· Fachbeitrag · Unfallhaftpflichtprozess
BGH zum Beweismaß bei mehreren Verletzungen
| Für die richterliche Überzeugungsbildung ist der Unterschied zwischen dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO und dem erleichterten nach § 287 ZPO nicht so gewaltig, wie von Anwälten mitunter angenommen. Andererseits ist er nicht so marginal, dass er vernachlässigt werden kann. Für die anwaltliche Tätigkeit ist es deshalb von erheblichem Interesse, was der BGH Anfang des Jahres zum Anwendungsbereich der §§ 286, 287 ZPO entschieden hat. |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Nach einer Seitenkollision in einem Kreisverkehr mit voller Einstandspflicht der Beklagten stritten die Parteien darüber, ob und welche Verletzungen der Kläger als Fahrer seines Pkw durch den Unfall erlitten hat. Außer einer HWS-Distorsion machte er unter Vorlage mehrerer Arztberichte eine multiple Knieschädigung geltend. Das LG Frankfurt a. M. holte ein medizinisches Gutachten ein und wies die Klage danach ab. Das OLG stellte eine leichtgradige HWS-Verletzung fest (§ 286 ZPO) und sprach ein Schmerzensgeld von 600 EUR zu. Von einer unfallbedingten Knieschädigung konnte es sich nicht überzeugen. Dabei legte es das Beweismaß des § 286 ZPO zugrunde und nicht, wie vom Kläger gefordert, das des § 287 ZPO. Mit der vom BGH zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine abgewiesenen Ansprüche weiter, während die Beklagte mit ihrer Anschlussrevision verlangt, die Klage vollständig abzuweisen.
Der BGH hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Auf die Anschlussrevision hat er das OLG-Urteil aufgehoben, soweit zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist (Feststellung einer HWS-Verletzung/Schmerzensgeld).
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Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO findet Anwendung, soweit es um die Frage geht, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung weitere vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte (haftungsausfüllende Kausalität). Werden unabhängig davon aus der zugrunde liegenden Verletzungshandlung weitere unfallursächliche Primärverletzungen geltend gemacht, unterfallen diese dem Beweismaß des § 286 ZPO (haftungsbegründende Kausalität) (Abruf-Nr. 208722). |
Relevanz für die Praxis
Der BGH nimmt die Gelegenheit wahr, um anhand eines alltäglichen Falls deutlich zu machen, was unter die haftungsbegründende Kausalität mit dem Beweismaß des § 286 ZPO und was unter die haftungsausfüllende Kausalität mit dem Beweismaß des § 287 ZPO fällt. Insbesondere sein Beschluss vom 14.10.08, VI ZR 7/08, Tz. 7, VersR 09, 69 = VA 09, 5, war vielfach dahin verstanden worden, dass eine festgestellte unfallursächliche Primärverletzung ausreiche, um alle darüber hinaus behaupteten Verletzungen unabhängig von ihrem Verhältnis zu dieser Primärverletzung in den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität mit Beweismaß nach § 287 ZPO zu verlagern. Konkret: Beweis einer HWS-Verletzung nach § 287 ZPO bei unstreitiger oder nachgewiesener Zehendistorsion als unfallbedingte Primärverletzung.
Mit dieser geschädigtengünstigen Sichtweise räumt der BGH nun auf (Tz. 13). Entgegenstehende instanzgerichtliche Judikatur ist damit überholt (Nachw. in VA 11, 203/204). Konkret bedeutet das: Macht der Mandant mehrere Unfallverletzungen geltend, kann es sich um mehrere Primärverletzungen handeln, nicht nur um eine einzige, die alles Weitere zu Sekundärschäden mit 287er Beweismaß macht. Im Entscheidungsfall sind die behauptete HWS-Verletzung und die angebliche Knieschädigung jeweils Primärverletzungen, deren Unfallbedingtheit dem Beweismaß des § 286 ZPO unterfällt. M. a. W.: Ob der Kläger neben der vom OLG als unfallbedingt festgestellten HWS-Verletzung eine Knieverletzung erlitten hat, ist keine Frage der haftungsausfüllenden, sondern der haftungsbegründenden Kausalität.
Aber Achtung! Nicht immer liegen die Dinge so klar auf der Hand wie im BGH-Fall. HWS und Knie sind so sehr voneinander getrennt, dass ausgeschlossen werden kann, dass die eine Verletzung aus der anderen entstanden sein kann. Bei einer Hirnschädigung neben einer HWS-Verletzung kann das schon anders sein (BGH VersR 87, 310). Kann eine Verletzung als Folge einer anderen Unfallverletzung dargestellt werden (Folgeschaden), kommt dem Geschädigten § 287 ZPO zugute.
In einem weiteren Punkt verdient das BGH-Urteil Beachtung. Es geht um das leidige Thema Feststellung einer HWS-Verletzung. Das OLG war nach dem Maßstab des § 286 ZPO davon überzeugt, dass der Kläger bei der streifenden, seitlichen Kollision (!) eine leichtgradige HWS-Distorsion erlitten hat. Gestützt hat es sich auf Arztberichte sowie auf ein Gerichtsgutachten eines Mediziners. Dieser hat eine Unfallkausalität allerdings nur für „möglich“ gehalten und eine endgültige Stellungnahme vom Ergebnis einer unfallanalytischen Begutachtung abhängig gemacht. Das OLG war der Ansicht, darauf verzichten zu können. Das war in den Augen des BGH fehlerhaft.