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  • 02.10.2019 · IWW-Abrufnummer 211465

    FG Berlin-Brandenburg: Urteil vom 12.06.2019 – 3 K 3058/19

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    In dem Rechtsstreit
    A...,
    Kläger,
    gegen
    Finanzamt,
    Beklagter,
    wegen Einkommensteuer 2016
    hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg - 3. Senat - aufgrund mündlicher Verhandlung vom 12. Juni 2019 durch
    den Vorsitzenden Richter am Finanzgericht ...
    den Richter am Finanzgericht ...,
    den Richter am Finanzgericht ...,
    den ehrenamtlichen Richter ... und
    den ehrenamtlichen Richter ...
    für Recht erkannt:
    Tenor:

    Der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 28.05.2018, geändert mit Bescheid vom 14.09.2018 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.03.2019, wird dahingehend geändert, dass für Einkünfte in Höhe von 25.957 € die Steuer gemäß § 34 Abs. 1 EStG berechnet wird.

    Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.

    Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

    Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
    Tatbestand

    Die Beteiligten streiten um die ermäßigte Besteuerung wegen Zusammenballung von Einkünften gemäß § 34 Einkommensteuergesetz - EStG - von Leistungen der externen betrieblichen Altersversorgung (§ 22 Nr. 5 Satz 1 EStG) aufgrund Kündigung der Versicherung.

    I.1.

    Der Kläger war Arbeitnehmer der B... GmbH in C..., zuvor bei der D... GmbH. Im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge schloss der Arbeitgeber infolge Bruttoentgeltumwandlung zwei Rentenversicherungsverträge ab bei dem seinerzeit als E... Aktiengesellschaft, später als F... AG firmierenden Unternehmen der G... Gruppe, bei dem die Arbeitgeber keine Mitgliedschaft erwerben (FG-A Bl. 26), mit den Versicherungsnummern ... bzw. .... Versicherungsnehmer war der Arbeitgeber, versicherte Person der Kläger. Beginn der Versicherung war ursprünglich der 01.12.2002 bzw. der 01.01.2006. Die Versicherung wurde durch Nachtrag zum Versicherungsschein vom 07.03.2012 auf den 01.02.2012 wieder in Kraft gesetzt und ist nach Angabe im Versicherungsschein "arbeitnehmerfinanziert gemäß § 3 Nr. 63 EStG". Die Altersrentenzahlung des am 22.01.1967 geborenen Klägers hätte jeweils am 01.02.2032 beginnen sollen. Dem Kläger stand ein zwischen dem 01.02.2031 und dem 01.11.2031 auszuübendes Kapitalwahlrecht zu. In den Versicherungsbedingungen ist unter § 5 "Kündigung" jeweils ausgeführt, dass die Versicherung gekündigt werden kann, solange die gesetzlichen Unverfallbarkeitsfristen im Sinne des § 1b Betriebsrentengesetz - BetrAVG - noch nicht erfüllt sind, jedoch nur bis 3 Jahre vor Rentenbeginn, und dann der Rückkaufswert ausgezahlt wird. Nach Erfüllung der gesetzlichen Unverfallbarkeitsfristen kann die Versicherung nicht mehr gekündigt, sondern nur noch beitragsfrei weitergeführt werden, was auch vorher jederzeit möglich ist (Versicherungsbedingungen im Einzelnen Einspruchsvorgang - EV - Bl. 71-80, 57-67).

    Durch die Versicherung wurden monatlich 180 € bzw. 30 € vom Konto des Arbeitgebers abgebucht. Sie wurden vom Arbeitgeber gemäß § 3 Nr. 63 EStG als steuerfrei behandelt.

    2.

    Im Jahr 2015 wurden die Verträge auf Wunsch des Klägers wegen eines finanziellen Engpasses zunächst beitragsfrei gestellt. Dem Kläger wurde in einer Email mitgeteilt, die Beitragsfreistellung sei maximal zwei Jahre lang möglich (EV Bl. 29). Da er in Erwägung zog, sich selbständig zu machen, kündigte der Arbeitgeber auf Wunsch des Klägers die Verträge (EV Bl. 36). Die inzwischen aus der Akte ersichtlichen Versicherungsbedingungen lagen dem Kläger seinerzeit nicht vor.

    Die Auflösung der beiden Versicherungen wurde zum 01.01.2016 durchgeführt. Die Auszahlung erfolgte an den Arbeitgeber und von diesem an den Kläger und betrug 23.045,18 € (21.651,55 € Versicherungswerte und 1.393,63 € Überschussanteile, EV Bl. 83) bzw. 2.911,82 € (2.767,79 € Versicherungswerte und 144,03 € Überschussanteile, EV Bl. 70), zusammen 25.957 €.

    II.1.

    Das beklagte Finanzamt - FA - behandelte diesen Betrag bei der Einkommensteuer 2016 - zuletzt unstreitig - als gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG steuerbar und versagte zugleich die vom Kläger gewünschte ermäßigte Besteuerung gemäß § 34 EStG. Die Doppelerfassung im Bescheid vom 28.05.2018, gegen den der Kläger am 07.06.2018 Einspruch eingelegt hatte, wurde mit Änderungsbescheid vom 14.09.2018 korrigiert (Teilabhilfe). Zur Anwendbarkeit von § 34 EStG wies der Kläger darauf hin, dass es sich nicht um die Ausübung eines Kapitalwahlrechts gehandelt habe, sondern um den Fall einer Kündigung. Diese sei unvermeidbar gewesen, weil eine Ruhendstellung nur für zwei Jahre möglich gewesen sei. Die ausgezahlte Summe sei im Übrigen kleiner gewesen als die Summe der Einzahlungen.

    2.

    Mit Einspruchsentscheidung vom 07.03.2019 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Es verwies insbesondere auf die Ähnlichkeit zu dem Fall, der dem Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 20.09.2016 X R 23/15 zugrunde lag und für den der BFH das Vorliegen außerordentlicher Einkünfte verneint hatte. Dort bestand ein Kapitalwahlrecht bei der Altersversorgung durch eine Pensionskasse. Der BFH hatte darauf abgestellt, dass das Kapitalwahlrecht von Anfang an bestanden habe und seine Ausübung daher nicht zu einer atypischen Fallgestaltung führe.

    III.

    Am 20.03.2019 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er sein Begehren nach Anwendung der Regelung des § 34 EStG weiterverfolgt.

    Der Kläger beantragt,

    den Einkommensteuerbescheid 2016 vom 28.05.2018, geändert mit Bescheid vom 14.09.2018 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.03.2019 dahingehend zu ändern, dass für Einkünfte in Höhe von 25.957 € die Steuer gemäß § 34 Abs. 1 EStG berechnet wird.

    Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Er verweist auf seine Einspruchsentscheidung.

    IV.

    Die ESt-Akte Bd. 3 für 2016 und der Hefter Einspruchsvorgang lagen vor.
    Entscheidungsgründe

    Die zulässige Klage ist begründet.

    Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -).

    Die Auszahlung des Rückkaufswerts unterliegt der ermäßigten Besteuerung gemäß § 34 Abs. 1 EStG (sog. "Fünftelregelung").

    I.

    Der im Streitjahr an den Kläger ausgezahlte und ihm damit zugeflossene Betrag ist, wovon die Beteiligten zu Recht übereinstimmend ausgehen, gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG steuerbar, weil die früheren Beitragszahlungen tatsächlich nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei gestellt waren. Ob dessen Voraussetzungen objektiv vorgelegen haben, ist für die Steuerpflicht ohne Belang (BFH, Urteil vom 20.09.2016 X R 23/15, DStR 2017, 96, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Juris Rn. 15, 17).

    II.

    Die Voraussetzungen der ermäßigten Besteuerung gemäß § 34 Abs. 1 EStG liegen vor.

    1.

    § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG ist grundsätzlich auf alle Arten von Einkünften anwendbar und damit auch auf Leistungen aus Direktversicherungen als sonstige Einkünfte (BFH, Urteil vom 20.09.2016 X R 23/15, DStR 2017, 96, Juris Rn. 20).

    2.

    Die Auszahlung des Rückkaufswerts bei Kündigung stellt, ähnlich einer Kapitalabfindung, eine Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten dar, da die Beitragszahlungen in mehr als zwei Veranlagungszeiträumen erfolgten und einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten umfassten (zur Kapitalabfindung: BFH, Urteil vom 20.09.2016 X R 23/15, DStR 2017, 96, Juris Rn.21; zur Kapitalauszahlung infolge Kündigung der Versicherung: FG Köln, Urteil vom 14.02.2019 15 K 855/18, EFG 2019, 714, Juris Rn. 19).

    3.

    Aufgrund der Kündigung ohne Vorliegen der Voraussetzungen ist die Auszahlung auch außerordentlich (atypisch).

    a)

    Das Erfordernis der Außerordentlichkeit (Atypik) wird sowohl vom Wortlaut des § 34 Abs. 1 EStG als auch von dem des Einleitungssatzes des § 34 Abs. 2 EStG vorausgesetzt. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung dient es der Einschränkung des eher weit geratenen Wortlauts des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG. Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten sind nur dann außerordentlich, wenn die Zusammenballung der Einkünfte nicht dem vertragsgemäßen oder typischen Ablauf der jeweiligen Einkünfteerzielung entspricht (BFH, Urteil vom 20.09.2016 X R 23/15, DStR 2017, 96, Juris Rn. 23).

    b)

    Zwar war eine Kündigungsmöglichkeit in den Versicherungsbedingungen grundsätzlich enthalten.

    c)

    Allerdings lagen die in den Versicherungsbedingungen genannten Voraussetzungen der Kündigung im Streitfall nicht vor, weil die Anwartschaft bereits unverfallbar war.

    aa)

    Gemäß § 5 der Versicherungsbedingungen war die Kündigung nur möglich, solange die Altersversorgung noch nicht unverfallbar ist gemäß § 1b BetrAVG. Gemäß § 1b Abs. 1 Satz 1 Betriebsrentengesetz - BetrAVB - in der von Juli 2002 bis Ende 2008 und damit zum Zeitpunkt des Abschlusses der Versicherungsverträge geltenden Fassung ist die Anwartschaft unverfallbar, wenn der Arbeitnehmer das 30. Lebensjahr vollendet und die Versorgungszusage mindestens fünf Jahre bestanden hat. Bei der Kündigung zum 31.12.2015 bestanden die Verträge, die am 01.12.2002 bzw. 01.01.2006 begonnen hatten, 13 bzw. 9 Jahre, jedenfalls länger als 5 Jahre, und der Kläger war 48 Jahre alt; die Anwartschaft war daher schon unverfallbar.

    bb)

    Die Versicherung hat daher freiwillig eine Kündigung akzeptiert, die sie - ohne dass dies rechtlich irgendwie zweifelhaft gewesen wäre - nicht hätte akzeptieren müssen.

    In dem Akzeptieren einer Kündigung, deren Voraussetzungen offensichtlich nicht vorliegen, liegt aber der Sache nach praktisch ein Aufhebungsvertrag. Für den Kläger war nach den Versicherungsbedingungen zum fraglichen Zeitpunkt keine Möglichkeit gegeben, den Rückkaufswert zu liquidieren, dieser war vielmehr vertragsgemäß bis zum Erreichen der Altersgrenze für den Kläger nicht verfügbar.

    d)

    Der Senat kann offenlassen, ob die Kündigung eines Altersvorsorgevertrages in Form einer Direktversicherung, die entsprechend den Versicherungsbedingungen erfolgt, dem vertragsgemäßen oder typischen Ablauf der Einkünfteerzielung entspricht (vgl. hierzu FG Köln, Urteil vom 14.02.2019 15 K 855/18, EFG 2019, 714, Juris, Revision anhängig BFH X R 7/19). Jedenfalls dann, wenn die Kündigung nach den Vertragsbedingungen nicht bzw. nicht mehr möglich ist, ist dies nicht der Fall.

    aa)

    Dass eine so nicht vorgesehene Kündigung nicht vertragsgemäß ist, versteht sich von selbst.

    bb)

    Der Senat ist der Auffassung, dass sie auch nicht dem typischen Ablauf von Altersvorsorgeverträgen entspricht.

    Der Senat versteht dabei das Merkmal "typischer Ablauf" nicht primär empirisch-statistisch, was zur Folge gehabt hätte, dass hätte geprüft werden müssen, ob Lebensversicherungen Kündigungen, nicht zuletzt aus ökonomischen Erwägungen, weithin auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen, die sich aus den Versicherungsbedingungen ergeben, akzeptieren. Der Senat hält für den "typischen Ablauf" vielmehr den Vertragszweck für entscheidend. Bei Altersvorsorgeverträgen ist dies die Vorsorge für das Alter, also der Erhalt von Leistungen ab oder bei Erreichen der Altersgrenze. Eine Rückzahlung bereits viele Jahre vorher entspricht diesem Zweck nicht und ist daher, jedenfalls wenn sie so nicht ausdrücklich im Vertrag vorgesehen ist, atypisch und damit außerordentlich.

    III.1.

    Die Revision wird zur Fortbildung des Rechts zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO.

    Abgesehen davon, dass bisher noch nicht geklärt ist, ob eine Kündigung vor Erreichen der Altersgrenze überhaupt der Ausübung des Kapitalwahlrechts bei Erreichen der Altersgrenze entspricht (vgl. FG Köln, Urteil vom 14.02.2019 15 K 855/18, EFG 2019, 714, Juris Rn. 29, hierzu BFH X R 7/19), erscheint klärungsbedürftig und klärungswürdig, ob die Außerordentlichkeit der Einkünfte bei Auszahlung des Rückkaufswerts einer Direktversicherung (§ 22 Nr. 5 Satz 1 EStG) jedenfalls dann gegeben ist, wenn die Versicherung eine Kündigung akzeptiert hat, obwohl deren im Vertrag vereinbarten Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.

    2.a)

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    b)

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung -ZPO-.

    3.

    Die Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO dem FA übertragen.