09.06.2022 · IWW-Abrufnummer 229622
Bundesgerichtshof: Urteil vom 10.05.2022 – VI ZR 156/20
a) Zum Feststellungsinteresse bei einer Klage auf Feststellung der Schadensersatzpflicht in einem sogenannten Dieselfall.
b) Auf mögliche künftige Belastungen mit Aufwendungen, die nur im Rahmen des großen Schadensersatzes ersatzfähig wären, kann der Kläger sein Feststellungsinteresse nicht stützen, wenn er sich nicht für die Geltendmachung des großen Schadensersatzes entschieden hat, obwohl ihm diese Entscheidung möglich und zumutbar ist (Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 33).
c) Zur Bestimmung einer außergerichtlichen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV-RVG.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs. 2 ZPO unter Berücksichtigung bis zum 31. März 2022 eingegangener Schriftsätze durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler, den Richter Dr. Klein und die Richterin Dr. Linder
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen.
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. Dezember 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als darin zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 24. August 2018 dahingehend abgeändert, dass der Antrag des Klägers auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, ihm Schadensersatz zu bezahlen für Schäden, die aus der Manipulation des Fahrzeugs Audi A5 2.0 TDI, FIN: WAUZZZ8T6EA038721, durch die Beklagte resultieren, abgewiesen wird.
Die Sache wird im Übrigen, also hinsichtlich der Hilfsanträge sowie des Antrags auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Der Kläger macht gegen die beklagte Volkswagen AG Ansprüche im Zusammenhang mit dem sogenannten VW-Dieselskandal geltend.
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Der Kläger erwarb von einem Dritten im März 2015 einen gebrauchten Pkw Audi A5 Sportback 2.0 TDI zum Kaufpreis von 33.500 €. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet, der eine Software zur Abgasrückführungssteuerung enthält. Diese Software verfügt über zwei Modi. Im Modus 1, der in standardisierten Testsituationen wie dem Prüfstand aktiv ist, kommt es zu einer höheren Abgasrückführungsrate. Unter Fahrbedingungen im normalen Straßenverkehr reduziert die Software den Umfang der Abgasrückführung dauerhaft auf ein geringeres Maß (Modus 0).
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Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) gab der AUDI AG mit Bescheid vom 11. Dezember 2015 auf, die vorhandene Software zu entfernen und geeignete Maßnahmen zur Herstellung ordnungsgemäßer Zustände zu ergreifen. Die Beklagte entwickelte daraufhin ein Software-Update, welches vom KBA freigegeben wurde. Der Kläger ließ das Update durchführen.
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Der Kläger ist der Ansicht, er sei von der Beklagten durch den Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung sittenwidrig geschädigt worden. Er hat erstinstanzlich beantragt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm Ersatz für Schäden zu leisten, die aus der Manipulation seines Fahrzeugs durch die Beklagte resultieren würden, ferner die Beklagte zu verurteilen, ihn von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten - berechnet auf Grundlage einer 2,0 Geschäftsgebühr - freizustellen. Das Landgericht hat die beantragte Feststellung ausgesprochen und die Beklagte zur Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten - berechnet auf der Grundlage einer 1,3 Geschäftsgebühr - verurteilt; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Dagegen hat die Beklagte Berufung mit dem Ziel der vollständigen Klageabweisung eingelegt, der Kläger hat hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten Anschlussberufung im Umfang der Klageabweisung eingelegt. Den Antrag auf Zurückweisung der Berufung der Beklagten hat der Kläger mit dem Hilfsantrag verbunden, die Beklagte zur Zahlung von 33.500 € nebst Delikts- und Rechtshängigkeitszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs zu verurteilen und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm Schadensersatz zu bezahlen für weitere Schäden, die aus der Manipulation des Fahrzeugs durch die Beklagte resultieren würden.
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Das Oberlandesgericht hat die Berufungen zurückgewiesen. Mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen verfolgen die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung und der Kläger seinen Antrag auf Freistellung von weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht (BeckRS 2019, 41958 und Juris unter Az. 5 U 202/18) hat das Feststellungsbegehren des Klägers für zulässig und begründet gehalten. Der gestellte Feststellungsantrag genüge bei der gebotenen Auslegung den Bestimmtheitsanforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Auf eine Leistungsklage müsse sich der Kläger nicht verweisen lassen, weil die Schadensentwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen sei. Das erforderliche Feststellungsinteresse ergebe sich aus der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines weiteren Vermögensschadens. Der Feststellungsantrag sei auch begründet. Dem Kläger stehe gegen die Beklagte ein Anspruch gemäß §§ 826, 31 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zu.
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Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten seien aus einer Geschäftsgebühr von 1,3 zu berechnen. Die vorliegende Angelegenheit sei weder in zeitlicher noch in qualitativer Hinsicht als überdurchschnittlich zu qualifizieren. Die erforderliche Einarbeitung der Prozessbevollmächtigten des Klägers in die technischen und rechtlichen Fragen der Haftung der Beklagten möge zeitintensiv gewesen sein, dies sei jedoch auf eine Vielzahl von nahezu identischen Fällen umzurechnen, die von den Prozessbevollmächtigten des Klägers betreut würden. Die Übertragung der gewonnenen Kenntnisse auf den konkreten Fall weise keine überdurchschnittlichen Schwierigkeiten auf.
II.
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Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Feststellungsantrag des Klägers unzulässig.
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1. Der Feststellungsantrag ist zwar trotz seiner weiten Formulierung bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, weil er sich unter Heranziehung der Klageschrift dahingehend auslegen lässt, dass es um die Ersatzpflicht der Beklagten für Schäden geht, die daraus resultieren, dass die Beklagte den in das Fahrzeug des Klägers eingebauten Motor mit der vom KBA mit Bescheid vom 11. Dezember 2015 als unzulässig beanstandeten Abschalteinrichtung herstellte und in den Verkehr brachte (vgl. Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 12 f.).
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2. Der Feststellungsantrag ist jedoch unzulässig, weil es am erforderlichen Feststellungsinteresse des Klägers fehlt (vgl. dazu Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 14 ff.).
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a) Entgegen der nicht näher begründeten Auffassung der Revisionserwiderung hat der Kläger den Feststellungsantrag nicht in Bezug auf den sogenannten großen Schadensersatz gestellt. Jedenfalls lässt sich eine solche Festlegung dem gestellten Antrag nicht entnehmen. Auf Grundlage der beantragten- und in den Vorinstanzen zugesprochenen - Feststellung stünde es dem Kläger vielmehr frei, auch den sogenannten kleinen Schadensersatz zu verlangen. Der Kläger kann sein Feststellungsinteresse jedoch nicht darauf stützen, dass er sich die Wahl offenhalten möchte, ob er von der Beklagten den sogenannten großen oder kleinen Schadensersatz verlangt. Diese Entscheidung war ihm bei Klageerhebung zumutbar (vgl. Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 16-19).
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b) Das Feststellungsinteresse ergibt sich auch nicht daraus, dass die Schadensentwicklung im Hinblick auf Reparaturkosten, Steuernachforderungen, Stilllegungskosten und Kosten im Zusammenhang mit dem Update noch nicht abgeschlossen sei. Zwar kann, wenn ein Teil des Schadens bei Klageerhebung schon entstanden, die Entstehung weiterer Schäden aber noch zu erwarten ist, der Kläger in vollem Umfang Feststellung der Ersatzpflicht begehren, wobei die zu erwartenden Schäden entgegen der Ansicht der Revisionsbegründung nicht wahrscheinlich, sondern nur möglich sein müssen (Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 24-29). Künftig entstehende Aufwendungen, die zu den gewöhnlichen Unterhaltskosten für das Fahrzeug zählen (Verbrauchsmaterialien, Kraftstoff, Inspektions- und Wartungskosten, Reparaturen) wären aber nicht ersatzfähig (Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 32 mwN). Die weiter vom Kläger angeführten Aufwendungen (Steuernachforderungen, Stilllegungskosten, Kosten im Zusammenhang mit etwaigen schädlichen Auswirkungen des Updates) könnte der Kläger jedenfalls nicht als Schaden ersetzt verlangen, wenn er den sogenannten kleinen Schadensersatz (Ersatz des Minderwerts) geltend machen sollte (vgl. Senatsurteile vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 17, 33; vom 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224 Rn. 33 f.). Eine Schadensentwicklung, die ein Feststellungsinteresse begründen könnte, wäre dann ausgeschlossen. Ob und inwieweit die genannten Aufwendungen im Rahmen des großen Schadensersatzes ersatzfähig wären, sie insbesondere dem sogenannten negativen Interesse zuzuordnen wären, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner Entscheidung. Denn auf eine diesbezügliche Schadensentwicklung könnte der Kläger sein Feststellungsinteresse schon deshalb nicht stützen, weil er sich nicht für die Geltendmachung des großen Schadensersatzes entschieden hat, obwohl ihm diese Entscheidung bereits jetzt möglich und zumutbar ist (Senatsurteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, ZIP 2021, 2553 Rn. 33).
III.
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Die Revision des Klägers ist dagegen nicht begründet.
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1. Die Beklagte hat zwar keinen Gegenantrag zur Revision des Klägers gestellt und sich hierzu auch sonst nicht verhalten. Gleichwohl ist über die Revision des Klägers nicht durch Versäumnisurteil, sondern durch Endurteil (unechtes Versäumnisurteil) zu entscheiden, da sie sich auf der Grundlage des von dem Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts als unbegründet erweist (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juli 1967 - V ZR 112/64, NJW 1967, 2162, juris Rn. 7 ff.; vom 10. Februar 1993 - XII ZR 239/91, NJW 1993, 1788, juris Rn. 9; vom 13. März 1997 - I ZR 215/94, NJW 1998, 156, 157, juris Rn.15).
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2. Die Revision des Klägers hat in der Sache keinen Erfolg, weil der Kläger - auch wenn das Berufungsgericht ihm im zweiten Rechtsgang auf seine (neue) Hauptforderung einen Schadensersatzanspruch zusprechen sollte - jedenfalls keinen Anspruch auf Freistellung von weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten hat.
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a) Das Berufungsgericht hat die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nach den bis zum 31. Dezember 2020 maßgeblichen Gebührenbestimmungen in einer Höhe von 1.474,89 € entsprechend einer 1,3 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV-RVG, §§ 13, 14 RVG nebst Post- und Telekommunikationspauschale sowie Umsatzsteuer aus einem Gegenstandswert von 33.500 € entsprechend der Höhe des Kaufpreises und damit vorgerichtlichen Gegenstandswertes als ersatzfähig angesehen.
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Der gesetzliche Gebührentatbestand in Nr. 2300 VV-RVG bestimmt, dass eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Ob dies der Fall ist, ist gemäß § 14 Abs. 1 RVG anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen (vgl. Senatsurteil vom 19. Januar 2021 - VI ZR 8/20, VersR 2021, 385 Rn. 22). Die Revision zeigt keine Gesichtspunkte auf, die die Bewertung des Berufungsgerichts zum Nachteil des Klägers als rechtsfehlerhaft erscheinen lassen könnten. Insbesondere ist die Erwägung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, die tatsächlich erhebliche Einarbeitungszeit in die technischen und rechtlichen Fragen einer Haftung der Beklagten sei auf die Vielzahl der von den Instanzbevollmächtigten des Klägers betreuten Verfahren mit vergleichbaren Fragestellungen umzulegen, so dass die Bearbeitung des konkreten Streitfalles keine überdurchschnittlichen Schwierigkeiten mehr aufweise. Dass die Instanzbevollmächtigten des Klägers eine Vielzahl vergleichbarer Fälle bearbeitet haben, stellt die Revision schon nicht in Frage.
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b) Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat im Übrigen darauf hin, dass bei der Bestimmung des Gegenstandswerts der Zeitpunkt der Beauftragung des Rechtsanwalts mit der außergerichtlichen Tätigkeit maßgeblich ist. Bis dahin gezogene Nutzungen werden daher vom Kaufpreis in Höhe von 33.500 € noch in Abzug zu bringen sein (vgl. Senatsurteil vom 2. November 2021 - VI ZR 731/20, NJW 2022, 472 Rn. 16).
IV.
19
Die angegriffene Entscheidung ist aufzuheben. Den isolierten Feststellungsantrag (Hauptantrag) weist der Senat ab, da die Sache insoweit zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Dies gilt nicht für die Hilfsanträge des Klägers. Er macht in zulässiger Weise mit dem Leistungsantrag den großen Schadensersatz geltend und beantragt zusätzlich die Feststellung der Ersatzpflicht weiterer Schäden. Deshalb ist die Sache insoweit und wegen des Freistellungsantrags zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Seiters
von Pentz
Oehler
Klein
Linder
Von Rechts wegen