· Fachbeitrag · Umsatzsteuer
Auch private „Gesundheitsdienstleister“ müssen von der Umsatzsteuer befreit werden
von RAin Gabriele Ritter, FAin für Steuer- und Sozialrecht, BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Köln
| Mit Urteil vom 15.11.12 (C-174/11, DStR 13, 423 ff., Abruf-Nr. 123627 ) hat der EuGH - auf Vorlage des BFH - zu den unterschiedlichen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit ambulanter Pflegeleistungen eines privaten Anbieters und anerkannter Wohlfahrtsverbände entschieden und damit die Wettbewerbsposition privater Pflegedienste gestärkt. Gleichartige und in Wettbewerb stehende Dienstleistungen dürfen - so der EuGH - umsatzsteuerlich nicht unterschiedlich belastet werden. Am 15.5.13 hat der BFH seine abschließende Entscheidung veröffentlicht ( BFH 19.3.13, XI R 47/07, Abruf-Nr. 131591 ). |
1. Zum Verfahren des EuGH
Die Klägerin ist examinierte Krankenschwester, die im Juni 1993 einen ambulanten Pflegedienst anmeldete. Am 1.10.93 wurde sie für die Leistungen der Häuslichen Krankenpflege von den Krankenkassen zugelassen. Im gesamten Jahr 1993 behandelte die Klägerin 76 Personen, von denen 52 Personen (68 %) Privatzahler waren. Diese Umsätze deklarierte die Klägerin als umsatzsteuerfrei gemäß § 4 Nr. 16e UStG (a.F.).
Das Finanzamt vertrat die Auffassung, dass nur die Leistungen steuerfrei seien, die als Teil der Behandlungspflege erbracht worden seien. Insofern greife § 4 Nr. 14 UStG ein. Das FG Steglitz sah dies anders und gewährte für den Zeitraum ab 1.10.93 die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16e UStG. Hiergegen legte das Finanzamt Revision beim BFH ein. Der BFH wandte sich mit folgenden zwei Fragen an den EuGH (BFH 2.3.11, XI R 47/07, BStBl 12 II 699):
- Erstens: Erlauben es Art. 13 Teil A Abs. 1g und/oder Abs. 2a der Richtlinie 77/388/EWG (6. EG-Richtlinie) dem nationalen Gesetzgeber, die Steuerbefreiung der Leistungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen davon abhängig zu machen, dass bei diesen Einrichtungen „im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind“ (§4 Nr. 16e UStG)?
- Zweitens: Ist es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer für die Antwort auf diese Frage von Bedeutung, dass der nationale Gesetzgeber dieselben Leistungen unter anderen Voraussetzungen als steuerfrei behandelt, wenn sie von amtlich anerkannten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, ausgeführt werden (§ 4 Nr. 18 UStG)?
2. Hintergrund der Fragestellungen
Nach der Gesetzesbegründung des (deutschen) UStG dienen sowohl § 4 Nr. 16e UStG als auch § 4 Nr. 18 UStG der Umsetzung der Bestimmungen von Art. 13 Teil A Abs. 1g der 6. EG-Richtlinie. Dieser entspricht wortgleich dem heutigen Art. 132 Abs. 1g der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL).
Nach dem seinerzeit geltenden § 4 Nr. 16e UStG in der für 1993 geltenden Fassung waren u.a. die mit dem Betrieb der Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen eng verbundenen Umsätze steuerfrei, wenn bei Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen und bei Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind. Nach § 4 Nr. 18 UStG werden unter bestimmten Voraussetzungen die Leistungen befreit, wenn sie von den amtlich anerkannten Verbänden der Wohlfahrtspflege erbracht werden und wenn deren Entgelte hinter den durchschnittlich für gleichartige Leistungen von Erwerbsunternehmen verlangten Entgelten zurückbleiben.
Nach Abs. 2 des Art. 13 Teil A der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 133 MwStSystRL) sind die Mitgliedstaaten befugt, die Gewährung der in Abs. 1g dieses Artikels vorgesehenen Befreiungen für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, von der Erfüllung einer oder mehrerer der in Abs. 2 genannten Bedingungen abhängig zu machen. In Deutschland wurde auf diesem Wege die in § 4 Nr. 16e UStG erwähnte Zwei-Drittel-Grenze eingeführt.
3. Feststellungen des EuGH/Urteil des BFH
Was die Zwei-Drittel-Grenze anbelangt, verweist der EuGH auf bereits ergangene Rechtsprechung (u.a. EuGH 6.11.03, Dornier, C-45/01, Slg. 2003, I-12911). Grundsätzlich ist die Einführung einer solchen Grenze nicht zu beanstanden. Auch die Tatsache, dass die Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, stellt einen Gesichtspunkt dar, der bei der Festlegung der Einrichtungen als solche mit sozialem Charakter anzuerkennen ist - so der EuGH. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass Deutschland im Rahmen der festzulegenden Bedingungen verlangt, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen werden müssen. Ob weiter für die Beurteilung des sozialen Charakters auf das vorangegangene Kalenderjahr abgestellt werden kann, ist - so der EuGH - eine Prüfung des vorzulegenden Gerichts. Der BFH muss feststellen, ob Deutschland insofern bei der Ausgestaltung des unionsrechtlichen Rahmens die Grenzen des zustehenden Ermessens beachtet hat.
Aus der Rechtsprechung des EuGH geht weiter hervor, dass bei der Umsetzung der Befreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1g der 6. EG-Richtlinie die Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität grundsätzlich verlangt, dass alle Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, in Bezug auf die Anerkennung bei der Erbringung vergleichbarer Leistungen gleich behandelt werden. Diese Feststellung bezieht sich auf die zweite Fragestellung und die Umsetzung des § 4 Nr. 18 UStG. Deutschland vertritt hier die Ansicht, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht so zu verstehen sei, dass gleiche Leistungsinhalte gleich zu besteuern sind, sondern in dem Sinne, dass gleiche Steuerpflichtige den gleichen Bedingungen für die Steuerbefreiung unterliegen müssten.
Dies sieht der EuGH anders. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität lässt es nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren- oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln Dies gelte für alle Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts seien. Unter diesen Umständen darf die nationale Regelung (hier § 4 Nr. 18 UStG) im Rahmen der Umsetzung der in Art. 13 Teil A Abs. 1g der 6. EG-Richtlinie vorgesehenen Befreiung keine sachlich unterschiedlichen Bedingungen für Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht einerseits und juristischen Personen ohne Gewinnerzielungsabsicht andererseits vorsehen, mit anderen Worten dürfen bei einer Auslegung im Lichte des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität für Privatanbieter keine Bedingungen aufgestellt werden, die andere (z.B. die Verbände der freien Wohlfahrtspflege) nicht erfüllen müssen. Auch gewinnorientierte Unternehmen können in die Steuerbefreiung einbezogen werden, wenn diese soziale Dienstleistungen zu sozialverträglichen Preisen anbieten.
Der BFH hat nun mit dem Urteil vom 19.3.13 entschieden, dass durch ein Abstellen auf das "„vorangegangene Kalenderjahr“ die Anerkennung des „sozialen“ Charakters automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen ist. Die Klägerin könne sich daher unmittelbar auf die europarechtliche Befreiungsnorm berufen (BFH 19.3.13, XI R 47/07, Abruf-Nr. 131591).
4. Schlussbemerkung
Die Urteile des EuGH und des BFH sind - auch wenn sie sich auf § 4 Nr. 16e UStG a.F. und damit eine gesetzliche Regelung im UStG beziehen, die es so heute nicht mehr gibt - weiterhin von Bedeutung. Schließlich wird in § 4 Nr. 16k UStG n.F. für Pflegeleistungen und deren Umsatzsteuerbefreiung ebenfalls auf das jeweils „vorangegangene Kalenderjahr“ abgestellt. M.E. aber dürften insbesondere die Feststellungen des EuGH zu § 4 Nr. 18 UStG zur steuerlichen Neutralität weiterhin für Diskussionsstoff sorgen. Denn anders als Privatanbieter können Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege derartige Leistungen ohne entsprechende sozialgesetzliche Berechtigung oder Beachtung gewisser Größenkriterien umsatzsteuerfrei erbringen. Im vorstehenden Verfahren musste der BFH darauf nicht mehr eingehen.