst anrechnen, dann kürzen); dies gilt unabhängig davon, ob die vorgerichtliche Tätigkeit des Anwalts sämtliche oder nur einen Teil der später rechtshängig gewordenen Ansprüche umfasst (in Fortführung von OLG Stuttgart vom 9.1.2009 JurBüro 2009, 246 [OLG Stuttgart 09.01.2009 - 8 W 527/08] und OLG Karlsruhe vom 3.2.2011 FamRZ 2011, 1682).
11 WF 360/12
In der Familiensache
...
wegen Scheidung und Folgesachen
hier: Beschwerde der Rechtsanwältin Edle von Pollak gegen die festgesetzte Vergütung
ergeht durch das Oberlandesgericht München -11. Zivilsenat - zugleich Familiensenat -
durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richterin am Oberlandesgericht ...
auf die Beschwerde der Rechtsanwältin ... gegen den Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 03.02.2012 am 07.03.2012
folgender
Beschluss:
Tenor:
1.
Der Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 03.02.2012 wird aufgehoben.
2.
Der Festsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Passau vom 19.07.2011 wird in Ziffer 2. dahingehend abgeändert, dass die der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin nach § 50 RVG zustehende weitere Vergütung auf 3.114,11 € festgesetzt wird.
Gründe
I.
Rechtsanwältin ... vertrat die Antragstellerin in einem vor dem Amtsgericht Passau geführten Scheidungsverfahren - Verfahrenswert inclusive Versorgungsausgleich 39.030 €. Der Antragstellerin war Verfahrenskostenhilfe mit Zahlungspflicht bewilligt worden. Im Termin verglichen sich die Parteien hinsichtlich rechtshängiger Ansprüche in Höhe von 31.380 € und weiterer Ansprüche in Höhe von 28.620 €, wegen derer die Antragstellervertreterin auch bereits vorgerichtlich beauftragt und tätig war. Der Gegenstandswert für den Vergleich wurde auf 60.000 € festgesetzt.
Im Vergütungsfestsetzungsverfahren machte Rechtsanwältin ... Wahlanwaltsgebühren nach § 50 RVG in Höhe von 3.114,11 € geltend, dabei auch eine 1,3-Verfahrensgebühr nach §§ 13, 50, Nr. 3100 VV RVG in Höhe von 1.172,60 € aus dem Gegenstandswert 39.030 € der rechtshängig gewordenen Ansprüche und eine 0,8-Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3101 Nr. 2, 3100 VV RVG in Höhe von 606,40 € aus dem Gegenstandswert von 28.620 € der durch den Vergleich mit erledigten nicht rechtshängigen Forderungen. Auf die Verfahrensgebühr der rechtshängigen Ansprüche rechnete sie eine anteilige Geschäftsgebühr (1/2 von 0,65) gemäß VV Vorb. 3 Abs. 4 aus einem Gegenstandswert von 58.620 € in Höhe von 365 € an. Der sich danach ergebende Betrag von 1414 € (1.172,60 € - 365 € + 606,40 €) überschritt nicht die Kappungsgrenze nach § 15 Abs. 3 RVG.
Streitpunkt des Beschwerdeverfahrens ist, dass die Beschwerdeführerin zunächst die Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 auf die 1,3-Verfahrensgebühr aus Nr. 3100 vorgenommen hat und erst danach die gemäß § 15 Abs. 3 RVG gebotene Gegenüberstellung der einzelnen Verfahrensgebühren mit dem nach dem höchsten Gebührensatz berechneten Gesamtbetrag vornahm.
Die Urkundsbeamtin des Amtsgerichts Passau hat mit Beschluss vom 19.07.2011 die sich insoweit ergebende Wahlanwaltsvergütung lediglich in Höhe von 1.195 € zzgl. 19 % MWSt. festgesetzt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die von der Beschwerdeführerin vorgenommene Rechnungsweise würde den vorgerichtlich nicht tätig gewesenen Rechtsanwalt benachteiligen, da bei der erst nachträglich vorgenommenen Anrechnung die Einzelgebühren höher und die Kappungsgrenze eher erreicht würde. Die abweichende Auffassung des OLG Stuttgart (JurBüro 2009, 246 [OLG Stuttgart 09.01.2009 - 8 W 527/08]) sei auf den streitigen Fall nicht übertragbar, da hier die Beschwerdeführerin auch außergerichtlich mit den nicht rechtshängigen Ansprüchen befaßt gewesen sei. Die Gegenüberstellung gemäß § 15 Abs. 3 RVG habe deshalb vor der Anrechnung nach VV Vorb. 3 Abs. 4 zu erfolgen. Konkret führt dies zu einer im Vergleich zur Rechnung der Beschwerdeführerin um netto 219 € bzw. (einschl. 19 % MWSt.) 260,61 € niedrigeren Vergütung.
Hiergegen hat Rechtsanwältin v. Pollak Erinnerung eingelegt, der die Urkundsbeamtin nach Anhörung des Vertreters der Staatskasse nicht abgeholfen hat. Durch Beschluss vom 03.02.2012 hat das Amtsgericht Passau die Erinnerung zurückgewiesen, der dagegen eingelegten Beschwerde hat es nicht abgeholfen und die Sache gemäß Beschluss vom 21.02.2012 dem Senat zur Entscheidung zugeleitet.
II.
Die gemäß §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 - 8 RVG zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
1. Der Senat folgt der Auffassung, wonach bei Zusammentreffen einer gemäß VV Vorb. 3 Abs. 4 vorzunehmenden Anrechnung mit der nach § 15 Abs. 3 RVG gebotenen Abgleichung zunächst die Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr zu erfolgen hat und erst danach festzustellen ist, ob die Kappungsgrenze nach § 15 Abs. 3 RVG eingreift ("erst anrechnen, dann kürzen"):
a) Aufgrund der außergerichtlichen Mandatierung der Beschwerdeführerin hat eine Anrechnung der daraus nach VV Nr. 2300 entstandenen Geschäftsgebühr auf die gerichtliche Verfahrensgebühr der rechtshängig gemachten Ansprüche nach Nr. 3100 zu erfolgen, um die zweimalige Honorierung einer annähernd gleichen Tätigkeit zu verhindern bzw. dem infolge der Vorbefassung reduzierten Aufwand des Anwaltes Rechnung zu tragen. Die 1,3 Verfahrensgebühr hat die Beschwerdeführerin in nicht zu beanstandender Weise mit 1.172,60 € angesetzt. Zusätzlich entstand die reduzierte 0,8 Verfahrensgebühr gemäß VV Nr. 3101 Nr. 2 aus dem Wert der nicht rechtshängig gemachten, aber durch den Vergleich miterledigten Ansprüche, ebenfalls zutreffend in Höhe von 606,40 €. Die Obergrenze aus dem Gesamtbetrag der rechtshängigen und nichtrechtshängigen Gebühren nach dem höchsten Satz einer 1,3 Verfahrensgebühr aus 67.650 € gemäß § 15 Abs. 3 RVG war bei 1.560,00 €. Rechnet man zunächst die außergerichtliche Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr an, so vermindert sich diese auf (1.172,60 - 365 €) 807,60 €. Die Obergrenze von 1.560,00 € ist bei Zusammenrechnung beider Verfahrensgebühren nicht überschritten (807,60 + 606,40 = 1414 €). Stellt man dagegen zunächst die ungekürzten addierten Verfahrensgebühren dem Höchstwert des zusammengerechneten Streitwerts gegenüber (1.172,60 + 606,40 = 1779 €), so ergibt sich eine erste Kürzung aus der Überschreitung der Kappungsgrenze in Höhe von 94,50 €, und eine weitere Kürzung aus der Anrechnung der vorgerichtlichen Geschäftsgebühr in Höhe von 365,00 €, d.h. statt 1.414 € lediglich 1.195 €.
b) Die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur nimmt bei außergerichtlicher Vorbefassung des Rechtsanwalts zuerst die Anrechnung der Geschäftsgebühr vor und erst danach die Vergleichsrechnung im Sinne von § 15 Abs. 3 RVG (OLG Stuttgart, Beschl. v. 09.01.2009 - 8 VV 527/08, JurBüro 2009, 246 [OLG Stuttgart 09.01.2009 - 8 W 527/08]; dem folgend OLG Karlsruhe, Beschl. v. 03.02.2011 - 5 WF 220/10, FamRZ 2011, 1682; zustimmend Hansens, RVGreport 2009, 103; Enders, JurBüro 2009, 225 - ausführlich und aufgegliedert nach Umfang der außergerichtlichen Tätigkeit; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 19. Aufl., VV RVG Vorb. 3 Rn. 207 f.; Mayer/Kroiß/Winkler, RVG, 4. Aufl., § 15 Rn. 109; Schneider in: Anwaltskomm. RVG, 6. Aufl., § 15 Rn. 230 ff.).
Das OLG Stuttgart begründet dies damit, die im dortigen Falle nicht rechtshängig gemachten, aber mitverglichenen Ansprüche seien, anders als der rechtshängige Anspruch, nicht Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit der Anwälte gewesen; eine Anrechnung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 sei deshalb insoweit nicht gerechtfertigt (a.a.O. Tz. 9, 10). Zudem reduziere sich infolge der Anrechnung nach der Rechtsprechung des BGH nur die wegen desselben Gegenstandes später anfallende Verfahrensgebühr, weshalb diese nur in dem - durch Anrechnung - bereits geschmälerten Umfang der Vergleichsrechnung des § 15 Abs. 3 RVG unterfallen dürfe (a.a.O., Tz. 11). Schließlich sei die - um die anteilige Geschäftsgebühr geminderte - 1,3 Verfahrensgebühr nach VV Nr. 3100 aus dem Zahlungsanspruch zeitlich bereits früher angefallen als die reduzierte Verfahrensgebühr aus dem Mehrwert des Vergleiches.
Dem folgt das OLG Karlsruhe: Soweit der Anwalt wegen einzelner Streitgegenstände außergerichtlich nicht tätig gewesen sei, komme es gerade nicht zu einer - die Anrechnung gemäß Vorb. 3 Abs. 4 rechtfertigenden - Aufwandsreduzierung.
Auf diesen Gedanken stellt offensichtlich auch Müller-Rabe ab (a.a.O., VV Vorb. 3 , Rn. 208): Würde man zuerst gemä ß § 15 Abs. 3 RVG kürzen und danach erst anrechnen, würde die Anrechnung auch - wenngleich nur indirekt - eine Verfahrensgebühr erfassen, für die eine solche Kürzung mangels diesbezüglicher außergerichtlicher Tätigkeit nicht gerechtfertigt sei (so auch Enders, a.a.O., 227, re. Sp. oben).
Insbesondere das letztgenannte Argument überzeugt: Nimmt man zuerst die Kürzung bzw. Ermittlung der Kappungsgrenze im Sinne von § 15 Abs. 3 RVG vor, entsteht durch die nachfolgende Anrechnung eine (weitere) Benachteiligung für den Anwalt, weil die Anrechnung mittelbar auch einen Teil erfasst, bezüglich dessen ein reduzierter Arbeitsaufwand nicht feststellbar ist.
2. Nach Auffassung des Senats ist in dem Fall, dass der Anwalt -wie hier- au ßergerichtlich Prozeßauftrag bezüglich sämtlicher, auch der später zunächst nicht rechtshängig gewordenen Ansprüche hatte, keine andere Beurteilung gerechtfertigt. Auch dann ist die (um die anteilige Geschäftsgebühr zu mindernde) Verfahrensgebühr zeitlich früher entstanden, als die reduzierte Verfahrensgebühr wegen der später mitverglichenen Ansprüche, weshalb § 15 Abs. 3 RVG nur die bereits verminderte Verfahrensgebühr erfassen kann (OLG Stuttgart, a.a.O., Tz. 12; Enders, a.a.O., 227 li. Sp. unten; auch der BGH betont in diesem Zusammenhang die zeitliche Abfolge, vgl. etwa Beschluss vom 22.01.2008 - VIII ZB 57/07 Tz 8, 10, = NJW 2008, 1323). Der von Enders vorgeschlagene Weg ( a.a.O., 228, li. Sp. unten, unter 2.3, re. Sp., unter "Beispiel 7") wegen der unterschiedlichen Gebührensätze die Aufwandsreduzierung für den Anwalt dadurch zu berücksichtigen, dass man die wegen der außergerichtlichen Tätigkeit angefallene Geschäftsgebühr nach dem Wert der anhängig gewordenen und nach dem Wert der lediglich mitverglichenen Ansprüche aufspaltet und dann einzeln auf die jeweilige Verfahrensgebühr anrechnet, erscheint dem Senat in einem summarischen, auf knappe und bündige Erledigung angelegten Verfahren wie dem der Kostenfestsetzung, weder geboten noch angemessen.
Nicht zuletzt spricht hierfür auch der im angefochtenen Beschluss vom 19.07.2011 ebenfalls aufgegriffene Gedanke, wonach es nicht zu einer Benachteiligung des Anwaltes mit weitergehender außergerichtlicher Tätigkeit kommen dürfe (vgl. dazu Hansens, a.a.O., der überzeugend dargelegt hat, wie im Falle einer nur teilweisen vorgerichtlichen Tätigkeit der Anwalt bei Kürzung vor Anrechnung - weniger verdiene, als wenn er nur hinsichtlich der rechtshängigen Forderung tätig gewesen wäre a.a.O., 104, li. Sp. unter IV.). Auch deshalb ist für die Anwendung von § 15 Abs. 3 RVG vor der Anrechnung kein Raum.
Insgesamt errechnet sich der Gebührenanspruch bezüglich der streitigen Verfahrensgebühr damit wie folgt:
Verfahrensgebühr Nr. 3100 VVRVG aus Gegenstandswert 39.030 € 1,3 1.172,60
Anrechnung Vorb. 3 IV VVRVG aus 58.620 € 0,325 -365,00
Verfahrensgebühr Nr. 3101 Nr 2 VVRVG aus 28.620 € 0,8 606,40
Gesamt 1.414,00
Obergrenze § 15 Abs. 3 RVG aus 67.650 € 1,3 1.560,00
nicht überschritten.
3. Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet, § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.