09.06.2023 · IWW-Abrufnummer 235684
Oberlandesgericht Karlsruhe: Beschluss vom 09.02.2023 – 2 Ws 13/23
1. Der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, beschränkt sich nicht auf die Terminsgebühren, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirktlichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 des Vergütungsverzeichnisses in Anlage 1 zu § 2 ABs. 2 RVG.
2. Die auf die Wahrnehmung eines gerichtlichen Termins beschränkte, wegen Verhinderung des bereits bestellten Verteidigers notwendige Beiordnung eines (weiteren) Verteidigers ist nicht als "Einzeltätigkeit" im Sinne von Teil 4 Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses anzusehen.
Tenor:
- Auf die Beschwerde des Verteidigers, Rechtsanwalt T., wird der Beschluss der 6. Großen Jugendkammer des Landgerichts F. vom 08. Dezember 2022 aufgehoben und der Kostenansatz des Amtsgerichts F. vom 15.10.2021 dahin abgeändert, dass zugunsten des Beschwerdeführers eine Vergütung von weiteren 213,01 Euro festgesetzt wird.
- Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Dem Beschuldigten war in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft F. mit Beschluss des Amtsgerichts - Ermittlungsrichter - F. vom 17.08.2021 Rechtsanwältin C. als Pflichtverteidigerin bestellt worden. Am 24.08.2021 erließ das Amtsgericht - Ermittlungsrichter - F. Haftbefehl gegen den Beschuldigten, aufgrund dessen er noch am selben Tag festgenommen wurde. Zu dem daraufhin anberaumten Termin zur Haftbefehlseröffnung konnte die Pflichtverteidigerin wegen Urlaubsabwesenheit nicht erscheinen, weshalb das Amtsgericht mit Beschluss vom 24.08.2021 den Beschwerdeführer, RA T., "zur Haftbefehlseröffnung" als Pflichtverteidiger bestellte, nachdem der Beschuldigte sich im Termin mit der Beiordnung des bereits anwesenden Beschwerdeführers bzw. mit einer Auswahl des Pflichtverteidigers durch das Gericht einverstanden erklärt hatte. Im Termin machte der Beschuldigte keine Angaben zur Sache. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Abschließend beantragte der Verteidiger die Aufhebung, hilfsweise die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen geeignete Auslagen. Indes hielt das Amtsgericht den Haftbefehl aufrecht und setzte ihn in Vollzug.
Mit Schriftsatz vom 25.08.2021 beantragte Rechtsanwalt T. für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger des Beschuldigten, dem er "nur zur Eröffnung des Haftbefehls als Pflichtverteidiger beigeordnet" worden sei, die Festsetzung von insgesamt 474,81 Euro. Der Betrag setzte sich zusammen aus einer Grundgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4101 VV RVG in Höhe von 216,00 Euro, einer Terminsgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4103 VV RVG in Höhe von 183,00 Euro und die 19%ige Mehrwertsteuer in Höhe von 75,81 Euro.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle setzte am 15.10.2021 lediglich einen Betrag von 285,60 Euro als Vergütung fest. Für die Beiordnung zur Haftbefehlseröffnung sei lediglich eine Gebühr für eine "Einzeltätigkeit" gemäß Nr. 4310 VV RVG in Höhe von 220,00 Euro sowie die Auslagenpauschale in Höhe von 20,00 Euro festsetzungsfähig - zuzüglich Mehrwertsteuer. Der Gesamtbetrag von 285,00 Euro wurde an den Beschwerdeführer überwiesen.
Gegen diesen Kostenfestsetzungsbeschluss legte der Beschwerdeführer mit am 15.11.2021 beim Amtsgericht eingekommenem Schreiben das Rechtsmittel der Erinnerung ein und korrigierte zugleich seinen Festsetzungsantrag vom 25.08.2021 dahingehend, dass er zusätzlich zur Grund- und Terminsgebühr noch eine Auslagenpauschale in Höhe von 20,00 Euro geltend machte, so dass sich zuzüglich der gesetzlichen Mehrwertsteuer ein festzusetzender Gesamtbetrag von 498,62 Euro, abzüglich der bereits gezahlten 285,60 Euro mithin noch ein zu zahlender Restbetrag von 213,06 Euro ergebe.
Nach Abgabe einer Stellungnahme durch den Bezirksrevisor verwarf das Amtsgericht F. mit Beschluss vom 20.12.2021 die Erinnerung des Beschwerdeführers als unbegründet und schloss sich der sowohl von der Urkundsbeamtin als auch vom Bezirksrevisor vertretenen Auffassung an, dass dem Beschwerdeführer lediglich eine Verfahrensgebühr für eine Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG zustehe.
Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde des Verteidigers hat die zuständige 6. Große Jugendkammer des Landgerichts F. - nach Übertragung der Entscheidung gemäß §§ 56 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache auf die Kammer - mit Beschluss vom 08.12.2022 als unbegründet zurückgewiesen. Die weitere Beschwerde gegen diese Entscheidung hat das Landgericht wegen der zur Entscheidung stehenden Frage von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 6 Satz 1 RVG zugelassen.
II.
Die nach Zulassung der weiteren Beschwerde durch die Kammer, die das Beschwerdegericht bindet (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 4 1. Halbsatz RVG), zulässige, fristgerecht eingelegte weitere Beschwerde, über die der Senat in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden hat (Umkehrschluss aus §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 1, 2. Halbsatz) erweist sich in der Sache als begründet.
1. Rechtsanwalt T. ist dem Beschuldigten mit Beschluss des Amtsgerichts F. vom 24.08.2021 für den Termin zur Haftbefehlseröffnung, nachdem ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vorlag und weil die zuvor bereits bestellte Pflichtverteidigerin an der Wahrnehmung des für diesen Tag angesetzten Termins zur Haftbefehlseröffnung verhindert war, als Pflichtverteidiger bestellt worden.
2. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob der wegen der Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Termin zur Haftbefehlseröffnung, einen Haftprüfungstermin oder für einen oder mehrere einzelne Hauptverhandlungstage beigeordnete Verteidiger als Vergütung für seine Tätigkeit nur die Terminsgebühr erhält, oder ob ihm darüber hinaus auch eine Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zusteht (vgl. die Nachweise zum Streitstand bei Burhoff, in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021 Nr. 4100, 4101 VV RVG, Rn. 5; Knaudt in BeckOK RVG, 58. Ed. Stand 01.12.2022, RVG VV Vorbemerkung Rn. 19- 22). Nach ganz überwiegender vom Senat für zutreffend erachteter Auffassung ist allerdings die zeitlich beschränkte Beiordnung eines Verteidigers für einen gerichtlichen Termin nicht - wie vorliegend von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle und ihr folgend vom Amts- und Landgericht angenommen - als "Einzeltätigkeit" im Sinne von Teil 4 Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses anzusehen. Denn der, wenn auch zeitlich beschränkt, bestellte Verteidiger, dem in diesem Verfahrensabschnitt die eigenverantwortliche, umfassende Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten/Angeklagten obliegt, ist einem (gewählten oder bestellten) "Beistand" im Sinne von Nr. 4301 Nr. 4 VV RVG, dessen Auftrag sich auf die Erbringung bestimmter Beistandsleistungen beschränkt, nicht gleichzustellen (vgl. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, VV Einl. Vorb. 4.1. Rn. 12 mit Rechtsprechungsnachweisen; Knaudt in BeckOK RVG, 58. Ed., RVG VV 4301 Rn. 12; KG NStZ-RR 2005, 327 [KG Berlin 29.06.2005 - 5 Ws 164/05]; OLG Dresden, Beschluss vom 16.05.2007 - 2 Ws 167/07 -, BeckRS 2008, 7871; OLG Karlsruhe, NJW 2008, 2935 [OLG Karlsruhe 16.07.2008 - 3 Ws 281/08]; OLG München, NJOZ 2014, 1478; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2015, 95 [OLG Nürnberg 13.11.2014 - 2 Ws 553/14]; OLG Saarbrücken, NJOZ 2015, 1166; a.A.: OLG Stuttgart, Beschluss vom 23.01.2023 - 4 Ws 13/23 -, juris; LG Leipzig, Beschluss vom 13.06.2019 - 1 Qs 114/19 -, BeckRS 2019, 23001).
a) Nach einer Ansicht sei der lediglich für einen gerichtlichen Termin als Vertreter des verhinderten Pflichtverteidigers beigeordnete Verteidiger gebührenrechtlich nicht dem zuvor bereits für das gesamte Verfahren beigeordneten Pflichtverteidiger gleichgestellt. Der zeitlich befristet bestellte Verteidiger sei nicht als weiterer Pflichtverteidiger, sondern lediglich als Vertreter des verhinderten Pflichtverteidigers bestellt, weshalb insgesamt nur ein Pflichtverteidigermandat abzurechnen sei (vgl. etwa OLG Celle, Beschlüsse vom 19.09.2018 - 3 Ws 221/18 -, BeckRS 2018, 23280, und vom 19.12.2008 - 2 Ws 365/08 -, NStZ-RR 2009, 158; KG, Beschluss vom 18.02.2011 -1 Ws 38/09 -, NStZ-RR 2011, 295; OLG Brandenburg, Beschluss vom 25.08.2009 - 2 Ws 111/09 -, BeckRS 2010, 529; OLG Koblenz, Beschluss vom 16.10.2012 - 2 Ws 759/12 -, BeckRS 2012, 22226; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.05.2014 - 1 Ws 195/14 -, BeckRS 2014, 13328). Dabei wird die Frage, ob die Terminsgebühr in der Person des originären Pflichtverteidigers (so das OLG Koblenz, a.a.O.) oder in der Person des Vertreters (so das KG, a.a.O.) entstanden ist, unterschiedlich beantwortet oder offen gelassen (so das OLG Oldenburg, a.a.O.). Lasse sich ein Verteidiger in einem Termin durch einen anderen Verteidiger - mit Zustimmung des Gerichts - vertreten, könne dies nicht dazu führen, dass Grund- und Verfahrensgebühr mehrfach entstehen. Andernfalls könne ein Pflichtverteidiger, der sich an verschiedenen Sitzungstagen durch verschiedene Vertreter vertreten lasse, zahlreiche Gebührentatbestände entstehen lassen, ohne dass dafür ein sachlicher Grund bestünde (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 16.10.2012, a.a.O. m.w.N. aus der Rechtsprechung).
b) Nach anderer, vom Senat für zutreffend erachteter Auffassung, beschränkt sich der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, nicht auf die Terminsgebühren, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 des Vergütungsverzeichnisses in Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2008, 2935 [OLG Karlsruhe 16.07.2008 - 3 Ws 281/08]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.10.2008 - 1 Ws 318/08 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 23.03.2006 - 3 Ws 586/05 -, juris; OLG Köln, Beschluss vom 26.03.2010 - 2 Ws 129/10 -, BeckRS 2010, 16664; OLG Bamberg, NStZ-RR 2011, 223; OLG München, a.a.O.; OLG Nürnberg, a.a.O.; OLG Saarbrücken, a.a.O.; OLG Jena, Beschluss vom 14.04.2021 - (S) AR 62/20 -, BeckRS 2021, 9651).
Denn dem anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen gerichtlichen Termin beigeordneten Verteidiger ist für den in der Beiordnung bezeichneten Verfahrensabschnitt die Verteidigung ohne jede inhaltliche Beschränkung mit sämtlichen Verteidigerrechten und -pflichten übertragen. Eine Beiordnung eines Verteidigers lediglich als "Vertreter" des bereits bestellten Verteidigers sieht die StPO nicht vor. Dies folgt bereits daraus, dass der bestellte Verteidiger eine Untervollmacht für die Verteidigung des Angeklagten einem anderen Rechtsanwalt nicht erteilen kann, auch nicht mit Zustimmung des Gerichts, weil die Bestellung zum Verteidiger auf seine Person beschränkt ist (vgl. BGH StV 1981, 393; StV 2011, 650 und Beschluss vom 15.01.2014 - 4 StR 346/13 -, juris). Eine solche Vertretung in der Verteidigung ist nur dem entweder amtlich (§ 53 Abs. 2 Satz 3 BRAO) oder vom Verteidiger selbst (§ 53 Abs. 2 Satz 1 oder 2 BRAO) bestellten allgemeinen Vertreter des Pflichtverteidigers möglich (BGH, Beschluss vom 15.01.2014, a.a.O.). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers wird vielmehr ein eigenständiges, öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Eine solche umfassende, eigenverantwortliche Verteidigung setzt auch eine Einarbeitung in den Fall voraus, ohne die eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist. Gerade für diese erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall entsteht aber die Grundgebühr. Eine Unterscheidung danach, welchen Aufwand diese Einarbeitung im Einzelfall erfordert (so das OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.02.2011 - 4 Ws 195,10 -, NJOZ 2012, 213) verbietet sich schon deshalb, weil es sich bei den Gebühren des Pflichtverteidigers nach Anlage 1 Teil 4 Abschnitt 1 zu § 2 Abs. 2 RVG um Festgebühren handelt, die grundsätzlich unabhängig von dem im Einzelfall erforderlichen Aufwand anfallen. Der Anspruch des wegen Verhinderung des zuvor bestellten Verteidigers (zeitlich beschränkt) bestellten weiteren Verteidigers scheitert auch nicht daran, dass die Gebühr aus VV Nr. 4100/4101 pro Rechtsfall nur einmal entsteht und auf Seiten des ursprünglich bestellten Pflichtverteidigers bereits entstanden ist; denn die Einmaligkeit der Gebühr pro Rechtsfall ist ausschließlich personen- und nicht verfahrensbezogen zu verstehen (vgl. Knaudt in BeckOK RVG, a.a.O. RVG VV Vorbemerkung, Rn. 20). Auch im Falle eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a StPO steht die Grundgebühr sowohl dem zunächst bestellten Pflichtverteidiger als auch dem an seiner Stelle bestellten neuen Pflichtverteidiger zu.
c) Dem Beschwerdeführer steht demnach für seine am 24.08.2021 erbrachte Pflichtverteidigertätigkeit die Grundgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4101 VV RVG in Höhe von 216,00 Euro, die Terminsgebühr mit Zuschlag nach Nr. 4103 VV RVG in Höhe von 183,00 Euro und die Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen nach Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 20,00 Euro zu, woraus sich unter Berücksichtigung der Mehrwertsteuer ein Gesamtbetrag von 498,61 Euro ergibt. Der Haftzuschlag entsteht auch dann, wenn der Mandant zunächst nur vorläufig festgenommen wurde (vgl. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. RVG VV 4101 Rn. 25; Felix in Toussaint, Kostenrecht, 52. Aufl. 2022, Vorbemerkung 4, Rn. 33; Senat, Beschluss vom 07.08.2017 - 2 Ws 176/17 -, BeckRS 2017, 120182). Nach Abzug der bereits ausgezahlten 285,60 Euro ergibt sich somit eine noch festzusetzende weitere Vergütung in Höhe von 213,01 Euro.
Gemäß § 56 Abs. 2 S. 2 und 3 RVG ist das Verfahren der Beschwerde gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.