27.09.2011 · IWW-Abrufnummer 113169
Amtsgericht Bremen: Beschluss vom 06.01.2011 – 82 Ls 230 Js 8347/10 (8/10)
Bei der Beurteilung, was zur Bearbeitung der Sache, insbesondere auch zur Vermeidung von unnötigen Verzögerungen, sachgemäß ist und welcher Aktenbestandteil deshalb zu kopieren ist, ist auf die Sicht abzustellen, die ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Rechtsanwalt haben kann, wenn er sich mit der betreffenden Gerichtsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch erforderlichen eigenen Bearbeitung der Sache auftreten können. Dabei darf kein kleinlicher Maßstab angelegt werden.
82 Ls 230 Js 8347/10 (8/10)
Tenor:
Auf die Erinnerung der Verteidigerin vom 21.10.2010 wird die Kostenfestsetzung der Rechtspflegerin des Amtsgerichts Bremen vom 14.10.2010 dahingehend abgeändert, dass weitere 392,82 EUR an die beigeordnete Verteidigerin zu zahlen sind.
Gründe
Die Verteidigerin wurde mit Beschluss vom 03.08.2010 beigeordnet. Mit Verfügung vom 19.08.2010 wurde der Verteidigerin antragsgemäß für die Dauer von drei Tagen Akteneinsicht gewährt. Mit Schriftsatz vom 13.09.2010 beantragte die Verteidigerin folgende Gebühren festzusetzen:
Grundgebühr (4100 VV) 132,00 EUR
Verfahrensgebühr (4106 VV) 112,00 EUR
Dokumentenpauschale (7000 VV) (2.084 Seiten) 330,10 EUR
Nettobetrag 574,10 EUR
19% Umsatzsteuer (7008 VV) 109,08 EUR
Bruttobetrag 683,18 EUR
Die Rechtspflegerin ließ die Verteidigerin auffordern, die gefertigten 2.084 Kopien zur Überprüfung einzureichen. Mit Beschluss vom 14.10.2010 setzte die Rechtspflegerin unter Absetzung der Dokumentenpauschale und entsprechender Kürzung der Umsatzsteuer 290,36 EUR fest. Zur Begründung der Absetzung der Dokumentenpauschale führte sie aus, dass eine Prüfung der Notwendigkeit der Kopien nicht habe erfolgen können, weil diese trotz Aufforderung nicht eingereicht worden seien. Gegen diesen Beschluss wendet sich die Verteidigerin mit der Beschwerde vom 21.10.2010. Die Rechtspflegerin half nicht ab.
Die Beschwerde vom 21.10.2010 ist als Erinnerung gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) zulässig und begründet.
Gemäß Nr. 7000 Ziff. 1.a) der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (VV RVG) kann die Verteidigerin für Ablichtungen aus Behörden- und Gerichtsakten, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten ist, eine Pauschale geltend machen, die für die ersten 50 abzurechnenden Seiten je Seite 0,50 EUR und für jede weitere Seite 0,15 EUR beträgt. Bei der Beurteilung, was zur Bearbeitung der Sache, insbesondere auch zur Vermeidung von unnötigen Verzögerungen, sachgemäß ist, ist auf die Sicht abzustellen, die ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Rechtsanwalt haben kann, wenn er sich mit der betreffenden Gerichtsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch erforderlichen eigenen Bearbeitung der Sache auftreten können. Dabei darf kein kleinlicher Maßstab angelegt werden. Es ist auf den objektiven Standpunkt eines vernünftigen Dritten abzustellen. Dem Rechtsanwalt ist ein gewisser Ermessensspielraum zu überlassen, denn er, nicht das Gericht, das nachträglich über die Berechnung oder Erstattbarkeit der Dokumentenpauschale zu entscheiden hat, ist für die ihm anvertraute Führung der Rechtssache verantwortlich (Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Kommentar, 19. Auflage (2010), 7000 VV Rn. 22 mit weiteren Nachweisen). Die Nachprüfung durch Außenstehende hat sich lediglich darauf zu beschränken, ob die Entscheidung des Verteidigers offensichtlich fehlerhaft getroffen wurde, das heißt ob Ablichtungen offensichtlich unnötig und überflüssig waren. Dies bedeutet für den Fall, dass der Verteidiger den gesamten Akteninhalt hat ablichten lassen, dass grundsätzlich auch diese Entscheidung vom Ermessen des Verteidigers gedeckt ist und eine Kürzung der geltend gemachten Kopierkosten nur dann gerechtfertigt ist, wenn konkret der Nachweis erbracht werden kann, dass auch aus der Sicht des Verteidigers einzelne Ablichtungen für eine sachgerechte Verteidigung in keinem Fall erforderlich waren (OLG Düsseldorf StV 2003, 177 (178)). Hierbei sind überdies die Besonderheiten des Einzelfalles zu beachten. Insbesondere ist zu berücksichtigen, inwieweit eine Prüfung der einzelnen Seiten einer Gerichtsakte auf Ablichtungsbedürftigkeit zumutbar ist (OLG Nürnberg StraFo 2010, 396). In diesem Zusammenhang ist dem Umfang der Strafakte und dem Zeitraum der Akteineinsichtsgewährung Rechnung zu tragen (OLG Düsseldorf JurBüro 1999, 359; OLG Düsseldorf StV 2003, 177 (178), AG Wuppertal StraFo 1999, 285).
In Anwendung der vorstehenden Grundsätze ist vorliegend nicht feststellbar, dass die Verteidigerin Kopien aus der Strafakte gefertigt hat, die zur sachgemäßen Bearbeitung nicht geboten waren. Die Akte des führenden Verfahrens umfasst neben dem Hauptband 14 lose im Aktendeckel einliegende Sonderakten und 56 Fallakten. Ohne Berücksichtigung der zahlreich vorhandenen doppelseitig beschriebenen beziehungsweise bedruckten Seiten ergibt sich bei überschlägiger Zählung ein Aktenumfang von mehr als 1.900 Seiten. Die Ablichtung der gesamten Verfahrensakten ist im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden. Es ist nicht erkennbar, dass die Verteidigerin offensichtlich unnötige oder überflüssige Aktenbestandteile kopieren ließ. Überdies war angesichts des Umfangs der Akte und der kurzen Dauer der Akteneinsichtsgewährung von lediglich drei Tagen eine Prüfung der Aktenbestandteile auf ihre Wesentlichkeit für eine sachgemäße Verteidigung nicht zumutbar.
Die Abrechnung der Dokumentenpauschale bietet keinen Anlass, die Verteidigerin zur Übersendung der von ihr gefertigten Kopien aufzufordern. Der Umfang der Akte ist mittels Durchsicht der Originalakten feststellbar. Im Übrigen ist aus der im Rahmen der Überprüfung einzunehmenden Sicht der Verteidigerin nicht erkennbar, welche Aktenbestandteile für eine sachgemäße Verteidigung offensichtlich unnötig und überflüssig sein sollen. Insoweit ist festzustellen, dass die Rechtspflegerin den Umfang der Aktenbestandteile, der für eine sachgemäße Verteidigung relevant ist, unzutreffend einengt oder zumindest unzulässige Pauschalierungen vornimmt.
Im Einzelnen:
Die Kopie des Aktendeckels ist gerechtfertigt. Der Aktendeckel enthält zahlreiche sachdienliche Informationen, etwa über Verfahrensverbindungen, Mitteilungen nach der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra) und Blattangaben zum Standort bestimmter Bestandteile in der Akte. Zum Teil finden sich überdies Informationen, die in der Akte selbst nicht enthalten sind. Hierfür bietet insbesondere der Aktendeckel des führenden Verfahrens ein treffendes Beispiel. So ist darauf zunächst die Gerichtsabteilung 84b notiert, sodann durchgestrichen und durch die Gerichtsabteilung 82 ersetzt worden. Daraus ist für die Verteidigung ersichtlich, dass das Verfahren zunächst einer anderen Abteilung zugeordnet war. Dieser Umstand kann der Verteidigung Anlass dazu geben, die Zuständigkeit einer genauen Überprüfung zu unterziehen und gegebenenfalls eine entsprechende Rüge zu erheben. Aus dem übrigen Akteninhalt ist der Abteilungswechsel nicht ersichtlich.
Auch Verfügungen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Polizei sind entgegen der Auffassung der Rechtspflegerin für eine sachgemäße Verteidigung von Bedeutung. Entsprechende Verfügungen werden häufig mit Sachinformationen, etwa Vermerken, verbunden. Selbst wenn es sich um bloße Abverfügungen etwa durch die Polizei an die Staatsanwaltschaft oder Verfristungen durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht handelt, kann aus den jeweiligen Zeitpunkten eine verfahrensrelevante Information resultieren. Sollte aus entsprechenden Verfügungen ersichtlich sein, dass eine Akte lange Zeit unbearbeitet geblieben ist, kann dies für den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung sein. Es kann in Extremfällen einer überlanger Verfahrensdauern im Fall der Verurteilung zur Kompensation die Feststellung geboten sein, dass ein zu beziffernder Teil der Strafe als vollstreckt gilt (BGH NJW 2008, 860 [BGH 17.01.2008 - GSSt 1/07]).
Das Kopieren von Zustellungsurkunden ist im Sinne einer sachgemäßen Verteidigung geboten. Allein anhand der Zustellungsurkunden kann die Verteidigung überprüfen, ob in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt worden ist und die jeweils geltenden Zustellungs- und Ladungsfristen eingehalten worden sind.
Hinsichtlich Kopien des Schreibwerks des Verteidigers kann nicht pauschal festgestellt werden, dass diese für eine sachgemäße Verteidigung nicht erforderlich seien. Es kann insoweit wesentlich auf das Datum des Eingangs der Schreiben ankommen, etwa im Hinblick auf die Einhaltung von Fristen. Weiter kann der Eingang von Schriftsätzen gebührenrechtliche Bedeutung erlangen und aus diesem Grund für die Verteidigung von berechtigtem Interesse sein. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die zusätzliche Gebühr gemäß Nr. 4141 VV RVG oder im Hinblick auf die Problematik, ob eine Verteidigerbeiordnung auf ein verbundenes Verfahren zu erstrecken ist, da dies gemäß § 48 Abs. 5 S. 3 RVG eine Tätigkeit des Verteidigers im verbundenen Verfahren zeitlich vor der Verfahrensverbindung voraussetzt. Demgemäß kann der Eingangsvermerk auf dem Schreibwerk des Verteidigers von entscheidender Relevanz sein und die Kopie des Anwaltsschriftsatzes rechtfertigen.
Auch das Kopieren bereits übersandter Schriftstücke ist in der Regel nicht zu beanstanden. Der Verteidigung werden regelmäßig Ausfertigungen der Originale beziehungsweise Abschriften übersandt. Beim Zwischenschritt der Ausfertigung beziehungsweise Abschrift treten gelegentlich Übertragungsfehler auf, die lediglich durch einen Vergleich mit dem Original feststellbar sind.
Auch bei Auszügen aus dem Bundeszentralregister kann nicht schlechterdings davon ausgegangen werden, dass mehrfache Kopien nicht der sachgemäßen Verteidigung dienen. Insbesondere bei Strafverfahren, die längere Zeit anhängig sind, kann es erforderlich sein, den Bundeszentralregisterauszug, soweit mit verbundenen Verfahren aktualisierte Fassungen vorliegen, mehrfach zu kopieren, um Löschungen beziehungsweise neue Eintragungen feststellen zu können.