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  • 02.12.2024 · IWW-Abrufnummer 245162

    Landgericht Münster: Urteil vom 24.01.2024 – 1 Qs 4/24

    Bei der Entscheidung über die Anwendung des § 74 JGG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, deren Maßstab es einerseits ist, eine wirtschaftliche Gefährdung des Angeklagten zu vermeiden, ihm andererseits durch die Auferlegung der Kosten zu zeigen, dass er für die Folgen seines Tuns einzustehen hat. Bei der Entscheidung ist dem Tatrichter ein weiter Ermessenspielraum zuzubilligen. Bei dieser Ermessenentscheidung ist eine zukunftsorientierte Betrachtungsweise geboten, in die sowohl die finanziellen Verhältnisse des Angeklagten, als auch seine Lebensumstände einzubeziehen sind.


    Beschluss

    In dem Beschwerdeverfahren
    pp.

    hat die 1. Strafkammer — Jugendkammer — des Landgerichts Münster als Beschwerdekammer auf die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung im Urteil des Amtsgerichts Coesfeld vom 26. Juli 2023 —Az: 3b Ls-83 Js 1939/22-62/22 —durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, die Richterin und die Richterin am Landgericht am 24. Januar 2024 beschlossen:

    Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers als unbegründet verworfen.

    I.

    Gründe:

    Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Kostenentscheidung in dem eingangs genannten Urteil, durch das er wegen Körperverletzung zu 100 Stunden Sozialdienst nach näherer Weisung der Jugendgerichtshilfe, um dadurch die Auszahlung eines Betrages in Höhe von 1.200 Euro durch den Opferhilfe e.V. an den durch die Körperverletzung Geschädigten zu bewirken, sowie zu einer Zahlung von 1.200 Euro in monatlichen Raten zu je 100 Euro an den Geschädigten verurteilt worden ist. Das erkennende Gericht hat „mit Rücksicht auf das Einkommen des Angeklagten [aus dessen ungelernter Tätigkeit in einem Malerbetrieb], mit dem er noch im Elternhaus wohnend seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten muss, aus erzieherischen Gründen" von einer Anwendung des § 74 JGG abgesehen und dem Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens gemäß § 465 Abs. 1 StPO auferlegt.

    II.

    Die mit Schreiben vom 02.08.2023, eingegangen beim Amtsgericht Rheine am selben Tag, statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung (§§ 311, 464 Abs. 3 StPO) bleibt ohne Erfolg. Die Kostenentscheidung, nach welcher der Angeklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, entspricht der Rechtslage (§ 465 Abs. 1 StPO). Die Entscheidung des Amtsgerichts, wonach von einer Anwendung des § 74 JGG aus erzieherischen Gründen abgesehen wurde, ist sachgerecht.

    Die Vorschrift des § 74 JGG eröffnet dem Gericht als Ausnahme von den allgemeinen Kostengrundsätzen der StPO die Möglichkeit, aus erzieherischen Gründen und Gründen der Billigkeit von der Auferlegung der Kosten und Auslagen ganz oder teilweise abzusehen, so dass diese die Staatskasse zu tragen hat (OLG Hamm NJW 1963, 1168; OLG Jena NStZ-RR 1998, 153). Zweck der Vorschrift ist insbesondere, den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden entsprechend des Präventionsgedankens im Jugendstrafrecht vor einer zusätzlichen und oftmals besonders schädlichen wirtschaftlichen Beeinträchtigung durch eine Art „Zusatzstrafe" zu schützen und eine positive Entwicklung zu ermöglichen (OLG Köln BeckRS 2010, 00435; KG BeckRS 2006, 13663; OLG Jena NStZ-RR 1998, 153). Bei der Entscheidung über die Anwendung des § 74 JGG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, deren Maßstab es einerseits ist, eine wirtschaftliche Gefährdung des Angeklagten zu vermeiden, ihm andererseits durch die Auferlegung der Kosten zu zeigen, dass er für die Folgen seines Tuns einzustehen hat (BGI-1BeckRS 2016, 05080; KG BeckRS 2006, 13663). Bei der Entscheidung, die aus Gründen der Billigkeit unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens zu treffen ist (OLG Hamm NJW 1963, 1168), ist dem Tatrichter ein weiter Ermessenspielraum zuzubilligen (KG BeckRS 2008, 10468). Bei dieser Ermessenentscheidung ist eine zukunftsorientierte Betrachtungsweise geboten, in die sowohl die finanziellen Verhältnisse des Angeklagten, als auch seine Lebensumstände einzubeziehen sind (vgl. OLG Düsseldorf BeckRS 2011, 05965; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 24; ins-gesamt zum Vorstehenden BeckOK JGG/Pawlischta, 31. Ed. 1.11.2023, JGG § 74 Rn. 4 ff.).
    Der Beschwerdeführer war im Urteilszeitpunkt 18 Jahre. und vier Monate, heute ist er 18 Jahre und zehn Monate alt. Er ist schuldenfrei. Im Zeitpunkt des genannten Urteils ging der Angeklagte einer ungelernten Tätigkeit in einem Malerbetrieb nach. Heute hat er einen Minijob als Verkäufer in einer Tankstelle. Bei einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden verdient er aktuell monatlich 500 Euro. Er wohnt weiterhin mietfrei bei seinen Eltern und zahlt ebenfalls weiterhin monatlich lediglich ein Kostgeld in Höhe von 150 Euro. Er war und ist uneingeschränkt arbeitsfähig und beabsichtigt, künftig auch in Vollzeit zu arbeiten. Aktuell hat er sich um eine entsprechende Arbeitsstelle beworben.

    Vor diesem Hintergrund ist unter Zugrundelegung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der angegriffenen Kostenentscheidung und bei der gebotenen zukunftsorientierten Betrachtungsweise eine dem Erziehungsgedanken schadende finanzielle Belastung durch die getroffene Kostenentscheidung nicht zu befürchten. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung berufstätig und hatte nur geringe Ausgaben für seinen Lebensunterhalt. Gründe, warum für die Zukunft von einer nur eingeschränkten Erwerbstätigkeit auszugehen sein sollte, ergeben sich nicht aus der damaligen Aktenlage. Dass eine Kostentragungspflicht eine zusätzliche Belastung darstellt, liegt zwar in der Natur der Sache. Diese hat das Amtsgericht jedoch auch berücksichtigt und keine über die verhängte Rechtsfolge hinausgehende Maßnahme angeordnet. Die sich aus der Gesamtschau von Rechts- und Kostenfolge ergebende Belastung ist vorliegend angesichts der im Urteil festgestellten persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers damit nicht derart gravierend, dass sie den Grad einer eigenständigen weiteren Strafe erreicht. Dass der Beschwerdeführer die Kosten des durch seine Straffälligkeit verursachten Strafverfahrens zu tragen hat, ist vorliegend vielmehr allein die gesetzmäßige Konsequenz einer auf dem eigenen Fehlverhalten beruhenden Verurteilung.

    Die spätere Beendigung der Tätigkeit im Malerbetreib durch den Beschwerdeführer und die Aufnahme eines Minijobs führt angesichts § 464 Abs. 3 S. 2 StPO zu keiner anderen Bewertung. Die Kammer erlaubt sich gleichwohl die Anmerkung, dass auch unter Zugrundelegung des aktuellen Einkommens in Höhe von monatlich 500 Euro angesichts der nur geringen Ausgaben des Beschwerdeführers für seinen Lebensunterhalt und seiner weiterhin bestehenden uneingeschränkten Erwerbsfähigkeit, die auch eine Arbeit in Vollzeit erlaubt, worum sich der Beschwerdeführer nunmehr auch bemüht, ein ausnahmsweises Absehen von der Kostentragungspflicht aus pädagogischen Gründen nicht angezeigt ist. Tatsächlich bietet die Kostenbelastung dem Beschwerdeführer, der bislang mit Blick auf seine Ausbildung kaum Durchhaltevermögen erkennen ließ und dessen beruflicher Lebensweg bislang unstet war, die Chance, auch selbst die Notwendigkeit der Aufnahme einer Arbeit von nicht nur geringem Umfang oder einer Ausbildung zu erkennen und sich hierzu zu motivieren.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 StPO. Anlass für eine Freistellung von den Kosten des Beschwerdeverfahrens nach den §§ 109, 74 JGG bestand aus den genannten Gründen nicht.

    RechtsgebieteJGG-Verfahren, KostenrechtVorschriften§ 74 JGG