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  • 03.01.2024 · IWW-Abrufnummer 238913

    Bundesgerichtshof: Urteil vom 14.11.2023 – VI ZR 98/23

    Auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ist ein "Ziehen" im Sinne von § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG .


    Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2023 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterin von Pentz, den Richter Dr. Allgayer, die Richterin Dr. Linder und den Richter Dr. Katzenstein
    für Recht erkannt:

    Tenor:

    Die Revision der Klägerin gegen das Urteil der 17. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 24. Februar 2023 wird zurückgewiesen.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

    Tatbestand

    1

    Die Klägerin nimmt die Beklagte nach einem Verkehrsunfall auf hälftigen Gesamtschuldnerausgleich in Anspruch.

    2

    Als ein bei der Klägerin haftpflichtversichertes Fahrzeug mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Anhänger im Jahr 2021 rückwärts rangierte, beschädigte dieser ein anderes Fahrzeug. Die Klägerin regulierte die Aufwendungen des Geschädigten in Höhe von 930 Euro.

    3

    Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 465 € nebst Zinsen zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter.

    Entscheidungsgründe

    I.

    4

    Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Klägerin habe gegen die Beklagte keinen Anspruch aus § 78 Abs. 3 VVG , § 19 Abs. 4 StVG , § 426 BGB . Eine Mehrfachversicherung des Gespanns im Sinne des § 78 Abs. 1 VVG liege vor. Die Klägerin sei Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs und die Beklagte sei Haftpflichtversicherer des Anhängers. Das Zugfahrzeug mit dem Anhänger stelle ein Gespann dar. Beide Versicherer seien dem geschädigten Dritten gegenüber Gesamtschuldner im Sinne des § 426 BGB und hafteten deshalb im Außenverhältnis zunächst voll. Der Innenausgleich richte sich deshalb gemäß § 78 Abs. 3 VVG nach § 19 Abs. 4 StVG . Es habe sich keine anhängerspezifische Gefahr verwirklicht, die eine Abweichung von der Regel des § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG rechtfertige. Auch das Rückwärtsrangieren mit einem Anhänger stelle ein Ziehen im Sinne von § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG dar, was regelmäßig keine Gefahrerhöhung bewirke. Zwar umfasse "Ziehen" im natürlichen Sinne nur eine Bewegung nach vorne. Gegen ein solches Verständnis sprächen jedoch Systematik und Wille des Gesetzgebers. Anhaltspunkte, welche eine Abweichung von der Regel des § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG rechtfertigen könnten, seien nicht vorgetragen. Die Wertung aus dieser Vorschrift sei als andere Bestimmung im Sinne von § 426 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BGB zu verstehen. Es verbleibe daher im Innenverhältnis bei der alleinigen Haftung der Klägerin als Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs.

    II.

    5

    Die dagegen gerichtete Revision der Klägerin ist nicht begründet.

    6

    1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass § 78 Abs. 3 VVG in Verbindung mit § 19 Abs. 4 StVG in der Fassung des Gesetzes zur Haftung bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen im Straßenverkehr vom 10. Juli 2020 (BGBl. I S. 1653) anzuwenden ist, da der Unfall im Jahr 2021 eintrat (vgl. § 65 Abs. 6 StVG ).

    7

    2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass im Verhältnis der Klägerin und der Beklagten zueinander ausschließlich die Klägerin verpflichtet ist, hält rechtlicher Prüfung stand.

    8

    Gemäß § 78 Abs. 3 VVG sind in der Haftpflichtversicherung von Gespannen bei einer Mehrfachversicherung die Versicherer im Verhältnis zueinander zu Anteilen entsprechend der Regelung in § 19 Abs. 4 StVG verpflichtet.

    9

    a) Das bei der Klägerin haftpflichtversicherte Zugfahrzeug ( § 19 Abs. 1 Satz 1 StVG ) bildete mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Anhänger ein Gespann ( § 19 Abs. 2 Satz 1 StVG ). Nach den getroffenen Feststellungen lag eine Mehrfachversicherung ( § 78 Abs. 1 VVG ) vor (siehe weiter Senat, Urteil vom 13. März 2018 - VI ZR 151/17 , NJW 2018, 2120 Rn. 22; BGH, Urteil vom 27. Oktober 2010 - IV ZR 279/08 , BGHZ 187, 211 Rn. 9 ff. ).

    10

    b) Nach § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG ist im Verhältnis der Halter des Zugfahrzeugs und des Anhängers zueinander nur der Halter des Zugfahrzeugs verpflichtet. Dies gilt nicht, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein; in diesem Fall hängt die Verpflichtung zum Ausgleich davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Zugfahrzeug oder dem Anhänger verursacht worden ist ( § 19 Abs. 4 Satz 3 StVG ). Das Ziehen des Anhängers allein verwirklicht im Regelfall keine höhere Gefahr ( § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG ).

    11

    aa) Die Entscheidung über die Haftungsverteilung ist Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (st. Rspr., zuletzt Senat, Urteil vom 22. November 2022 - VI ZR 344/21 , NJW 2023, 1123 Rn. 11).

    12

    bb) Danach ist die Beurteilung, dass die Klägerin (Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs) im Verhältnis zur Beklagten (Haftpflichtversicherer des Anhängers) allein verpflichtet ist ( § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG ), nicht zu beanstanden.

    13

    Entgegen der Auffassung der Revision ist auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ein "Ziehen" im Sinne von § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG . Diese Begriffsverwendung entspricht der Legaldefinition in § 19 Abs. 1 Satz 1 StVG ("[...] eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden [...]"). Die Vorschrift des § 19 Abs. 1 StVG erfasst unabhängig von der Fahrtrichtung jede Bewegung des Anhängers (d.h. auch das Rückwärtsschieben) durch das Zugfahrzeug. Ob der Anhänger beim konkreten Haftpflichtgeschehen gezogen oder geschoben (z.B. während eines Rangiervorganges) wird, ist nicht relevant. Entscheidend ist allein seine abstrakte Bestimmung, prinzipiell an ein Kraftfahrzeug angehängt zu werden (vgl. Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl., StVG § 19 Rn. 28). Vormals hieß es in § 7 Abs. 1 StVG a.F. bezüglich der Anhängerhaftung auch "oder eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug mitgeführt zu werden". Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 19/17964 S. 9, 13) zur Neuregelung der Anhängerhaftung - nun nicht mehr in § 7 StVG , sondern in § 19 StVG - hatte die Ersetzung der Wörter "mitgeführt zu werden" durch "gezogen zu werden" nur sprachliche Gründe. Eine inhaltliche Änderung sollte damit ausdrücklich nicht verbunden sein (vgl. Bollweg/Wächter, NZV 2020, 545, 549; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl., StVG § 19 Rn. 57; zumindest teilweise anders Bauer-Gerland,VersR 2020, 146; siehe weiter § 2 Nr. 2 FZV ). Für ein abweichendes Begriffsverständnis des "Ziehen" in § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG gibt es keine Anhaltspunkte (vgl. BT-Drucks. 19/17964 S. 16 f.). Vielmehr stellt die Gesetzesbegründung darauf ab, dass der Anhänger dem Zugfahrzeug zu- und untergeordnet ist, am Zugfahrzeug hängt und daher von diesem abhängt (vgl. BT-Drucks. 19/17964 S. 17).

    14

    Anders als die Revision meint, steht der Annahme eines Regelfalls nach § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG im Streitfall nicht entgegen, dass sich im Rückwärtsrangieren etwa eine höhere Gefahr durch den Anhänger verwirklicht hätte. Zwar trifft es zu, dass das Gespann länger und unübersichtlicher ist als (nur) das Zugfahrzeug. Allerdings soll der in § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG bestimmte Regelfall nach der gesetzlichen Regelung nur ausnahmsweise durchbrochen werden. Die Gesetzesbegründung führt als Beispiele an, dass "der Anhänger im Einzelfall aufgrund seiner außergewöhnlichen Beschaffenheit (Überlänge, Überbreite, Schwertransporter etc.) eine besondere Gefahr darstellt" oder der verbundene Anhänger einen technischen Defekt aufweist (vgl. BT-Drucks. 19/17964 S. 17; siehe weiter Bauer-Gerland,VersR 2020, 146, 147; Stadler, r+s 2021, 133, 137). Daher kann auch dahingestellt bleiben, ob - wie die Revision beiläufig ausführt - es sich beim Zugfahrzeug um einen LKW und beim Anhänger um einen Auflieger handelte. Im Übrigen wäre nicht festgestellt, dass sich hier durch den Anhänger eine höhere Gefahr als durch das Zugfahrzeug allein auch tatsächlich verwirklicht hätte ( § 19 Abs. 4 Satz 3 StVG ). Die Revision rügt nicht, dass Instanzvortrag übergangen worden ist.

    Seiters von Pentz AllgayerLinder Katzenstein

    Von Rechts wegen

    Vorschriften§ 78 Abs. 3 VVG, § 19 Abs. 4 StVG, § 426 BGB, § 78 Abs. 1 VVG, § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG, § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG, § 426 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BGB, § 65 Abs. 6 StVG, § 19 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 19 Abs. 2 Satz 1 StVG, § 19 Abs. 4 Satz 3 StVG, § 19 Abs. 1 StVG, § 7 Abs. 1 StVG, § 7 StVG, § 19 StVG, § 2 Nr. 2 FZV