02.01.2020 · IWW-Abrufnummer 213305
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 20.11.2019 – XII ZB 63/19
a) Wird eine Sache im Rechtsmittelverfahren an ein Gericht eines niedrigeren Rechtszugs verwiesen oder abgegeben, so ist das weitere Verfahren vor diesem Gericht gemäß § 20 Satz 2 RVG auch gegenüber dem Verfahren des zuerst angerufenen Gerichts eine eigene Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG . Eine Anrechnung der Gebühren findet nicht statt.
b) Die Vorschrift des § 20 Satz 2 RVG gilt unabhängig davon, ob das ursprünglich angerufene erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit bejaht oder verneint hat.
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. November 2019 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Nedden-Boeger, Dr. Botur und Guhling
beschlossen:
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 1. Familiensenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 21. Dezember 2018 wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Wert: 8.659 €
Gründe
I.
1
Die Beteiligten streiten um die Erstattung anwaltlicher Gebühren und Auslagen im Kostenfestsetzungsverfahren.
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Die Ehe des Antragstellers (im Folgenden: Ehemann) und der Antragsgegnerin (im Folgenden: Ehefrau) ist seit Januar 2011 geschieden. Der Ehemann erhob im April 2011 gegen die Ehefrau beim Landgericht eine auf Gesamtschuldnerausgleich gerichtete Klage. Das Landgericht wies die Klage als unzulässig ab und begründete dies unter anderem damit, dass es sich um eine Familiensache handele, für die das Landgericht unzuständig sei. Auf die Berufung des Ehemanns hob der Zivilsenat des Oberlandesgerichts das Urteil des Landgerichts auf und verwies den Rechtsstreit von Amts wegen an das örtlich zuständige Familiengericht. Dieses wies den Antrag des Ehemanns aus Sachgründen zurück. Seine dagegen gerichtete Beschwerde hatte teilweise Erfolg. Der Familiensenat des Oberlandesgerichts traf im Teilanerkenntnis- und Schlussbeschluss vom 22. Dezember 2016 im Kostenpunkt folgende Anordnung: Der Ehemann "und Beschwerdeführer trägt die Mehrkosten, die durch die Klage zu dem unzuständigen Landgericht Schwerin entstanden sind; von der Erhebung von Gerichtskosten für das erstinstanzliche Verfahren vor dem Landgericht Schwerin und das anschließende Berufungsverfahren vor dem Zivilsenat des Oberlandesgerichts Rostock wird abgesehen." Die Ehefrau "und Beschwerdegegnerin trägt die Kosten der übrigen Rechtszüge des Verfahrens."
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Das Familiengericht hat die vom Ehemann an die Ehefrau nach der Kostengrundentscheidung vom 22. Dezember 2016 zu erstattenden Rechtsanwaltskosten für das Verfahren vor dem Landgericht auf 4.051,95 € und für das Verfahren vor dem Zivilsenat des Oberlandesgerichts auf 4.607,53 € nebst Verzinsung ab dem 22. Dezember 2016 festgesetzt. Das Oberlandesgericht hat die gegen beide Kostenfestsetzungsbeschlüsse gerichteten sofortigen Beschwerden des Ehemanns zurückgewiesen.
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Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt der Ehemann die Aufhebung der Kostenfestsetzungsbeschlüsse.
II.
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Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
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1. Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
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Die Verpflichtung des Ehemanns zur Kostenerstattung folge aus § 20 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 17 b Abs. 2 Satz 2 GVG . Im Fall der so genannten Diagonalverweisung sei das weitere Verfahren nach § 20 Satz 2 RVG ein neuer Rechtszug. Dies treffe auf die vorliegende Verweisung durch den Zivilsenat des Oberlandesgerichts an die Familienabteilung des Amtsgerichts zu, weshalb diese beiden Gerichte gebührenrechtlich keine Einheit bildeten. Nach der Kostengrundentscheidung vom 22. Dezember 2016 habe der Ehemann die durch die Klage beim unzuständigen Gericht entstandenen Mehrkosten - mit Ausnahme der Gerichtskosten - zu tragen. Dies schließe neben den Kosten für das Verfahren vor dem Landgericht auch die Kosten für das Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht ein.
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2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand. Der Ehemann ist verpflichtet, die Kosten in der festgesetzten Höhe zu erstatten.
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Gemäß der Kostengrundentscheidung vom 22. Dezember 2016 trägt der Ehemann die Mehrkosten, die durch die Anrufung des Landgerichts entstanden sind. Diese umfassen die Kosten sowohl des Verfahrens vor dem Landgericht als auch des hieraus hervorgegangenen Berufungsverfahrens vor dem Zivilsenat des Oberlandesgerichts. Gemäß §§ 15 Abs. 2 , 17 Nr. 1 , 20 Satz 2 RVG handelt es sich dabei um eigene gebührenrechtliche Angelegenheiten. Denn der Zivilsenat des Oberlandesgerichts hat die Sache an ein zuvor noch nicht angerufenes Gericht eines niedrigeren Rechtszugs verwiesen (sog. Diagonalverweisung i.S.v. § 20 Satz 2 RVG ).
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a) Ohne Erfolg wendet die Rechtsbeschwerde ein, die Vorschrift des § 20 Satz 2 RVG gelte nach ihrem Sinn und Zweck nur dann, wenn sich das zuerst angerufene Gericht als zuständig betrachte (vgl. dazu Gerold/Schmidt/Mayer RVG 24. Aufl. § 20 Rn. 7). Auch Verweisungsfälle der vorliegenden Art, in denen zwar schon das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit verneint, aber - gleich aus welchem Grund - erst das höhere Gericht die Sache an das zuständige Gericht verweist, sind vom Anwendungsbereich des § 20 Satz 2 RVG umfasst. Diese Vorschrift legt die Anzahl der Rechtszüge unabhängig davon fest, aus welchem Grund das höhere Gericht die Sache verweist. Für die von der Rechtsbeschwerde der Sache nach intendierte teleologische Reduktion findet sich keine Grundlage. Denn Sinn und Zweck der Regelung verlangen hier keine vom Wortlaut abweichende Auslegung (zu den Voraussetzungen der teleologischen Reduktion vgl. Palandt/Grüneberg BGB 78. Aufl. Einl. Rn. 49).
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Richtig ist zwar, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 20 Satz 2 RVG einen im Vergleich zur Horizontalverweisung nach § 20 Satz 1 RVG typischerweise erhöhten anwaltlichen Aufwand berücksichtigt hat. Zum einen ist jedoch die Annahme, wonach unter den Fällen der so genannten Diagonalverweisung der anwaltliche Aufwand dann geringer ausfalle, wenn die Zuständigkeit bereits in erster Instanz streitig sei, nicht zwingend. Zum anderen widerspräche eine solche Differenzierung dem Regelungszusammenhang: Nach dem das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz beherrschenden Grundsatz der Verfahrenspauschgebühr wird die anwaltliche Tätigkeit jeweils für eine ganze Gruppe von Einzeltätigkeiten unabhängig vom Umfang und Grad der im Einzelnen aufgewandten Mühe vergütet (Toussaint in Hartmann/Toussaint Kostenrecht 49. Aufl. § 15 RVG Rn. 1).
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b) Zutreffend sind die Vorinstanzen ferner davon ausgegangen, dass die anwaltlichen Gebühren und Auslagen für das Verfahren vor dem Landgericht und dasjenige vor dem Familiengericht jeweils selbständig nach den dafür geltenden Vorschriften entstanden sind und eine Anrechnung untereinander nicht stattfindet. Die vom Oberlandesgericht nicht ausdrücklich erörterte Frage, ob im Fall des § 20 Satz 2 RVG das erstinstanzliche Verfahren vor dem ursprünglich angerufenen Gericht und das Verfahren vor dem nach der Verweisung erstinstanzlich zuständigen Gericht dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG bilden, ist allerdings streitig.
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aa) Eine Auffassung bejaht dies. Die Regelung des § 20 Satz 2 RVG führe nicht dazu, dass auch in diesem Verhältnis ein neuer Rechtszug vorliege (vgl. BayVGH NVwZ-RR 2010, 663; Gerold/Schmidt/Mayer RVG 24. Aufl. § 20 Rn. 8; Riedel/Sußbauer/Pankatz RVG 10. Aufl. § 17 Rn. 9; Toussaint in Hartmann/Toussaint Kostenrecht 49. Aufl. § 20 RVG Rn. 8). Vertreter dieser Auffassung haben die Gebühreneinheit zum Teil mit der - seit 1. August 2013 aufgehobenen - Regelung des § 15 Abs. 2 Satz 2 RVG aF begründet (BayVGH NVwZ-RR 2010, 663; Toussaint in Hartmann/Toussaint Kostenrecht 49. Aufl. § 20 RVG Rn. 8), zum Teil damit, dass hier - wie bei einer Horizontalverweisung - § 20 Satz 1 RVG ebenfalls Geltung beanspruche (Gerold/Schmidt/Mayer RVG 24. Aufl. § 20 Rn. 8; zur Vorgängerregelung des § 14 Satz 1 BRAGO: Mümmler JurBüro 1988, 290).
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bb) Nach der Gegenmeinung handelt es sich auch insoweit um zwei verschiedene Angelegenheiten. Der Rechtsanwalt könne in Fällen der vorliegenden Art jedes durchlaufene gerichtliche Verfahren gesondert abrechnen. Es gelte in diesen Fällen ausschließlich § 20 Satz 2 RVG mit der Folge, dass alle Gebühren, einschließlich der Verfahrensgebühr, vor dem nach der Verweisung zuständigen Gericht neu entstünden. Für eine Anrechnung fehle es an einer speziellen Vorschrift (BayVGH BayVBl 1983, 700; vgl. auch Enders in Hartung/Schons/Enders RVG 3. Aufl. § 20 Rn. 21; AnwK-RVG/N. Schneider 8. Aufl. Vor §§ 20, 21 Rn. 33; Jungbauer in Bischof/Jungbauer RVG 8. Aufl. § 20 Rn. 45, 47).
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cc) Die letztgenannte Auffassung ist zutreffend. Das ergibt eine Auslegung unter Berücksichtigung von Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Norm.
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(1) Die Auslegung, wonach die Regelung des § 20 Satz 2 RVG auch im Verhältnis des nach Verweisung durchzuführenden erstinstanzlichen Verfahrens zu dem ursprünglichen erstinstanzlichen Verfahren einen neuen Rechtszug begründet, hält sich in den Grenzen des Wortlauts dieser Vorschrift. Das von der Rechtsbeschwerde angeführte Verständnis, wonach erkennbar nur das Verhältnis zu demjenigen Gericht gemeint sei, das selbst die Verweisung vornehme, findet im Wortlaut keine Stütze. Die Vorschrift ist vielmehr dahin zu verstehen, dass sie abschließend das Verhältnis zu allen Rechtszügen bis zur Verweisung regeln will.
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(2) Ein anderes Verständnis der Norm führte zudem zu Wertungswidersprüchen innerhalb der gesetzlichen Systematik. Denn danach könnten bei einer Diagonalverweisung i.S.v. § 20 Satz 2 RVG die Verfahrens- und Terminsgebühr für die Ausgangsinstanz jeweils nur einmal anfallen, während sogar bei einer vertikalen Zurückverweisung i.S.v. § 21 Abs. 1 RVG jedenfalls die Terminsgebühr zweimal anfallen kann.
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§ 21 Abs. 1 RVG regelt die gebührenrechtlichen Folgen einer so genannten Vertikalverweisung, bei der das Obergericht die Sache an ein ihm untergeordnetes Gericht zurückverweist. Auch wenn im Ausgangspunkt das weitere Verfahren vor diesem Gericht einen neuen Rechtszug darstellt und demgemäß die Verfahrensgebühr ( Nr. 3100 VV RVG ) und gegebenenfalls die Terminsgebühr ( Nr. 3104 VV RVG ) für die erste Instanz jeweils zweifach anfallen können, bestimmt Vorbemerkung 3 Abs. 6 VV RVG , dass die bereits entstandene Verfahrensgebühr auf diejenige für das erneute Verfahren anzurechnen ist.
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Ginge man in den Fällen des § 20 Satz 2 RVG von der Gebühreneinheit der beiden Verfahren erster Instanz aus, führte dies dazu, dass eine schon angefallene Terminsgebühr nicht erneut entstehen kann. Es wäre jedoch nicht nachzuvollziehen, wenn die anwaltliche Tätigkeit bei einer Diagonalverweisung geringer vergütet würde, obwohl bei gänzlicher Neubefassung des erstinstanzlichen Gerichts jedenfalls mit keinem geringeren Aufwand zu rechnen ist. Deshalb ist es auch systemgerecht, die anwaltlichen Gebühren im Fall des § 20 Satz 2 RVG unabhängig davon neu entstehen zu lassen, ob sie vor der Verweisung bereits angefallen sind.
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(3) Auch Sinn und Zweck des § 20 RVG unterstützen diese Auslegung. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde bestehen diese nicht einseitig darin, bei Verweisungen das Entstehen umfangreicher Anwaltsgebühren zu vermeiden. Regelungszweck ist nicht nur die Vermeidung einer zu hohen Vergütung, sondern auch die Sicherstellung einer angemessenen Vergütung in den im Einzelnen sehr verschiedenen Fallgruppen des § 20 Satz 1 und 2 RVG , bei denen der Anwalt sehr unterschiedlich schwierige Aufgaben lösen muss (Toussaint in Hartmann/Toussaint Kostenrecht 49. Aufl. § 20 RVG Rn. 2). Dieser typisierenden Betrachtung entspricht es, dass in dem Fall der Horizontalverweisung die erstinstanzlichen Gebühren lediglich einmal anfallen können, in dem Fall der Diagonalverweisung jedoch zweimal. Denn im ersten Fall findet die Verweisung noch vor Beendigung der Instanz - möglicherweise sogar zu Beginn des Verfahrens - statt, während diese Instanz im zweiten Fall bereits vollständig durchlaufen ist.
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(4) Überdies wäre unter der vom Senat für unzutreffend erachteten Annahme, dass § 20 Satz 2 RVG keine Aussage über das Verhältnis der erstinstanzlichen Verfahren trifft, nicht zufriedenstellend zu erklären, aus welchem Grund diese dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG bilden. § 20 Satz 1 RVG regelt ausschließlich den hier gerade nicht einschlägigen Fall der Horizontalverweisung. Weder § 15 Abs. 2 Satz 2 RVG aF noch die Nachfolgevorschrift des § 17 Nr. 1 RVG verhalten sich eindeutig zu dieser Frage. Auch besteht für Fälle der vorliegenden Art keine Anrechnungsregel im Sinne des § 15 a RVG .
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c) Schließlich weist die angefochtene Entscheidung auch im Hinblick auf die rechnerische Höhe der festgesetzten Gebühren und Auslagen keine Rechtsfehler auf.
Dose
Schilling
Nedden-Boeger
Botur
Guhling