29.10.2024 · IWW-Abrufnummer 244452
Landgericht Essen: Beschluss vom 06.07.2023 – 27 KLs-10 Js 695/21-43/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landgericht Essen
27 KLs-10 Js 695/21-43/21
Tenor:
Auf die Erinnerung der Rechtsanwältin M. vom 13.07.2022 wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Essen vom 27.04.2023 aufgehoben und nunmehr festgesetzt, dass die der Beschwerdeführerin Gebühren und Auslagen i.H.v. 1.023,30 € zu erstatten sind.
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Gründe:
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I.
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Die Erinnerungsführerin war dem Angeklagten U. als Pflichtverteidigerin für das Verfahren 27 KLs 43/21 als Terminsvertreterin für den ersten Hauptverhandlungstermin beigeordnet worden.
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Mit Schriftsatz vom 26.04.2022 beantragte die Erinnerungsführerin die Festsetzung von Gebühren i.H.v. insgesamt 1.023,30 € brutto für ihre Tätigkeit in diesem Verfahren. Die verlangten Gebühren setzen sich wie folgt zusammen:
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Geb. Nr. | Bezeichnung | Gebühr |
4101 | Grundgebühr mit Zuschlag | 216,00 € |
4113 | Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor der Strafkammer mit Zuschlag | 198,00 € |
4115 | Terminsgebühr je Hauptverhandlungstag nach Nr. 4112 mit Zuschlag | 343,00 € |
7002 | Pauschale für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen | 20,00 € |
7005 | Tage- und Abwesenheitsgeld bei einer Geschäftsreise | 30,00 € |
7003 | Fahrtkosten | 52,92 € |
SUMME | 859,92 € | |
7008 | zuzüglich Umsatzsteuer | 1.023,30 € |
Mit Schriftsatz vom 03.05.2022 wies die Rechtspflegerin des Landgerichts die Erinnerungsführerin darauf hin, dass ihrer Auffassung nach keine Grundgebühr für eine reine Terminsvertretung berechnet werden könne.
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Mit Schriftsatz vom 11.05.2022 erwiderte die Erinnerungsführerin, dass sie an ihrer Abrechnung festhalte. Es entspräche gängiger Rechtsprechung, dass der Terminsvertreter auch eine Grundgebühr abrechnen könne.
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Mit Schreiben vom 17.05.2022 führte die Rechtspflegerin aus, dass die Beiordnung im hiesigen Verfahren offensichtlich lediglich als Terminsvertreterin für eine insgesamt 30 Minuten andauernde Hauptverhandlung erfolgte. Demnach falle keine Grundgebühr an. Die Erinnerungsführerin hielt mit Schriftsatz vom 18.05.2022 an ihrer Auffassung fest.
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Mit Beschluss vom 04.07.2022 setzte das Landgericht Essen die zu erstattenden Gebühren und Auslagen auf 445,92 € fest. Zur Begründung führte das Landgericht aus, dass die Grundgebühr nach Nr. 4101 VV RVG und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4113 VV RVG nicht zu erstatten seien, da die Erinnerungsführerin lediglich als "Terminsvertreterin" beigeordnet wurde.
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Mit Schriftsatz vom 13.07.2022 legte die Beschwerdeführerin Beschwerde und hilfsweise sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des 04.07.2022 ein.
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Mit Schriftsatz vom 27.09.2022 nahm die Bezirksrevisorin Stellung und beantragte, die Beschwerde nur anteilig abzuhelfen. Ferner legte die Revisorin Erinnerung gegen den Beschluss ein. In der Sache führte die Revisorin aus, dass die Beschwerde als Erinnerung auszulegen sei. Auch die Festsetzung der Post- und Telekommunikationsgebühr sei fehlerhaft bei einer bloßen Terminsvertretung.
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Mit Beschluss vom 27.04.2023 half die Rechtspflegerin der Erinnerungen dahingehend ab, dass die zu erstattenden Gebühren auf 506,49 € festgesetzt wurden.
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II.
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Der mit Schriftsatz vom 13.07.2022 eingelegte Rechtsbehelf ist als Erinnerung gemäß § 56 I RVG zulässig und hat in der Sache Erfolg.
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Die Erinnerungsführerin hat vorliegend einen Anspruch auf die von ihr mit Schriftsatz vom 26.04.2022 beantragten Gebühren und Auslagen nach den Nr. 4101 VV RVG, 4113, 4115 VV RVG sowie 7002, 7003 und 7005 VV RVG zuzüglich der Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG. Die von ihr konkret erbrachte Tätigkeit rechtfertigt nicht lediglich die Festsetzung von Gebühren nach Nr. 4115, 7005, 7003 und 7008 VV RVG.
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Die Konstellation, in welcher ein Rechtsanwalt lediglich für eine einzelne Tätigkeit dem Angeklagten beigeordnet wird, wird in der Rechtsprechung hinsichtlich der insoweit erstattungsfähigen Gebühren unterschiedlich beurteilt. In Rechtsprechung und Literatur ist insoweit zunächst umstritten, ob der wegen der Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Termin zur Haftbefehlseröffnung, einen Haftprüfungstermin oder für einen oder mehrere einzelne Hauptverhandlungstage beigeordnete Verteidiger als Vergütung für seine Tätigkeit nur die Terminsgebühr erhält, oder ob ihm darüber hinaus auch eine Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zusteht.
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Die Kammer schließt sich insoweit der von dem Oberlandesgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 09.02.2023 (2 Ws 13/22) und vom Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 23.03.2006 (3 Ws 586/05) vertretenen Auffassung an.
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Das Oberlandesgericht Karlsruhe führt in seinem Beschluss insoweit aus, dass nach ganz überwiegender Auffassung die zeitlich beschränkte Beiordnung eines Verteidigers für einen gerichtlichen Termin nicht als „Einzeltätigkeit“ im Sinne von Teil 4 Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses anzusehen ist. Denn der, wenn auch zeitlich beschränkt, bestellte Verteidiger, dem in diesem Verfahrensabschnitt die eigenverantwortliche, umfassende Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten/Angeklagten obliegt, ist einem (gewählten oder bestellten) „Beistand“ im Sinne von Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG, dessen Auftrag sich auf die Erbringung bestimmter Beistandsleistungen beschränkt, nicht gleichzustellen (vgl. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, VV Einl. Vorb. 4.1. Rn. 12 mit Rechtsprechungsnachweisen; Knaudt in BeckOK RVG, 58. Ed., RVG VV 4301 Rn. 12; KG NStZ-RR 2005, 327; OLG Dresden, Beschluss vom 16.05.2007 - 2 Ws 167/07 -, BeckRS 2008, 7871; OLG Karlsruhe, NJW 2008, 2935; OLG München, NJOZ 2014, 1478; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2015, 95; OLG Saarbrücken, NJOZ 2015, 1166; a.A.: OLG Stuttgart, Beschluss vom 23.01.2023 - 4 Ws 13/23 -, juris; LG Leipzig, Beschluss vom 13.06.2019 - 1 Qs 114/19 -, BeckRS 2019, 23001).
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Die Gegenauffassung, welche den lediglich für einen gerichtlichen Termin als Vertreter des verhinderten Pflichtverteidigers beigeordneten Verteidiger gebührenrechtlich nicht dem zuvor bereits für das gesamte Verfahren beigeordneten Pflichtverteidiger gleichstellt, sei abzulehnen. Die Gegenauffassung argumentiere insoweit, dass der zeitlich befristet bestellte Verteidiger nicht als weiterer Pflichtverteidiger, sondern lediglich als Vertreter des verhinderten Pflichtverteidigers bestellt werde, weshalb insgesamt nur ein Pflichtverteidigermandat abzurechnen sei (vgl. etwa OLG Celle, Beschlüsse vom 19.09.2018 - 3 Ws 221/18 -, BeckRS 2018, 23280, und vom 19.12.2008 - 2 Ws 365/08 -, NStZ-RR 2009, 158; KG, Beschluss vom 18.02.2011 -1 Ws 38/09 -, NStZ-RR 2011, 295; OLG Brandenburg, Beschluss vom 25.08.2009 - 2 Ws 111/09 -, BeckRS 2010, 529; OLG Koblenz, Beschluss vom 16.10.2012 - 2 Ws 759/12 -, BeckRS 2012, 22226; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.05.2014 - 1 Ws 195/14 -, BeckRS 2014, 13328). Dabei wird die Frage, ob die Terminsgebühr in der Person des originären Pflichtverteidigers (so das OLG Koblenz, a.a.O.) oder in der Person des Vertreters (so das KG, a.a.O.) entstanden ist, unterschiedlich beantwortet oder offen gelassen (so das OLG Oldenburg, a.a.O.). Lasse sich ein Verteidiger in einem Termin durch einen anderen Verteidiger - mit Zustimmung des Gerichts - vertreten, könne dies nicht dazu führen, dass Grund- und Verfahrensgebühr mehrfach entstehen. Andernfalls könne ein Pflichtverteidiger, der sich an verschiedenen Sitzungstagen durch verschiedene Vertreter vertreten lasse, zahlreiche Gebührentatbestände entstehen lassen, ohne dass dafür ein sachlicher Grund bestünde (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 16.10.2012, a.a.O. m.w.N. aus der Rechtsprechung).
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Nach der anderen, von dem Karlsruher Senat bevorzugten Auffassung, beschränkt sich der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, nicht auf die Terminsgebühr, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 des Vergütungsverzeichnisses in Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2008, 2935; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.10.2008 - 1 Ws 318/08 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 23.03.2006 - 3 Ws 586/05 -, juris; OLG Köln, Beschluss vom 26.03.2010 - 2 Ws 129/10 -, BeckRS 2010, 16664; OLG Bamberg, NStZ-RR 2011, 223; OLG München, a.a.O.; OLG Nürnberg, a.a.O.; OLG Saarbrücken, a.a.O.; OLG Jena, Beschluss vom 14.04.2021 - (S) AR 62/20 -, BeckRS 2021, 9651). Denn dem anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen gerichtlichen Termin beigeordneten Verteidiger sei für den in der Beiordnung bezeichneten Verfahrensabschnitt die Verteidigung ohne jede inhaltliche Beschränkung mit sämtlichen Verteidigerrechten und -pflichten übertragen. Eine Beiordnung eines Verteidigers lediglich als „Vertreter“ des bereits bestellten Verteidigers sehe die StPO nicht vor. Dies folge bereits daraus, dass der bestellte Verteidiger eine Untervollmacht für die Verteidigung des Angeklagten einem anderen Rechtsanwalt nicht erteilen kann, auch nicht mit Zustimmung des Gerichts, weil die Bestellung zum Verteidiger auf seine Person beschränkt sei (vgl. BGH StV 1981, 393; StV 2011, 650 und Beschluss vom 15.01.2014 - 4 StR 346/13 -, juris). Eine solche Vertretung in der Verteidigung ist nur dem entweder amtlich (§ 53 Abs. 2 Satz 3 BRAO) oder vom Verteidiger selbst (§ 53 Abs. 2 Satz 1 oder 2 BRAO) bestellten allgemeinen Vertreter des Pflichtverteidigers möglich (BGH, Beschluss vom 15.01.2014, a.a.O.). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers werde vielmehr ein eigenständiges, öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen habe. Eine solche umfassende, eigenverantwortliche Verteidigung setze auch eine Einarbeitung in den Fall voraus, ohne die eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist. Gerade für diese erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall entstehe dann auch die Grundgebühr. Eine Unterscheidung danach, welchen Aufwand diese Einarbeitung im Einzelfall erfordert (so das OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.02.2011 - 4 Ws 195,10 -, NJOZ 2012, 213) verbiete sich schon deshalb, weil es sich bei den Gebühren des Pflichtverteidigers nach Anlage 1 Teil 4 Abschnitt 1 zu § 2 Abs. 2 RVG um Festgebühren handele, die grundsätzlich unabhängig von dem im Einzelfall erforderlichen Aufwand anfallen würden. Der Anspruch des wegen Verhinderung des zuvor bestellten Verteidigers (zeitlich beschränkt) bestellten weiteren Verteidigers scheitere auch nicht daran, dass die Gebühr aus VV Nr. 4100/4101 pro Rechtsfall nur einmal entsteht und auf Seiten des ursprünglich bestellten Pflichtverteidigers bereits entstanden ist; denn die Einmaligkeit der Gebühr pro Rechtsfall sei ausschließlich personen- und nicht verfahrensbezogen zu verstehen (vgl. Knaudt in BeckOK RVG, a.a.O. RVG VV Vorbemerkung, Rn. 20). Auch im Falle eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a StPO stehe die Grundgebühr sowohl dem zunächst bestellten Pflichtverteidiger als auch dem an seiner Stelle bestellten neuen Pflichtverteidiger zu (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023 , 2 Ws 13/23 , zitiert nach juris).
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Die Ausführungen des Oberlandesgerichts Karlsruhe, welche sich mit der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Hamm (OLG Hamm, Beschluss vom 23.03.2006, 3 Ws 586/05, zitiert nach juris) decken, überzeugen die Kammer, so dass sie bereits in dem Beschluss vom 14.04.2023 (LG Essen, Beschl. vom 14.04.2023, 27 Qs 10/23) dieser Rechtsauffassung vertreten hat. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass das Oberlandesgericht Hamm in dem nicht veröffentlichten Einzelrichterbeschluss vom 26.05.2020 (OLG Hamm, Beschl. v. 26.05.2020, III- 5 Ws 362/19) eine abweichende Auffassung vertreten hat. Nach der Argumentation des Oberlandesgerichts ist das Wesen der Beiordnung als Vertreter maßgeblich, so dass nicht mehr Gebühren entstehen können, als wenn der Vertretene Rechtsanwalt durchgängig an der Sitzung teilgenommen hätte. Im Ergebnis erachtet die Kammer allerdings die Argumente des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023 , 2 Ws 13/23 , zitiert nach juris) und des Oberlandesgerichts Hamm (OLG Hamm, Beschl. v. 26.05.2020, III- 5 Ws 362/19) aus rein dogmatischen Gründen als überzeugender. Die Kammer verkennt insoweit nicht, dass es in der Praxis regelmäßig so gehandhabt wird, dass die Terminsvertreter sich tatsächlich nicht vollständig in die Sache einarbeiten und lediglich in Terminen eingesetzt werden, in denen das Beweisprogramm entsprechend angepasst wird, dass der Gegenstand der Hauptverhandlung für den betroffenen Angeklagten nicht von wesentlicher Bedeutung sind. Diese anhand des insbesondere in Haftsachen grundsätzlich geltenden Beschleunigungsgrundsatzes bedenkliche, aber in der Praxis notwendige Lösung entspricht nicht dem Wesen der Hauptverhandlung, wie es die StPO vorsieht und vermag an dem rechtlichen Grundsatz, dass die StPO eine Bestellung eines Verteidigers als Vertreter nicht kennt, nichts zu ändern. Ebenso wenig kann die Argumentation, dass es unverhältnismäßig erscheint, dass ein (in der Regel) nicht umfassend eingearbeiteter Rechtsanwalt, eine vollständige Grundgebühr abrechnen kann, mit welcher die erstmalige Einarbeitung in der Sache abgegolten werden soll, aufgrund der geltenden Verfahrensvorschriften nicht zu einem anderen Ergebnis führen.
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Der Anfall eines umfänglichen Gebührenanspruchs kann nach Auffassung der Kammer mithin nur damit verhindert werden, dass die als "Terminsvertreter" bestellten Rechtsanwälte zusichern, dass durch ihre Bestellung keine zusätzlichen Kosten entstehen. Weigern sich die bestellten Rechtsanwälte - wie vorliegend - eine solche Versicherung abzugeben, bewirkt die Beiordnung eine vollwertige Verteidigerbestellung ohne jede inhaltliche Beschränkung mit sämtlichen Verteidigerrechten - so auch einem Anspruch auf Erstattung der Gebühren nach Nrn. 4104, 4113 und 4115 VV RVG - aber auch mit sämtlichen Verteidigerpflichten, so dass ein "vollwertiger" Hauptverhandlungstermin durchgeführt werden kann.
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Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da die Erinnerung gebührenfrei ist.
RechtsgebietePflichtverteidigung, Terminsvertreter, GebührenrechtVorschriftenTeil 4 Abschn. 1 VV RVG