25.11.2004 · IWW-Abrufnummer 043010
Bundesfinanzhof: Urteil vom 28.07.2004 – XI R 63/03
Erhält der Versicherungsvertreter vom Versicherungsunternehmen die Abschlussprovision nicht nur für die Vermittlung der Versicherung, sondern auch für die weitere Betreuung des Versicherungsvertrags, so hat er für die Verpflichtung zu künftiger Vertragsbetreuung eine Rückstellung wegen Erfüllungsrückstandes zu bilden.
Gründe:
I.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zusammen veranlagte Eheleute. Mit Vertrag vom 23. April 1969 übernahm der Kläger die Vertretung eines Versicherungsunternehmens. Er verpflichtete sich außer zur Vermittlung von Lebens- und Schadensversicherungen auch zur Betreuung und Erhaltung des Bestandes sowie zur Besorgung des Beitragseinzugs, soweit ihm dieser von dem Unternehmen übertragen war. Für die Vermittlung von Lebensversicherungsverträgen erhielt der Kläger eine Provision in Höhe eines Prozentsatzes des ersten tarifmäßigen Jahresbeitrages. Sie wurde fällig, sobald der Versicherungsvertrag zustande gekommen war und soweit die Beiträge gezahlt wurden. Folgeprovisionen für die Betreuung der Lebensversicherungsverträge erhielt er --in Abweichung zu anderen Versicherungssparten-- nicht. In der Bilanz zum 31. Dezember 1992 bildete er erstmals für bereits vermittelte Lebensversicherungsverträge eine Rückstellung für Verwaltungskosten in Höhe von 334 880 DM, die er in den folgenden Jahren dem Zugang an Lebensversicherungsverträgen anpasste. Den künftigen Aufwand pro Lebensversicherungsvertrag schätzte er mit zwei Mitarbeiterstunden.
Im Anschluss an eine Außenprüfung erkannte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) diese Rückstellung nicht an. Die wechselseitigen Ansprüche des Klägers und des Versicherers seien nach den Grundsätzen zur Bilanzierung schwebender Geschäfte nicht zu bilanzieren. Verluste aus dem Vertragsverhältnis drohten nicht. Der künftig für die Lebensversicherungsverträge entstehende Aufwand sei erst in dem Augenblick verursacht, in dem der Bearbeitungsbedarf anfalle.
Die Klage hatte keinen Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2004, 247).
Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verletzung der §§ 249, 252 Abs. 1 Nr. 4 des Handelsgesetzbuchs (HGB) und einkommensteuerrechtlicher Vorschriften. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) befinde sich der Kläger hinsichtlich seiner Verpflichtung, bereits vermittelte und abgeschlossene Lebensversicherungen auch in der Folgezeit zu betreuen, in einem Erfüllungsrückstand. Maßgeblich sei, dass der Kläger im Zusammenhang mit den Lebensversicherungsverträgen ausschließlich Abschlussprovisionen erziele und sein Gewinnausweis im Jahr des Provisionszuflusses unter Berücksichtigung der fortbestehenden Verpflichtung zur Vertragsbearbeitung zu hoch sei. Für die Bildung der Rückstellung sei unerheblich, dass der Kläger mit Vollendung seines 65. Lebensjahres von den Verpflichtungen aus dem Vertrag befreit werde. Die Rückstellungen müssten dann aufgelöst werden. Insbesondere im Urteil vom 14. Oktober 1999 IV R 12/99 (BFHE 190, 349, BStBl II 2000, 25) habe der BFH in einem vergleichbaren Fall die Bildung einer Rückstellung für künftige Schadensbearbeitung bestätigt. Darüber hinaus sei nach der Rechtsprechung des I. Senats des BFH (Urteile vom 8. November 2000 I R 6/96, BFHE 193, 398, BStBl II 2001, 570; vom 5. Juni 2002 I R 96/00, BFHE 199, 309, BFH/NV 2002, 1638) nicht einmal mehr erforderlich, dass die Verpflichtung im abgelaufenen Wirtschaftsjahr verursacht sei. Allein das Bestehen der vertraglichen Verpflichtung zur Nachbetreuung der Versicherungsverträge rechtfertige danach die Passivierung, denn der Kläger erhalte insoweit ausschließlich bei Vertragsabschluss eine Provision. Das Finanzgericht (FG) habe ferner § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verletzt, weil es völlig überraschend in der Urteilsbegründung darauf abgestellt habe, dass die Betreuungsverpflichtung mit Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers entfalle.
Die Kläger beantragen, das Urteil des FG im streitgegenständlichen Umfang der Revision aufzuheben und die Einkommensteuer für 1992 und 1994 unter Berücksichtigung der gebildeten Rückstellungen festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Die rechtliche Verpflichtung des Klägers zur Betreuung und Erhaltung des Bestandes ergebe sich aus dem Vertrag vom 23. April 1969, nicht erst aus dem Abschluss des einzelnen Lebensversicherungsvertrages. Es könne daher auch kein Teil der Abschlussprovision auf die Verpflichtung zur Nachbetreuung entfallen. Es sei in tatsächlicher Hinsicht auch denkbar, in der Bearbeitung bereits abgeschlossener Lebensversicherungsverträge zugleich die Anbahnung neuer Geschäftsabschlüsse zu sehen. Dass andere Versicherer ein Bestandspflegegeld zahlten, rechtfertige die Bildung der Rückstellung ebenso wenig wie die Tatsache, dass im Jahr des Provisionszuflusses der Gewinn zu hoch ausgewiesen werde. Aus der Geschäftsbeziehung des Klägers zum Versicherer drohe auch kein Verlust.
II.
Die Revision der Kläger ist begründet. Das Urteil des FG ist, soweit es die Einkommensteuer 1992 und 1994 betrifft, aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Entgegen der Auffassung des FG musste der Kläger dem Grunde nach die streitige Rückstellung bilden.
1. Nach § 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Zwar dürfen Ansprüche und Verbindlichkeiten aus einem schwebenden Geschäft in der Bilanz grundsätzlich nicht ausgewiesen werden. Ein Bilanzausweis ist u.a. aber dann geboten, wenn das Gleichgewicht der Vertragsbeziehungen durch Vorleistungen oder Erfüllungsrückstände eines Vertragspartners gestört ist (vgl. BFH-Beschluss des Großen Senats vom 23. Juni 1997 GrS 2/93, BFHE 183, 199, BStBl II 1997, 735, m.w.N.).
a) Die Verpflichtung des Klägers gegenüber dem Versicherungsunternehmen, die bereits abgeschlossenen Lebensversicherungsverträge künftig zu betreuen, beruht auf dem Vertrag des Klägers mit dem Versicherungsunternehmen vom 23. April 1969. Bei der Vermittlung der Lebensversicherungsverträge und ihrer weiteren Betreuung gegen die Zahlung einer einmaligen Provision handelt es sich jeweils um ein schwebendes Gesch äft. Schwebende Geschäfte sind gegenseitige Verträge i.S. der §§ 320 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), die von der zur Sach- oder Dienstleistung verpflichteten Partei --abgesehen von unwesentlichen Nebenpflichten-- noch nicht voll erfüllt sind (BFH, Großer Senat in BFHE 183, 199, BStBl II 1997, 735, m.w.N.). Da die Bearbeitung von Versicherungsverträgen keine unwesentliche Nebenleistung ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 190, 349, BStBl II 2000, 25, unter 1.c), war das jeweilige Vermittlungsgeschäft mit der Zahlung der Provision noch nicht abgeschlossen.
b) Der Kläger befand sich an den streitigen Bilanzstichtagen in einem Erfüllungsrückstand.
Ein Erfüllungsrückstand liegt vor, wenn der Verpflichtete sich mit seinen Leistungen gegenüber seinem Vertragspartner im Rückstand befindet, also weniger geleistet hat, als er nach dem Vertrag für die bis dahin vom Vertragspartner erbrachte Leistung insgesamt zu leisten hatte. Der BFH knüpft den Begriff des Erfüllungsrückstandes herkömmlicherweise eng an den schuldrechtlich gebotenen Zeitpunkt der Erfüllung. Darüber hinaus hat er aber auch eine an den wirtschaftlichen Gegebenheiten orientierte Betrachtung genügen lassen, allerdings vorausgesetzt, mit der nach dem Vertrag geschuldeten zukünftigen Leistung wird nicht nur an Vergangenes angeknüpft, sondern Vergangenes abgegolten. Wann eine vertragliche Verpflichtung erfüllt ist, bestimmt sich seither auch bei Dauerschuldverhältnissen nicht mehr entscheidend nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts, sondern nach dem wirtschaftlichen Gehalt der geschuldeten (Sach-)Leistung (BFH, Großer Senat in BFHE 183, 199, BStBl II 1997, 735, unter B.I.2., m.w.N.). Erfüllungsrückstand setzt nicht die Fälligkeit der vertraglich noch geschuldeten Leistung zum Bilanzstichtag voraus (vgl. hierzu z.B. BFH-Urteile vom 5. Februar 1987 IV R 81/84, BFHE 149, 55, BStBl II 1987, 845; vom 15. Juli 1998 I R 24/96, BFHE 186, 388, BStBl II 1998, 728, m.w.N.).
Die vom Kläger an den hier streitigen Bilanzstichtagen noch zu erfüllende vertragliche Verpflichtung, Lebensversicherungsverträge nach deren Abschluss zu betreuen und abzuwickeln, ist Teil der Gegenleistung für die bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Provisionsansprüche. Eine besondere Vergütung für die Betreuung der Lebensversicherungsverträge erhielt er nach den Feststellungen des FG nicht. Dass sich bei schwebenden Geschäften die vertraglichen Rechte und Pflichten gegenseitig bedingen, ist für synallagmatische Verträge i.S. der §§ 320 ff. BGB typisch und schließt --entgegen der Meinung des FG-- einen Erfüllungsrückstand nicht aus. In diesem Sinn hat auch der IV. Senat des BFH in einem --entgegen der Auffassung des FA durchaus-- vergleichbaren Fall eine Rückstellung für die ungewisse und keinem abgrenzbaren Zeitraum zuordenbare Verpflichtung zu künftiger Schadensbearbeitung für Rechtens erkannt (BFHE 190, 349, BStBl II 2000, 25). Die Tatsache, dass Lebensversicherungsverträge möglicherweise erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums zu bearbeiten sind, steht der Bildung einer Rückstellung dem Grunde nach ebenfalls nicht entgegen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 3. Dezember 1991 VIII R 88/87, BFHE 167, 322, BStBl II 1993, 89: 20 Jahre; vgl. auch § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/ 2002).
Der erkennende Senat weicht mit dieser Beurteilung nicht vom Urteil des BFH vom 24. November 1983 I R 150/77 (BFHE 140, 193, BStBl II 1984, 299) ab. Nach Auffassung des I. Senats konnte im dort entschiedenen Fall aus tatsächlichen Gründen zwischen der allgemeinen Kundenpflege und den künftigen Kundendienstleistungen nicht getrennt werden. Sollte der I. Senat auch darauf abgestellt haben, dass die Kundendienstleistungen noch nicht fällig waren, so hat er diese Rechtsprechung mittlerweile aufgegeben (vgl. Urteile in BFHE 186, 388, BStBl II 1998, 728; BFHE 199, 309, BFH/NV 2002, 1638).
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung noch keine Feststellungen zur Höhe der Rückstellungen getroffen. Dies ist nachzuholen.