· Fachbeitrag · Fahrverbot
Das Absehen vom Fahrverbot bei einem „Augenblicksversagen“
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
| Die Anordnung eines Fahrverbots trifft den Betroffenen i.d.R. mehr als die Verhängung einer Geldbuße. Deshalb ist es Aufgabe des Verteidigers, die Festsetzung eines Fahrverbots nach Möglichkeit zu verhindern. (Gute) Verteidigungsansätze bietet die Rechtsprechung des BGH zum sog. Augenblicksversagen. Deren Grundsätze fassen wir hier noch einmal zusammen und zeigen, worauf Sie in diesem Bereich als Verteidiger besonders achten müssen (vgl. auch schon VA 01, 169 ). |
Arbeitshilfe / Augenblicksversagen |
1. Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Fahrverbots Alleinige Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Fahrverbots ist auch im Bereich des § 4 BKatV die Vorschrift des § 25 Abs. 1 S. 1 StVG (vgl. nur BGHSt 38, 125; 43, 241 = NJW 97, 3252; OLG Dresden DAR 01, 318; OLG Rostock zfs 04, 480). Die BKatVO stellt in § 4 Abs. 1 BKatV lediglich für die dort ausdrücklich genannten besonders schwerwiegenden Verkehrsverstöße eine Konkretisierung der eigentlichen Androhungsnorm des § 25 StVG dar. Daraus folgt, dass das Vorliegen einer der Fälle des § 4 BKatV nicht bereits als solches für die Anordnung des Fahrverbots genügt oder dies gar zwingend macht. Zusätzlich müssen vielmehr auch die Merkmale des § 25 Abs. 1 StVG - also in objektiver und subjektiver Hinsicht eine grobe Pflichtwidrigkeit - erfüllt sein.
2. Allein objektiv grobe Pflichtwidrigkeit reicht nicht Da § 25 Abs. 1 S. 1 StVG Grundlage für die Verhängung des Fahrverbots ist, reicht allein das Vorliegen einer objektiv groben Pflichtwidrigkeit nicht aus. Vielmehr muss auch ein subjektiv grober Verstoß vorliegen. Nach der Rechtsprechung des BGH zum sog. „Augenblicksversagen“ im Beschl. v. 11.9.97 (BGHSt 43, 241 = NJW 97, 3252) ist das nicht der Fall, wenn der Verkehrsverstoß auf nur leichter Fahrlässigkeit des Betroffenen beruht (vgl. dazu Deutscher in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 3. Aufl., 2012, Rn. 959 ff. m.w.N.). Es fehlt dann das subjektive Element der groben Pflichtwidrigkeit.
3. Einschränkungen des BGH Der BGH macht in seiner Rechtsprechung allerdings zwei Einschränkungen:
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Praxishinweis | Zu beiden Punkten ist Handeln des Verteidigers gefordert. Er muss sich (für den Betroffenen) nicht nur auf ein Augenblicksversagen berufen. Vielmehr muss er in der Hauptverhandlung zudem darlegen und ggf. durch einen Beweisantrag dokumentieren, dass eben eine solche Ausgestaltung nicht vorhanden ist bzw. war. Das AG muss diese Einlassung prüfen (OLG Hamm VA 03, 57; OLG Zweibrücken DAR 03, 134).
4. Rechtsprechung gilt nicht nur für Geschwindigkeitsüberschreitungen Die Rechtsprechung des BGH (BGHSt 43, 241 = NJW 97, 3252) hatte eine Geschwindigkeitsüberschreitung zum Gegenstand. Sie ist von den Obergerichten ausgedehnt worden, und zwar auf den Rotlichtverstoß (OLG Hamm NZV 99, 176.). Sie ist i.Ü. auch für die Frage des „beharrlichen“ Verstoßes von Belang. Soll nämlich ein Fahrverbot nach § 4 Abs. 2 BKatV festgesetzt werden - also nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 26 km/h innerhalb eines Jahres eine weitere in dieser Höhe - muss, da auch dem Fahrverbot aufgrund „Beharrlichkeit“ der Vorwurf der besonderen Verantwortungslosigkeit zugrunde liegt, dieser zweite Vorwurf i.S.d. Rechtsprechung des BGH subjektiv grob pflichtwidrig sein (OLG Bamberg VRR 12, 230; OLG Hamm NZV 00, 92; AG Frankfurt a.M. DAR 07, 278; a.A. OLG Koblenz VA 03, 175).
5. Keine Ermessensentscheidung über „Augenblicksversagen“ Ist ein „Augenblicksversagen“ zu bejahen, fehlt eine gesetzliche Voraussetzung für die Verhängung eines Fahrverbots. Deshalb darf dann ein Fahrverbot nicht verhängt werden. Für eine amtsrichterliche Abwägung nach § 4 Abs. 4 BKatV, ob im Einzelfall von der Anordnung des Fahrverbots abgesehen werden kann, ist dann von vornherein kein Raum (zu den erforderlichen Feststellungen, wenn von einem an sich vorliegenden Augenblicksversagen abgewichen werden soll, OLG Oldenburg VA 14, 48; zur Feststellung eines Augenblicksversagens s. OLG Brandenburg VRR 10, 72).
Praxishinweis | Das bedeutet, dass in diesen Fällen - wegen des nicht verhängten Fahrverbots - auch die Geldbuße nicht erhöht werden darf (OLG Hamm NZV 98, 334; VRS 97, 210).
6. Rechtsprechungsgrundsätze Zu den mit dem „Augenblicksversagen“ zusammenhängenden Fragen hat sich in der Zeit seit Veröffentlichung der Entscheidung des BGH (BGHSt 43, 241 = NJW 97, 3252) eine umfangreiche Kasuistik entwickelt. Es ist allerdings nicht ganz einfach, Fallgruppen, bei denen ggf. trotz schlichten Übersehens des Verkehrsschilds aufgrund der übrigen äußeren Situation eine grobe Pflichtwidrigkeit vorliegt, festzulegen. Es soll aber - wegen der praktischen Bedeutung - dennoch versucht werden, die entschiedenen Fälle wenigstens kurz zusammenzufassen.
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Rechtsprechungsübersicht / Augenblicksversagen, Allgemeines | ||
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen: ja oder nein? | Fundstelle |
Hausarzt überschreitet auf dem Weg zu einem Notfallpatienten die zulässige Höchstgeschwindigkeit. | Ggf. ja, entscheidend sind aber die Umstände des Einzelfalls. | OLG Hamm VA 02, 19; OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 01, 214; OLG Karlsruhe VA 05, 15 |
Durch Telefonieren beim Autofahren abgelenkt. | Nein, weil Unaufmerksamkeit fast zwangsläufig und damit von Vorsatz auszugehen ist. | OLG Celle VA 01, 111; OLG Karlsruhe OLG Hamm VA 03, 168 |
Betroffener wird nachts durch entgegenkommende Fahrzeuge geblendet, reduziert aber nicht seine Geschwindigkeit und übersieht mehrere Geschwindigkeitsbeschränkungen. | Nein. | AG Lüdinghausen |
Rotlichtverstoß, weil sich der Betroffene von einem wegen eines Defekts liegen gebliebenen Fahrzeug hat ablenken lassen. | Nein. | OLG Karlsruhe VA 07, 14 |
Geschwindigkeitsüberwachung zur Nachtzeit, Grund für die Lärmschutzmaßnahme „Geschwindigkeitsüberschreitung“ ist für den Betroffenen nicht erkennbar. | Nein. | OLG Bamberg VA 07, 35 |
Irrtum über die (objektiv) beschränkte Wirkung von Zusatzschildern zu den Vorschriftszeichen 274 und 276. | Nein. | OLG Bamberg VA 07, 185 |
Geschwindigkeitsüberschreitung; defekter Tempomat; Schild aufgrund greller Sonne und gleißendem Schnee nicht wahrgenommen. | Nein. | OLG Hamm |
Der Betroffene macht ein Augenblicksversagen auf einer Probefahrt mit einem ihm unbekannten und ungewohnten Fahrzeug geltend. | Nein. | OLG Bamberg VA 12, 156 |
Zu schnelles Fahren, um zur kranken Mutter zu kommen. | Ja. | AG Bad Salzungen zfs 08, 168 |
Übersehen der geschwindigkeitsbegrenzenden Schilder durch geparkten Lkw. | Ggf. ja. | OLG Hamm DAR 08, 273, auch zum Umfang der Feststellungen |
Absehen von der Anordnung eines Regelfahrverbots nach § 4 Abs. 4 BKatV unter Anhebung der Geldbuße, wenn sich die Straßenverkehrsbehörde trotz Kenntnis einer unübersichtlichen Beschilderung weigert, durch Änderung der Beschilderung für Rechtsklarheit zu sorgen. | Ja. | AG Stollberg VA 09, 173 |
Die für die Verhängung eines Fahrverbots maßgebliche Grenze einer Geschwindigkeitsüberschreitung ist mit einem Kilometer pro Stunde nur knapp überschritten worden. | Nein, kein Ausnahmefall. | OLG Hamm VA 09, 173 |
Übersehen des die Geschwindigkeit begrenzenden Verkehrsschilds. | Ggf. ja, es sei denn, der Wahrnehmungsfehler ist vorwerfbar, weil das gleiche Zeichen im Verlauf der vor der Messstelle befahrenen Strecke mehrfach wiederholt wird, der Messstelle ein sog. Geschwindigkeitstrichter vorausgeht oder sich die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung i.V.m. anderen äußeren Umständen (Ortsschild, Bebauung) jedermann aufdrängt. | OLG Düsseldorf |
Der Kfz-Führer beruft sich darauf, ein die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschränkendes Verkehrszeichen übersehen zu haben. | Ggf. ja, jedenfalls kann, wenn dem Betroffenen die Einlassung nicht zu widerlegen ist, die Verhängung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers nicht allein darauf gestützt werden, dass das Verkehrszeichen beidseitig aufgestellt war. | OLG Brandenburg VRR 10, 72 |
Die Richtlinien zur Geschwindigkeitsmessung werden nicht beachtet. | Ja, kann Absehen rechtfertigen. | OLG Dresden DAR 10, 29 m.w.N. |
Der Betroffene nimmt irrtümlich an, dass sich ein Zusatzzeichen auf beide darüber befindliche Verkehrszeichen bezieht, und begeht eine Geschwindigkeitsübertretung aufgrund dieses Irrtums. | Ggf. Entfallen des Regelfahrverbots. | OLG Bamberg |
Zu kurzer Abstand zwischen Geschwindigkeitsbegrenzung und Messstelle. | Ja, kann Auswirkungen auf die gegen den Betroffenen zu verhängenden Rechtsfolgen haben. Dies ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Geschwindigkeitsbegrenzung ein sog. Geschwindigkeitstrichter vorausgeht, durch den sich der Kraftfahrer stufenweise einer verringerten Geschwindigkeit anzupassen hat. | OLG Oldenburg VA 14, 140 m.w.N.; vgl. aber auch OLG Koblenz |
Weiterführende Hinweise
- Die Rechtsprechungsübersicht wird in der nächsten Ausgabe fortgeführt.
- Schwerpunktbeitrag zum Augenblicksversagen: Burhoff, VA 01, 169.