21.02.2013 · IWW-Abrufnummer 130592
Oberlandesgericht Koblenz: Beschluss vom 30.05.2012 – 2 Ws 242/12
Den Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers für seine Tätigkeit in Verbundverfahren regelt § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG für alle hinzuverbundenen Verfahren, unabhängig davon, ob die Beiordnung vor oder nach der Verbindung erfolgt.
OLG Koblenz, 30.05.2012
2 Ws 242/12
Tenor:
Auf die weitere Beschwerde des Bezirksrevisors beim Landgericht Koblenz wird der Beschluss der 2. großen Staatskammer des Landgerichts Koblenz vom 19. Januar 2012 aufgehoben.
Die Rechtsanwältin A. aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung wird auf 854,66 € festgesetzt.
Gründe
Das Verfahren betrifft den Erstattungsanspruch der Pflichtverteidigerin gegen die Staatskasse im Falle der Verbindung von Strafverfahren.
I. 1. Mit dem Verfahren 2060 Js 55729/10 wurden dem Verurteilten durch Anklageschrift vom 10. März 2011 sieben Diebstähle im besonders schweren Fall, zwei Fälle der Tierquälerei durch unnötige Tötung eines Wirbeltiers und eine Sachbeschädigung zur Last gelegt. In diesem Verfahren zeigte Rechtsanwältin A. am 1. April 2011 die Vertretung des Verurteilten an. Die Anklage wurde durch Beschluss des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 1. Juni 2011 zugelassen und das Hauptverfahren vor diesem Gericht eröffnet. Mit Schriftsatz vom gleichen Tag beantragte Rechtsanwältin A., für dieses Verfahren als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden.
Darüber hinaus wurden dem Verurteilten im Verfahren 2060 Js 21485/11 mit Anklageschrift vom 13. Mai 2011 zwei weitere (einfache) Diebstähle zur Last gelegt; hier hatte Rechtsanwältin A. bereits am 15. März 2011 die Vertretung des Verurteilten angezeigt. Mit Eröffnungsbeschluss vom 6. Juni 2011 verband das Jugendschöffengericht dieses Verfahren mit dem führenden Verfahren 2060 Js 55729/10. Mit Beschluss vom gleichen Tag wurde Rechtsanwältin A. dem Verurteilten als Pflichtverteidigerin gemäß §§ 140 Abs. 2 StPO, 68 Nr. 1 JGG beigeordnet.
Der Verurteilte wurde durch Urteil des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Bad Neuenahr-Ahrweiler vom 20. Juni 2011, rechtskräftig seit dem 27. Februar 2012, wegen der ihm zur Last gelegten Taten zu einer Einheitsjugendstrafe von 8 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
2. Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2011 beantragte Rechtsanwältin A., ihr Gebühren aus der Staatskasse in Höhe von 1.325,90 € zu erstatten. Dabei machte sie Grund- und Verfahrensgebühren sowohl für das Hauptsacheverfahren 2060 Js 55729/10 als auch für das Verbundverfahren 2060 Js 21485/11 geltend.
Mit Beschluss vom 11. Juli 2011 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die aus der Staatskasse zu ersetzende Vergütung auf 854,66 € fest. Die Kosten des Verbundverfahrens 2060 Js 21485/11 seien nicht zu erstatten, da insoweit keine Erstreckung der Beiordnung erfolgt sei. Die hiergegen gerichtete Erinnerung der Verteidigerin wies das Jugendschöffengericht durch Beschluss vom 13. September 2011, zugestellt am 16. September 2011, zurück.
Auf die hiergegen am 16. September 2011 eingelegte Beschwerde hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Koblenz mit Beschluss vom 19. Januar 2011 die Entscheidung der Urkundsbeamtin aufgehoben und die zu erstattende Vergütung - antragsgemäß - auf 1.325,90 € festgesetzt. Die Strafkammer ist der Auffassung, Grund- und Verfahrensgebühren seien der Pflichtverteidigerin gemäß § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG auch für das Verbundverfahren zuzuerkennen; § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG sei nicht anzuwenden, da die Verfahrensverbindung bereits vor der Beiordnung erfolgt sei. Die Entscheidung, gegen die das Rechtsmittel der weiteren Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen worden ist, wurde dem Bezirksrevisor am 31. Januar 2012 zugestellt.
Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des Bezirksrevisors beim Landgericht Koblenz, der die Strafkammer durch Beschluss vom 27. Februar 2012 nicht abgeholfen hat. Die Verteidigerin beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II. 1. Die weitere Beschwerde ist gemäß § 56 Abs. 2 iVm § 33 Abs. 6 Satz 1 RVG zulässig, da das Landgericht als Beschwerdegericht entschieden und das Rechtsmittel wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zugelassen hat. Auch ist die Beschwerde innerhalb der gesetzlichen Frist von 2 Wochen eingelegt worden (§ 33 Abs. 6 Satz 4, Abs. 3 Satz 3 RVG).
Über das Rechtsmittel hat der Senat gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm § 33 Abs. 8 Satz 1 Halbs. 2 RVG als Kollegialgericht zu entscheiden, weil die Strafkammer die angefochtene Entscheidung in entsprechender Besetzung erlassen hat (vgl. OLG Koblenz 2 Ws 526/09 v. 16.11.2009, juris Rn. 4).
2. Das Rechtsmittel des Bezirksrevisors hat auch in der Sache Erfolg.
a) Zunächst ist der Beschluss vom 19. Januar 2012 formell nicht ordnungsgemäß ergangen, da nach § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG für die Entscheidung der Einzelrichter zuständig gewesen wäre; er hätte das Verfahren gem. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG wegen der grundsätzlichen Bedeutung auf die Kammer übertragen müssen. Dieser Verstoß gegen die funktionelle Zuständigkeit ist jedoch unschädlich; dies gilt umso mehr, als nach § 33 Abs. 8 Satz 4 RVG die erfolgte oder unterlassene Übertragung eines Verfahrens von dem Einzelrichter auf das Richterkollegium ausdrücklich von einer Anfechtung ausgenommen ist (OLG Koblenz aaO., Rn. 6 mwN).
b) Der Beschluss der Strafkammer beruht hingegen auf einer Verletzung des Gesetzes, denn sie hat § 48 Abs. 5 RVG nicht richtig angewendet (§ 33 Abs. 6 Satz 2 RVG iVm § 546 ZPO).
Entgegen der Rechtsauffassung der Strafkammer ist für den Erstattungsanspruch der Pflichtverteidigerin in Bezug auf das Verbundverfahren 2060 Js 21485/11 nicht § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG, sondern Satz 3 dieser Vorschrift maßgebend. § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG bestimmt, dass der im ersten Rechtszug beigeordnete Pflichtverteidiger die Vergütung auch für seine Tätigkeit (als Wahlverteidiger) vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung erhält. Diese Wirkung tritt für hinzuverbundene Verfahren gemäß § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG aber nur dann ein, wenn das Gericht sie ausdrücklich auf das Verbundverfahren erstreckt (OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 261 f. [OLG Oldenburg 27.12.2010 - 1 Ws 583/10]; OLG Celle 1 Ws 575/07 v. 2.1.2007, juris Rn. 22; Mathias, in: Bischof/Innigbauer/Bräuer/Curkovic/Mathias/Uher, RVG, 4. Aufl. 2011, § 48 Rn. 39; Schnapp, in: Schneider/Wolf, RVG, 3. Aufl. 2006, § 48 Rn. 65); dies ist vorliegend nicht erfolgt.
Der Senat folgt damit nicht der in Rechtsprechung (KG Berlin StRR 2012, 78 f.; NStZ-RR 2009, 360; OLG Jena RPfleger 2009, 171 f.; OLG Hamm NStZ-RR 2005, 285 f.; OLG Rostock StRR 2009, 279 f.; LG Bonn 2 Qs 22/06 v. 30.8.2006; LG Aurich StRR 2011, 244) und Literatur (Hartmann, Kostengesetze, 4. Aufl. 2012, § 48 Rn. 101; Hartung in: ders./Schons/Enders, RVG, 1. Aufl. 2011, § 48 Rn.70, 74; Burhoff, in: Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl. 2010, § 48 Rn. 149) vertretenen Auffassung, § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG gelte nur für diejenigen Fälle, in denen der Verteidiger in dem führenden Verfahren bereits vor der Verbindung bestellt, in dem hinzuverbundenen Verfahren hingegen ausschließlich als Wahlverteidiger tätig gewesen sei. Diese auch von der Strafkammer vertretene Auffassung findet im Gesetz keinen Anhalt.
Nach seinem Wortlaut gilt § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG für alle Fälle der Verfahrensverbindung, unabhängig davon, ob die Beiordnung als Pflichtverteidiger vor oder nach der Verbindung erfolgt. Hierfür spricht auch die Gesetzesbegründung, nach der durch Satz 3 klargestellt werden sollte, dass sich die Rückwirkung von § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG nicht automatisch auf verbundene Verfahren erstreckt, in denen bisher kein Pflichtverteidiger bestellt war (BT-Drucks. 15/1971, S. 201). Der Gesetzgeber ging hierbei ersichtlich davon aus, die Rückwirkung nur auf solche Verbundverfahren zu erstrecken, in denen auch bei isolierter Betrachtung eine Pflichtverteidigerbestellung hätte erfolgen müssen. Für Verbundverfahren, in denen dies - wie hier - nicht der Fall ist, gibt es keinen sachlichen Grund, den Gebührenanspruch des als Wahlverteidiger tätig gewordenen Rechtsanwalts gegen seinen Mandanten durch einen Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zu ersetzen (vgl. OLG Oldenburg aaO.).
Eine solche Klarstellung durch den Gesetzgeber war auch geboten, weil unter der Geltung von § 97 Abs. 3 BRAGO umstritten war, ob im Fall der Verbindung von Verfahren der als Pflichtverteidiger beigeordnete Rechtsanwalt die gesetzliche Vergütung auch für die hinzuverbundenen Verfahren erhalten sollte. Bereits für diese Rechtslage aber hat der Senat entschieden, dass bei Verbindung mehrerer Strafverfahren dem Pflichtverteidiger mehrere Vorverfahrensgebühren nach §§ 97 Abs. 3, 84 Abs. 1 BRAGO nur dann zustehen, wenn er in diesen Verfahren bereits vor deren Verbindung zum Pflichtverteidiger bestellt war (OLG Koblenz NStZ-RR 2001, 384 [OLG Koblenz 29.05.2001 - 2 Ws 369/01]).
c) Da es an einer Erstreckung der Wirkung von § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG auf das Verbundverfahren 2060 Js 21485/11 fehlt, kann die Pflichtverteidigerin die Verfahrens- und Grundgebühr für dieses Verfahren nicht aus der Staatskasse ersetzt verlangen; insoweit verbleibt ihr der Gebührenanspruch gegen den Verurteilten selbst.
Die ihr aus der Staatskasse zu ersetzende Vergütung für die 1. Instanz berechnet sich daher wie folgt:
Grundgebühr 2060 Js 55729/10 Nr. 4100 VV RVG
132,00 €
Verfahrensgebühr 2060 Js 55729/10 Nr. 4106 VV RVG
112,00 €
Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG
184,00 €
Zusatzgebühr Nr. 4110 VV RVG
92,00 €
Reisekosten Nr. 7003 VV RVG
19,20 €
Tage- und Abwesenheitsgeld Nr. 7005 Nr. 2 VV RVG
35,00 €
Pauschale Nr. 7002 VV RVG
20,00 €
Dokumentenpauschale (710 Seiten) Nr. 7000 Nr. 1a VV RVG
124,00 €
Zwischensumme
718,20 €
zzgl. 19 % Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG
136,46 €
Erstattungsanspruch
854,66 €
Der Erstattungsanspruch wurde somit durch die Urkundsbeamtin beim Amtsgericht Bad Neuenahr-Ahrweiler zutreffend festgesetzt.
III. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG).