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  • 19.04.2022 · IWW-Abrufnummer 228727

    Landgericht Oldenburg: Beschluss vom 28.03.2022 – 5 Qs 108/20

    1. Private Ermittlungen sind in der Regel nicht notwendig. Der Betroffene/Angeklagte muss vielmehr die Möglichkeiten, gegebenenfalls Beweisanträge im Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren zu stellen, grundsätzlich ausschöpfen, bevor private Sachverständigengutachten eingeholt werden. Eine Erstattungsfähigkeit kommt demgegenüber ausnahmsweise in Betracht, wenn sich die Prozesslage des Betroffenen/Angeklagten aus seiner Sicht bei verständiger Betrachtung der Beweislage ohne solche eigenen Ermittlungen alsbald erheblich verschlechtert hätte oder wenn komplizierte technische Fragen betroffen sind, so dass insbesondere die Einholung eines Privatgutachtens im Interesse einer effektiven Verteidigung als angemessen und geboten erscheinen durfte.

    2. Die Kosten für ein privat eingeholtes Sachverständigengutachten sind nicht nach den Grundsätzen des JVEG zu erstatten. Diese können allerdings als Richtlinie herangezogen werden, auf deren Grundlage der privatrechtlich vereinbarte Stundensatz einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen ist.

    3. Durch ein anthropologisches Sachverständigengutachten wird kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet betroffen.


    LG Oldenburg

    Beschluss

    5 Qs 108/20

    In der Strafsache
    gegen pp.

    Verteidiger:
    Rechtsanwalt xxx

    wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

    hat das Landgericht - 5. Große Strafkammer - Oldenburg durch die unterzeichnenden Richter am 28.03.2022 beschlossen:

    Auf die sofortige Beschwerde der vormals Betroffenen und jetzigen Beschwerdeführerin wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Cloppenburg vom 14.02.2020 dahingehend geändert, dass die der Beschwerdeführerin auf Grund des vollstreckbaren Beschlusses des Amtsgerichts Cloppenburg vom 14.06.2019 zu erstattenden notwendigen Auslagen auf insgesamt 1.395,29 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten Über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 17.09.2019 festgesetzt werden.

    Die weitergehende sofortige Beschwerde wird verworfen.

    Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Allerdings wird die Gebühr um 50 % ermäßigt. Die der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen werden zu 50 % der Staatskasse auferlegt.

    Gründe:

    Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 14.07.2019 das gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren gemäß § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt und die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin der Staatskasse auferlegt. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 14.02.2020 hat es die der ihr zu erstattenden notwendigen Auslagen auf 596,79 € nebst Zinsen festgesetzt. Hiergegen richtet sich deren mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 19.03.2020 eingelegte sofortige Beschwerde, auf deren Ausführungen verwiesen wird.

    Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache im erkannten Umfang Erfolg.

    Die vom Verteidiger beantragte Grundgebühr (Nr. 5100 VV RVG) sowie die Verfahrensgebühren (Nr. 5103 und 5109 VV RVG) waren erheblich übersetzt und damit unbillig. Hinsichtlich der Gebühren nach Nr. 5100 und 5103 VV RVG waren lediglich die im angegriffenen Beschluss festgesetzten Gebühren angemessen und ausreichend. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen der Bezirksrevisorin in ihrer Stellungnahme vom 21.11.2019 verwiesen, denen die Kammer folgt. Insbesondere kann keineswegs von einer überdurchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit für die Beschwerdeführerin ausgegangen werden. Objektiv drohte ausweislich des Bußgeldbescheides lediglich eine Geldbuße von 180 €. Den ursprünglich im Anhörungsschreiben erhobenen Vorwurf nach Nr. 12.7.3 BKat (bei einer Geschwindigkeit von mehr als 130 kam weniger als 3/10 des halben Tachowertes Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug gehalten zu haben) hat die Bußgeldbehörde von sich aus unmittelbar in einen Vorwurf nach Nr. 12.7.2 BKat (weniger als 4/10 des halben Tachowertes) korrigiert, sodass kein Fahrverbot drohte. Im Übrigen hätte auch dieses nicht die Annahme einer überdurchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit gerechtfertigt, da gravierende Auswirkungen für die Beschwerdeführerin weder aktenersichtlich noch vorgetragen sind.

    Angesichts der allerdings überdurchschnittlichen Tätigkeit des Verteidigers während des gerichtlichen Verfahrens insbesondere im Hinblick auf die Überprüfung der Messung war unter Berücksichtigung der im Übrigen in der Stellungnahme der Bezirksrevisorin zutreffend genannten Bemessungsfaktoren des § 14 RVG jedoch eine Verfahrensgebühr nach Nr. 5109 VV RVG in Höhe der Mittelgebühr als angemessen festzusetzen.

    Grundsätzlich gehören auch Kosten für das von der Beschwerdeführerin eingeholte Gutachten des Sachverständigen Grün (VUT Sachverständigen GmbH & Co. KG) zu den nach § 464a Abs. 2 StPO zu erstattenden notwendigen Auslagen. Zwar sind private Ermittlungen in der Regel nicht notwendig, weil Bußgeldbehörde und Gericht bereits von Amts wegen zur Sachaufklärung verpflichtet sind. Die Möglichkeiten, gegebenenfalls Beweisanträge im Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren zu stellen, muss der Betroffene bzw. Angeklagte daher grundsätzlich ausschöpfen, bevor private Sachverständigengutachten eingeholt werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 464a Rn. 16 m.w.N.). Eine Erstattungsfähigkeit kommt demgegenüber ausnahmsweise in Betracht, wenn sich die Prozesslage des Betroffenen aus seiner Sicht bei verständiger Betrachtung der Beweislage ohne solche eigenen Ermittlungen alsbald erheblich verschlechtert hätte oder wenn komplizierte technische Fragen betroffen sind, so dass insbesondere die Einholung eines Privatgutachtens im Interesse einer effektiven Verteidigung als angemessen und geboten erscheinen durfte (Gieg, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl., § 464a Rn. 7 m.w.N.).

    So ist es hier: Zu Recht weist der Verteidiger darauf hin, dass die Bußgeldrichterin bereits mit der Ladung zum Hauptverhandlungstermin darauf hingewiesen hatte, dass ihrer Auffassung nach keine Zweifel an der Richtigkeit der Messung und Zuordnung des Fahrzeuges der Beschwerdeführerin bestanden haben. Ohne die Anbringung konkreter Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung wäre daher damit zu rechnen gewesen, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO ablehnen würde. Zur Überprüfung auf solche Zweifel war angesichts der technisch komplizierten Materie aber die Überprüfung durch einen Sachverständigen notwendig.

    Die Sachverständigenkosten sind allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe zu erstatten. Zwar sind die Kosten für ein privat eingeholtes Sachverständigengutachten nicht nach den Grundsätzen des JVEG zu erstatten. Diese können allerdings als Richtlinie herangezogen werden, auf deren Grundlage der privatrechtlich vereinbarte Stundensatz einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen ist (Beschl. der Kammer v. 17.01.2019 — 5 Qs 444/18, BeckRS 2019, 954 m.w.N.). Nach § 9 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 Nr. 38 JVEG in seiner bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung betrug der Stundensatz für Sachverständige im Bereich Verkehrsregelungs- und -überwachungstechnik 85 € und damit deutlich weniger als die vom Sachverständigen Grün geltend gemachten 140 E. Zwar ist nicht zwingend davon auszugehen, dass es einem Betroffenen möglich ist, einen geeigneten Sachverständigen zu den im JVEG vorgesehenen Vergütungssätzen zu gewinnen. Weicht der Stundensatz jedoch — wie hier — um 20 % oder mehr vom Stundensatz der entsprechenden Honorargruppe des JVEG ab, bedarf es für die Plausibilitätsprüfung-besonderer Darlegungen durch den Anspruchsteller (KG, Beschl. v. 20.02.2012 — 1 Ws 72/09, juris), die hier aber nicht erfolgt sind. Auch ist es nach Erfahrung der Kammer im hiesigen Bezirk durchaus möglich gewesen, geeignete Sachverständige, die auf Basis eines Stundensatzes von 100 EUR abrechnen, zu finden. Die erstattungsfähigen Gutachterkosten sind bei der abgerechneten Arbeitszeit von 5 Stunden entsprechend auf 500 € (netto) reduziert worden. Die übrigen insoweit geltend gemachten Kosten erscheinen demgegenüber grenzwertig, aber noch vertretbar.

    Nicht erstattungsfähig sind hingegen die der Beschwerdeführerin angefallenen Kosten für ein anthropologisches Gutachten. Insoweit ist kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet betroffen (vgl. LG Essen, Beschl. v. 19.07.2021 — 27 Qs 35/21, 27 Qs - 95 Js 1037/19 - 35/21, juris). Angesichts der guten Bildqualität des Messfotos wäre im Rahmen der Hauptverhandlung zu klären gewesen, ob die Beschwerdeführerin hätte identifiziert werden können. Dies ist grundsätzlich ohne die Hilfe eines Sachverständigen möglich, der lediglich im Zweifelsfalle zu beauftragen gewesen wäre. Jedenfalls nach Aktenlage haben hierfür aber keine Anhaltspunkte bestanden. Bezeichnenderweise teilt der Verteidiger auch das Ergebnis des von ihm privat eingeholten Gutachtens nicht mit.

    Insgesamt hat die Kammer folgende Gebühren und Auslagen festgesetzt:

    Grundgebühr (Nr. 5100 VV RVG)    60,00 €
    Verfahrensgebühr (Nr. 5103 VV RVG)    95,00 €
    Verfahrensgebühr (Nr. 5109 VV RVG)    160,00 €
    Aktenversendungspauschale    24,00 €
    Erledigungsgebühr (Nr. 5115 VV RVG)    160,00 €
    Post- und Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG)    40,00 €
    Dokumentenpauschale für Kopien (Nr. 7000 Nr. 1 VV RVG)    22,50 €
    Zwischensumme    561,50 €
    Umsatzsteuer (Nr. 7008 VV RVG)    106,69 €
    Messgutachten VUT    727,10 €
    Anthropologisches Gutachten    - €
    Gesamtbetrag    1.395,29 €

    Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 473 Abs. 1 Angesichts des Teilerfolgs der sofortigen Beschwerde hat die Kammer die Gebühr ermäßigt und zugleich 50 % der notwendigen Auslagen der Betroffenen der auferlegt.