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  • 21.09.2017 · IWW-Abrufnummer 196615

    Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 16.05.2017 – 1 Ws 95/17

    Der Senat schließt sich der in der Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Auffassung an, wonach § 48 Abs. 6 S. 1 RVG unmittelbar Anwendung findet, wenn Verfahren zunächst verbunden werden und danach die Bestellung als Pflichtverteidiger in dem (verbundenen) Gesamtverfahren erfolgt. Voraussetzung dafür, dass der Anwalt neben den Gebühren im führenden Verfahren auch weitere Gebühren für seine Tätigkeiten in den hinzuverbundenen Verfahren erhalten kann, ist aber, dass er in den hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung tatsächlich tätig geworden ist. Einer Erstreckungsanordnung gemäß § 48 Abs. 6 S. 3 RVG bedarf es in diesen Fällen nicht.


    Oberlandesgericht Hamm

    1 Ws 95/17

    Tenor:

    Der angefochtene Kostenfestsetzungsbeschluss wird dahingehend abgeändert, dass die dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt U aus L aus der Landeskasse zu zahlende Vergütung auf 3.054,14 EUR festgesetzt wird.

    Das Verfahren ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.

    1

    Gründe

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    I.

    3

    Gegen den damaligen Beschuldigten war unter dem Aktenzeichen 15 Js 697/15 bei der Staatsanwaltschaft Siegen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Diebstahls anhängig. Ferner wurden gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft Siegen zahlreiche weitere Ermittlungsverfahren wegen ähnlicher Tatvorwürfe geführt, die in der Folgezeit durch die Staatsanwaltschaft Siegen im laufenden Ermittlungsverfahren zu dem Verfahren 15 Js 697/15, das führend blieb, hinzuverbunden wurden: Am 06.10.2015 wurde das Verfahren

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    15 Js 718/15, am 01.12.2015 wurden die Verfahren 15 Js 706/15 und 15 Js 798/15, am 16.12.2015 wurde das Verfahren 15 Js 783/15 und zuletzt am 08.01.2016 das Verfahren 15 Js 695/15 mit dem Verfahren 15 Js 697/15 verbunden.

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    Bereits mit Fax-Schriftsatz vom 07.09.2015, der am selben Tag bei der Staatsanwaltschaft Siegen einging, hatte sich der Verteidiger Rechtsanwalt U in allen den Beschuldigten betreffenden Verfahren als Wahlverteidiger gemeldet und unter Beifügung einer schriftlichen Vollmacht vom 31.08.2015 Akteneinsicht beantragt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Siegen wurde Rechtsanwalt U durch Beschluss des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht Siegen vom 01.03.2016 zum Pflichtverteidiger bestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Beschuldigte in anderer Sache in Strafhaft (vom 14.09.2015 bis zum 09.10.2016).

    6

    Mit Verfügung vom 12.05.2016 stellte die Staatsanwaltschaft Siegen das Ermittlungsverfahren gemäß § 154 Abs. 1 StPO wegen der zu erwartenden Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung in den Verfahren 33 Js 1218/15 und 33 Js 1776/15 der Staatsanwaltschaft Siegen vorläufig ein.

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    Mit Schriftsätzen vom 31.05.2016 zum führenden Verfahren und zu jedem der Ursprungsverfahren beantragte Rechtsanwalt U u. a. je eine Grundgebühr mit Zuschlag (4101 VV RVG) in Höhe von 192,00 EUR, eine Verfahrensgebühr mit Zuschlag (4105 VV RVG) in Höhe von 161,00 EUR sowie für alle Verfahren insgesamt 228 Kopien zu je 0,50 EUR sowie 30 Kopien zu je 0,15 EUR. Das Amtsgericht setzte die aus der Landeskasse zu zahlenden Vergütung auf 799,68 EUR für das Verfahren 15 Js 697/15 insgesamt fest, da es sich nach Hinzuverbindung der fünf weiteren Verfahren insgesamt nur noch um ein Verfahren handele. In den weiteren Verfahren sei weder vor Verbindung eine Beiordnung erfolgt noch sei die Beiordnung auf diese Verfahren erstreckt worden. Die festgesetzte Summe errechnete sich wie folgt:

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    9

    Gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 21.06.2016 legte der Verteidiger Erinnerung ein und beantragte hilfsweise, die Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung auf die einzelnen Ermittlungsverfahren zu erstrecken, die zum dem führenden Verfahren 15 Js 697/15 hinzuverbunden worden waren. Der am 24.06.2016 eingegangenen Erinnerung vom 23.06.2016 half der Rechtspfleger mit Verfügung vom 19.08.2016 nicht ab. Das Amtsgericht Siegen wies die Erinnerung sowie den Antrag auf nachträgliche Erstreckung der Wirkung der Beiordnung auf die verbundenen Verfahren mit Beschluss vom 20.09.2016 zurück.

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    Gegen den ihm am 23.09.2016 zugestellten Beschluss legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 23.09.2016 Beschwerde ein und beantragte hilfsweise erneut, die Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung auf die hinzuverbundenen Verfahren zu erstrecken. Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab und legte das Verfahren dem Landgericht Siegen vor, das den angefochtenen Beschluss in der Besetzung mit drei Richtern aufhob, die Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung auf die Verfahren 15 Js 706/15, 15 Js 798/15 und 15 Js 783/15 erstreckte, eine weitere Vergütung in Höhe von 1.331,61 EUR festsetzte, die Beschwerde im Übrigen verwarf und die weitere Beschwerde zugelassen hat.

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    Der weitere durch das Landgericht Siegen festgesetzte Betrag in Höhe von 1.331,61 EUR setzt sich wie folgt zusammen:

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    13

    Gegen diesen ihm am 23.12.2016 zugestellten Beschluss des Landgerichts Siegen vom 23.12.2016 wendet sich der Verteidiger mit seiner weiteren Beschwerde vom 05.01.2017, mit der er weiterhin die antragsgemäße Festsetzung auch für die Verfahren 15 Js 718/15 und 15 Js 695/15 begehrt. Hilfsweise beantragt er, die Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung im Verfahren 15 Js 697/15 auch auf die beiden Verfahren zu erstrecken.

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    Das Landgericht hat der weiteren Beschwerde mit Beschluss vom 17.01.2017 nicht abgeholfen und dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

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    II.

    16

    1.

    17

    Der Senat entscheidet gemäß §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 1 RVG in der Besetzung mit drei Richtern, da auch die angefochtene Entscheidung des Landgerichts nicht durch den Einzelrichter, sondern die Kammer ergangen ist.

    18

    2.

    19

    Die weitere Beschwerde ist zulässig. Sie ist gemäß §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 6 S. 1 RVG statthaft. Das Oberlandesgericht ist an die – hier auch zu Recht erfolgte – Zulassung der weiteren Beschwerde durch das Landgericht gebunden, §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 6 S. 4, Abs. 4 S. 4 RVG. Die Beschwerde wurde auch innerhalb der Frist der §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 6 S. 4, Abs. 3

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    S. 3 RVG eingelegt.

    21

    3.

    22

    Die weitere Beschwerde ist auch begründet, da die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht, §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 6 S.2 RVG, 546 ZPO.

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    a)

    24

    Die der Entscheidung des Landgerichts Siegen zugrundeliegende Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Siegen vom 20.09.2016 war statthaft, da der Beschwerdewert gemäß §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 1 RVG erreicht und die Beschwerde fristgerecht eingelegt worden war (§§ 56 Abs. 2 S. 2, 33 Abs. 3 S. 3 RVG).

    25

    b)

    26

    Das Landgericht hat die sofortige Beschwerde gegen die Zurückweisung der Erinnerung nach Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung für die drei hinzuverbundenen Verfahren 15 Js 706/15, 15 Js 798/15 und 15 Js 783/15, nach der Rechtsauffassung des Senats zu Unrecht zurückgewiesen.

    27

    Inwieweit ein Pflichtverteidiger gegen die Staatskasse Gebühren geltend machen kann, die vor seiner Beiordnung entstanden sind, richtet sich nach § 48 Abs. 6 RVG. Dabei ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten, welche Gebühren zu erstatten sind, wenn eine Beiordnung erst erfolgt, nachdem mehrere Verfahren, in denen der Pflichtverteidiger bereits als Wahlverteidiger tätig war, i. S. d. § 4 StPO verbunden worden sind.

    28

    Während das OLG Rostock vertritt, dass in derartigen Fällen die bis zur Verbindung in den Einzelsachen entstandenen Wahlverteidigergebühren bestehen bleiben und der Verteidiger diese nicht nochmals als Pflichtverteidiger ersetzt verlangen kann (Beschluss vom 27.04.2009, I Ws 8/09, juris, Rn. 8), wird in der Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass dem Rechtsanwalt über § 48 Abs. 6 S. 1 RVG Vergütungsansprüche gegen die Staatskasse für alle vorher hinzuverbundenen Verfahren erwachsen, soweit er in diesen vor der Verbindung als Wahlverteidiger tätig geworden ist (OLG Bremen, Beschluss vom 07.08.2012, Ws 137/11, Rn. 14 m. w. N.; Burhoff RVG Straf- und Bußgeldsachen, 4. Auflage, § 48 Rn. 22 ff.; Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, RVG, § 48 Rn. 60 ff. m.w.N.; Mayer/Kroiß, RVG, 6. Auflage, § 48 Rn. 126; OLG Hamm, Beschluss vom 06.06.2005, 2 (s) Sbd VIII – 110/05, juris).

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    Teilweise wird in der Rechtsprechung zu § 48 Abs. 6 S. 3 RVG inzwischen wieder die Ansicht vertreten, dass auch in den Fällen, in denen erst die Verbindung und dann die Beiordnung erfolgt, eine ausdrückliche Erstreckung erfolgen muss, da die Vorschrift des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG für alle Verbindungen gelten soll. Dabei soll eine Erstreckung der Beiordnung auf die hinzuverbundenen Verfahren in der Regel dann ausgesprochen werden, wenn auch in dem hinzuverbundenem Verfahren als solchem bereits eine Verteidigerbestellung angestanden hätte (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 27.12.2010, 1 Ws 583/10, juris, Rn. 7; OLG Braunschweig, Beschluss vom 22.04.2014, 1 Ws 48/14, Rn. 31).

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    Der Wortlaut und die Gesetzessystematik lassen beide Interpretationen zu. Einerseits enthält § 48 Abs. 6 S. 3 RVG keine Einschränkung auf nach der Beiordnung verbundene Verfahren, andererseits lässt sich der Formulierung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG hinsichtlich der Vergütung für vor dem Zeitpunkt der Bestellung entfalteten Tätigkeiten keine Beschränkung auf das Ursprungsverfahren entnehmen. Danach kommen sowohl eine Auslegung des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG als bloße Erweiterung einer bereits durch § 48 Abs. 6

    31

    S. 1 RVG bestimmten umfassenden Vergütung auf später hinzuverbundene Verfahren, als auch als Spezialregelung für hinzuverbundene Verfahren unabhängig vom Zeitpunkt der Verbindung in Betracht.

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    Gegen die letztgenannte inzwischen wieder vertretene Auffassung spricht, dass manchmal erst mehrere Jahre nach der Verbindung ggf. noch im Kostenfestsetzungsverfahren über Erstreckungen zu entscheiden ist und es vom Zufall abhängt, ob das Ursprungsverfahren gegenüber den hinzuverbundenen Verfahren dasjenige mit dem gewichtigsten Vorwurf ist (OLG Bremen a. a. O., Rn. 15). Für die zuerst genannte Auffassung spricht hingegen, dass mit der Regelung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG (vormals: § 48 Abs. 5 S. 1 RVG) nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs 15/1971, S. 201) die Regelung des § 93 Abs. 3 BRAGO übernommen werden sollte. Durch das RVG sollte Streit in der Frage, ob beigeordnet werden musste, gerade vermieden werden (Burhoff, a.a.O., Rn. 24 f.; Gerold/Schmidt/Burhoff/Müller-Rabe, RVG 20. Auflage, § 48 Rn. 148).

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    Der Senat schließt sich der in der Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Auffassung an, wonach § 48 Abs. 6 S. 1 RVG unmittelbar Anwendung findet, wenn Verfahren zunächst verbunden werden und danach die Bestellung als Pflichtverteidiger in dem (verbundenen) Gesamtverfahren erfolgt. Voraussetzung dafür, dass der Anwalt neben den Gebühren im führenden Verfahren auch weitere Gebühren für seine Tätigkeiten in den hinzuverbundenen Verfahren erhalten kann ist aber, dass er in den hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung tatsächlich tätig geworden ist (Burhoff a.a.O., Rn. 31, 33; Mayer/Kroiß a.a.O., Rn. 126).

    34

    Vorliegend bedurfte es daher einer – durch das Landgericht vorgenommenen – Erstreckung auf die hinzuverbundenen Verfahren nicht. Vielmehr ergibt sich ein Anspruch auf Festsetzung der geltend gemachten Gebühren und Auslagen unmittelbar aus § 48 Abs. 6 S. 1 RVG. Der Verteidiger ist in allen Verfahren vor den jeweiligen Verbindungen tätig gewesen, was sich aus seinem Schriftsatz vom 30.11.2016 an das Landgericht Siegen ergibt, in welchem er seine Tätigkeiten im Einzelnen dargelegt hat.

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    Hinsichtlich der Kopierkosten gilt: Erstmals Akteneinsicht in das Verfahren 15 Js 967/15 erhielt der Verteidiger im November zu einem Zeitpunkt, als das Verfahren 15 Js 718/15 bereits zu dem führenden Verfahren verbunden wurde. Es erfolgte dann erst wieder Akteneinsicht zu einem Zeitpunkt, in dem die Verfahren 15 Js 706/15 und 15 Js 798/15 sowie 15 Js 73/15 bereits mit dem Verfahren 15 Js 697/15 verbunden waren. Vor den jeweiligen Verbindungen erfolgte keine gesonderte Akteneinsicht in diese Ermittlungsakten, so dass insoweit insgesamt nur einmal 50 Kopien zu je 0,50 EUR abzurechnen sind, die übrigen Kopien hingegen mit jeweils 0,15 EUR.

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    Bereits im September 2015 erfolgte hingegen Akteneinsicht in das Verfahren

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    15 Js 695/15, so dass insoweit für das (verbundene) Gesamtverfahren 15 Js 697/15 insgesamt Kopierkosten wie folgt anzusetzen sind:

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    Verfahren 15 Js 695/15: 50 Kopien zu je 0,50 EUR sowie 8 Kopien zu je 0,15 EUR, mithin 26,20 EUR

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    Verfahren 15 Js 697/15: 50 Kopien zu je 0,50 EUR sowie 150 Kopien zu je 0,15 EUR, mithin 47,50 EUR.

    41

    Insgesamt können mithin Kopierkosten in Höhe von 73,70 EUR angesetzt werden. Hinsichtlich der darüberhinausgehend geltend gemachten Kopierkosten war die Beschwerde bereits insoweit beim Landgericht Siegen zurückgenommen worden.

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    Die Reiseauslagen sind vollständig in Ansatz zu bringen. Der Verteidiger hat zwar erklärt, dass der Haftbesuch vom 11.05.2016 auch für andere Verfahren vorgenommen wurde, er hat aber anwaltlich versichert, dass diese Auslagen in den anderen Verfahren nicht geltend gemacht wurden.

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    Insgesamt ergibt sich daher folgende Festsetzung:

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    45

    Demnach sind Gebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 3.054,14 EUR für das Verfahren 15 Js 697/15 als an den Verteidiger aus der Landeskasse zu zahlende Vergütung festzusetzen.

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    Es sind daher über die bisher erfolgten Zahlungen weitere 922,85 EUR als Vergütung aus der Landeskasse an den Verteidiger zu zahlen.

    47

    III.

    48

    Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 S. 2, S. 3 RVG.

    RechtsgebietPflichtverteidigungVorschriften§ 48 RVG