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  • 29.11.2016 · IWW-Abrufnummer 190219

    Landgericht Bielefeld: Beschluss vom 07.09.2016 – 8 Qs 379/16

    1. Das sich aus Art.6 Abs.3 lit. e) MRK ergebende Recht des sprachunkundigen Ausländers auf Unterstützung durch einen Dolmetscher gilt nicht nur für die Hauptverhandlung, sondern soll für das gesamte Verfahren sicherstellen, dass ihm sämtliche Schriftstücke und Erklärungen in dem gegen ihn geführten Verfahren übersetzt werden, auf deren Verständnis er angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben. Hierzu gehört auch die Kenntnis des Rechts, vor der Bestimmung des Pflichtverteidigers einen Rechtsanwalt seines Vertrauens zu benennen.

    2. Ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfolgt, ohne dass dem Beschuldigten die notwendige Gelegenheit gegeben wurde, einen Rechtsanwalt zu bezeichnen, ist die Bestellung aufzuheben und der nunmehr bezeichnete Rechtsanwalt beizuordnen. Die Erstattung der durch den Verteidigerwechsel entstehenden Mehrkosten kann dem neuen Pflichtverteidiger in diesem Fall nicht verweigert werden.


    8 Qs 379/16 VIII Landgericht Bielefeld

    Landgericht Bielefeld

    Beschluss
    In der Strafsache
    gegen pp.
    Verteidiger: Rechtsanwalt
    Dresden

    wegen     Diebstahls

    hat die 8. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld auf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lübbecke vom 01.08.2016 (Az. 4 Ds 149/16)

    durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht und die Vorsitzenden Richterinnen am Landgericht am 07.09.2016 beschlossen:

    Der angefochtene Beschluss wird dahingehend abgeändert, dass die Anordnung entfällt, wonach die durch den Pflichtverteidigerwechsel entstehenden Mehrkosten dem neuen Pflichtverteidiger Rechtsanwalt nicht erstattet werden sollten. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Landeskasse.

    Gründe

    I.

    Mit Anklage vom 09.10.2015 wirft die Staatsanwaltschaft Bielefeld dem Angeklagten vor, am 23.07.2015 in Lübbecke einen gewerbsmäßigen Diebstahl in Tateinheit mit Hausfriedensbruch begangen zu haben. Der Angeklagte ist vorbestraft. Wegen schweren Bandendiebstahls ist er durch Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 19.02.2015 (Az. 27 Ls 2010 Js 54476/14), rechtskräftig seit dem 27.02.2015 zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Der georgische Angeklagte ist der deutschen Sprache nicht mächtig.

    Aufgrund Verfügung des Amtsrichters vom 27.10.2015 wurde ihm die Anklage vom 09.10.2015 nebst einer Übersetzung in die georgische Sprache zugestellt sowie ein - nicht übersetztes - Schreiben mit einer Fristsetzung von 2 Wochen für eine Stellungnahme mit dem Zusatz:

    „Ihnen ist ein Pflichtverteidiger/eine Pflichtverteidigerin zu bestellen. Sie erhalten Gelegenheit, binnen zwei Wochen ab Zustellung dieses Schreibens einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin Ihres Vertrauens zu benennen.

    Falls Sie keinen Rechtsanwalt/keine Rechtsanwältin benennen, wird das Gericht Ihnen einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin auswählen und als Pflichtverteidiger/Pflichtverteidigerin bestellen."

    Nachdem eine Stellungnahme nicht erfolgte, eröffnete das Amtsgericht Lübbecke mit Beschluss vom 04.01.2016 das Hauptverfahren und bestellte Rechtsanwalt pp. aus H. zum Pflichtverteidiger.

    Mit Schriftsatz vom 21.03.2016 meldete sich Rechtsanwalt B. aus Dresden für den Angeklagten und beantragte in dessen Namen, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen. Auf den Hinweis, dass bereits ein Pflichtverteidiger bestellt sei, beantragte Rechtsanwalt B. die Aufhebung der Bestellung des Rechtsanwalts    und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger unter Hinweis darauf, dass dem Angeklagten nicht ausreichend Gelegenheit zur Benennung eines Verteidigers gegeben worden sei; für den Fall, dass dem anders sei, bitte er um Mitteilung, er werde dann auf die durch die Auswechslung des Pflichtverteidigers entstehenden Mehrkosten verzichten.

    Nachdem Rechtsanwalt pp. sich mit seiner Entpflichtung einverstanden erklärt hatte, hat, das Amtsgericht Lübbecke mit dem angefochtenen Beschluss diesen entpflichtet, Rechtsanwalt B. zum Pflichtverteidiger bestellt und angeordnet, die durch den Verteidigerwechsel entstehenden Mehrkosten dem neuen Pflichtverteidiger nicht zu erstatten.

    Gegen diese Anordnung richtet sich die Beschwerde des Angeklagten vom 21.08.2016.

    II.

    Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

    Aus dem Anspruch eines Beschuldigten auf ein faires Verfahren folgt, dass ihm ein Rechtsanwalt seines Vertrauens als Verteidiger beizuordnen ist, sofern nicht wichtige Gründe entgegenstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Kommentar, 58. Auflage, 2015, § 142 Rz.9).

    Das Amtsgericht hat bei der Auswahl des Pflichtverteidigers dem Anspruch des Angeklagten auf einen Rechtsbeistand seines Vertrauens nicht ausreichend Rechnung getragen. Gemäß § 142 Abs.1 S.1 StPO soll dem Beschuldigten vor der Bestellung eines Verteidigers zunächst Gelegenheit gegeben werden, einen Verteidiger seiner Wahl innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu benennen. Diese Sollvorschrift kommt regelmäßig einer Anhörungspflicht gleich, von der nur in seltenen Fällen abgewichen werden darf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rz. 1).

    Mit der dem Angeklagten zusammen mit der Anklageschrift zugestellten Aufforderung zur Benennung eines Verteidigers ist dieser Anhörungspflicht nicht genügt worden, weil diese (anders als die Anklageschrift) dem der deutschen Sprache nicht kundigen Angeklagten entgegen § 187 Abs.1 S.1 GVG nicht in georgischer Übersetzung übermittelt worden ist. Nach dieser Vorschrift zieht das Gericht einen Übersetzer für den Beschuldigten heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Die in § 187 Abs.2 S.1 GVG genannten regelmäßig zu übersetzenden Anordnungen und Entscheidungen, sind beispielhaft genannt und stellen keine abschließende Aufzählung dar; alle Unterlagen, die mit Blick auf die Wahrnehmung der Verteidigung und die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren notwendig sind, müssen grundsätzlich schriftlich übersetzt werden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., zu § 187 GVG Rz.3 m.w.N.). Das sich aus Art.6 Abs.3 lit. e) der Menschenrechtskonvention ergebende Recht des sprachunkundigen Ausländers auf Unterstützung durch einen Dolmetscher gilt nicht nur für die Hauptverhandlung, sondern soll für das gesamte Verfahren sicherstellen, dass ihm sämtliche Schriftstücke und Erklärungen in dem gegen ihn geführten Verfahren übersetzt werden, auf deren Verständnis er angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben (vgl. BGH, 3 StR 6/00; Beschluss vom 26.10.2000, OLG Dresden, 2 Ws 96/11, Beschluss vom 19.04.2011, zitiert nach juris). Hierzu gehört die Kenntnis des Rechts, vor der Bestimmung des Pflichtverteidigers einen Rechtsanwalt seines Vertrauens zu benennen. Die mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache bei einem Ausländer darf nicht zu einer Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führen (vgl. BVerfGE 40, 95, Beschluss vom 10.06.1975, zitiert nach juris).

    Ist die Bestellung erfolgt, ohne dass dem Beschuldigten die notwendige Gelegenheit gegeben wurde, einen Rechtsanwalt zu bezeichnen, ist die Bestellung aufzuheben und der nunmehr bezeichnete Rechtsanwalt beizuordnen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., zu § 142 Rz.19 m.w.N.).

    Für die angefochtene Einschränkung hinsichtlich der Gebühren des neuen Pflichtverteidigers besteht kein Raum; ein entsprechender Verzicht (der grundsätzlich zulässig ist — vgl. Beschluss des OLG des Landes Sachsen-Anhalt vom 27.4.2010, Az.1 Ws 144/10, Beschluss des OLG Braunschweig vom 28.07.2008, Az. Ws 262/08, zitiert nach juris) ist von dem neuen Pflichtverteidiger auf der Basis der angenommenen Verletzung des Anhörungsrechts des Angeklagten aus § 142 StPO nicht erklärt worden.

    III.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog.