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  • 09.01.2024 · IWW-Abrufnummer 239000

    Oberlandesgericht Dresden: Beschluss vom 29.06.2023 – 4 U 2626/22

    1. Die Wiederholung einer Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz steht im gebundenen Ermessen. Sie ist bereits dann geboten, wenn das Berufungsgericht einander widersprechenden Behauptungen ein anderes Gewicht beimisst als das Erstgericht oder von dessen Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen abweisen will.

    2. Ein Versicherungsnehmer, der nach einer verbalen Auseinandersetzung im Straßenverkehr einem anderen, für ihn erkennbar schwerbeschädigten Verkehrsteilnehmer in den Rücken schlägt und diesen dadurch zu Fall bring, nimmt regelmäßig dessen schwere Gesundheitsbeschädigung in Kauf mit der Folge, dass sich sein Haftpflichtversicherer auf einen Leistungsausschluss berufen kann.


    Oberlandesgericht Dresden 

    Beschluss vom 29.06.2023


    In dem Rechtsstreit
    T...... W......, ...
    - Kläger und Berufungskläger -
    Prozessbevollmächtigte:
    Rechtsanwälte K......, ...
    gegen
    ...... Versicherung AG, ...
    vertreten durch den Vorstand
    - Beklagte und Berufungsbeklagte -
    Prozessbevollmächtigte:
    Rechtsanwälte Dr. E...... & Partner,

    wegen Gewährung von Versicherungsschutz

    hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden durch
    Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S......,
    Richterin am Oberlandesgericht Z...... und
    Richterin am Oberlandesgericht P......

    ohne mündliche Verhandlung am 29.06.2023 beschlossen:

    Tenor:

    1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen.
    2. Der Kläger hat Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen Stellung zu nehmen. Er sollte allerdings auch die Rücknahme der Berufung in Erwägung ziehen.
    3. Der Termin zur mündlichen Verhandlung am 04.07.2023 wird aufgehoben.
    4. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert auf 20.109,57 EUR festzusetzen.

    Gründe

    Der Senat beabsichtigt, die zulässige Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch - einstimmig gefassten - Beschluss zurückzuweisen. Die zulässige Berufung des Klägers bietet in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.

    Das Landgericht ist im Ergebnis seiner Beweiswürdigung zu Recht zu der Feststellung gelangt, dass ein Anspruch auf Feststellung der Gewährung von Versicherungsschutz wegen des Schadensereignisses vom 05.10.2019 in Dresden nicht vorliegt.

    1. Die Berufung zeigt keine hinreichenden Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen auf, die in den nach § 529 ZPO gesetzten Grenzen die erneute Durchführung einer Beweisaufnahme gebieten würden.

    Die Wiederholung der Beweisaufnahme steht im gebundenen Ermessen. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen - hier konkret bei der Beweiswürdigung - liegen dann vor, wenn aus Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand haben werden, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Dazu genügen schlüssige Gegenargumente, die die erhebliche Tatsachenfeststellung in Frage stellen (Zöller-Heßler, ZPO, 33. Aufl., § 529 Rz. 3 m.w.N.). Stützt das Erstgericht - wie hier - seine Tatsachenfeststellung auf eine Zeugenvernehmung und die Anhörung einer Partei, so ist eine erneute Vernehmung lediglich mit der Begründung, dabei lasse sich eine bessere Aufklärung erwarten, nicht zulässig (Zöller, a.a.O., Rz. 7 m.w.N.). Vielmehr ist eine erneute Beweisaufnahme nur dann geboten, wenn sich Zweifel aus dem Protokoll ergeben, also die Beweisaufnahme nicht erschöpfend war oder eine protokollierte Aussage im Widerspruch zu den Urteilsgründen steht. Zulässig kann eine erneute Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht sein, wenn das Berufungsgericht einander widersprechenden Bekundungen ein anderes Gewicht beimisst als das Erstgericht, eine Pflicht zur Rekonstruktion des Sachverhaltes lässt sich dem allerdings nicht entnehmen (vgl. Rixecker, NJW 2004, 705 ff). Will das Berufungsgericht von der Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Erstgerichts abweichen, so müssten sich auch hier konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit ergeben bzw. von der Berufung aufgezeigt werden.

    Die Berufung zeigt hier aber weder im Hinblick auf die Aussagen als solche noch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit/Glaubhaftigkeit hinreichende Zweifel auf. Das Landgericht hat vielmehr zutreffend festgestellt, dass die Sachverhaltsdarstellung des Klägers in seiner Schadensmitteilung vom 30.01.2020 objektiv unrichtig ist und sich zur Überzeugungsbildung dabei maßgeblich auf die Aussagen des Geschädigten und seiner Ehefrau gestützt.

    a) Der Kläger hat in der Schadensmitteilung angegeben: "Der Geschädigte hat mehrfach gegen meinen Wagen geschlagen. Ich stieg aus und als er erneut aus holte und ich mich angegriffen fühlte, stieß ich ihn reflexartig weg. Dabei stürzte er auf seine Schulter."

    b) Das Landgericht hat sich aufgrund der Aussagen der Zeugen R...... davon überzeugt gesehen, dass die Angaben des Klägers objektiv falsch sind und das zum Schadensereignis führende Geschehen in wesentlichen Punkten abweichend hiervon und zutreffend von dem Zeugen R...... geschildert worden sei. Danach sei es nach einer verbalen Auseinandersetzung zu der Verletzung des Geschädigten gekommen, als er sich zu dem Fahrzeug des Klägers begeben habe, dort gegen die Hecksäule mit der flachen Hand geschlagen und sich umgedreht habe, da er sich wieder zu seinem Wagen begeben wolle. Er habe in diesem Moment einen Schlag gegen den Rücken gespürt und sei infolgedessen zunächst mit dem Gesicht auf die Motorhaube seines Fahrzeugs und dann mit der rechten Seite auf den Bordstein gefallen. Seine Angaben decken sich mit seiner Zeugenaussage vom 14.10.2019 im beigezogenen Ermittlungsverfahren der StA Dresden 388 Js 9842/20, das nach § 153a StPO gegen Zahlung einer Geldauflage i.H.v. 1000,- EUR eingestellt wurde. Die Schilderung des Kerngeschehens steht zudem im Einklang mit der Aussage der Zeugin R....... Sie hat bestätigt, dass ihr Mann, der zunächst sich an der Fahrerseite des klägerischen Jeeps stand, sich bereits zu ihrem Auto zurückbegeben wollte, als er durch den Kläger von hinten wuchtig geschubst worden sei, so dass er nach vorne geflogen und auf das Gesicht gefallen sei, wodurch die Brille zerkratzt wurde. Letztlich habe er auf dem Bauch gelegen.

    c) Der Kläger hat in seiner informatorischen Anhörung angegeben, er habe den Geschädigten, der mehrfach auf das klägerische Fahrzeug geschlagen habe, bei einem erneuten Ausholen zum Schlag mit beiden Händen gegen die Brust gestoßen, so dass dieser mit der rechten Schulter gegen die Motorhaube des hinter dem Klägerfahrzeug stehenden PkW gefallen sei. Diese Darstellung erklärt nicht den Umstand, dass der Zeuge R...... auf das Gesicht gefallen ist, wodurch seine Brille beschädigt wurde, dass er auf der Bordsteinkante mit der rechten Seite zum Liegen kam und wird selbst von der Zeugin K......, der Lebensgefährtin des Klägers, nicht bestätigt. Die Zeugin hat ausgesagt, sie habe auf dem Beifahrersitz gesessen, und habe über die linke Schulter nach hinten blickend gesehen, wie - nach mehrfachen Schlägen des Geschädigten gegen das Heck des Jeeps - sich beide näher gekommen seien und wie der Geschädigte rückwärts gestürzt sei. Sie habe nicht bemerkt, weshalb der Geschädigte gestürzt und ob er gegen sein Fahrzeug gefallen sei. Die Aussage der Zeugin zum Kerngeschehen ist in der Gesamtwürdigung unergiebig und in wesentlichen Punkten substanzlos und damit nicht geeignet, Zweifel an der Darstellung der Zeugen R...... zu begründen.

    d) Die mit der Berufung vorgetragenen Angriffe geben zu begründeten Zweifeln an den Zeugenaussagen der Zeugen R...... keinen hinreichenden Anhalt. Soweit die Berufung Widersprüche der Aussagen der Zeugen R...... in der Schilderung des Geschehens rügt, beschränken sich diese auf die Randumstände und lassen sich mit dem Zeitablauf von mehr als drei Jahren erklären. Die Zeugin R...... hat das Geschehen auf der Rückbank der Fahrerseite sitzend, sowohl durch die Windschutzscheibe als auch durch die linken Seitenscheiben beobachten können, zumal es sich bei ihrem PkW um einen Kleinwagen handelt (vgl. E-Akte StA Dresden: Kia Picanto). Ob sich die Zeugin daran erinnern kann, ob sich der Kläger während des Gesprächs (wieder) in seinem Jeep oder außerhalb befunden hat, ist für das spätere Geschehen und insbesondere den Stoß unerheblich und vermögen schon aus diesem Grund Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage nicht zu begründen. Die von der Berufung im übrigen aufgezeigten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen R...... im Hinblick auf die Lückenhaftigkeit der Schilderung und gegebenenfalls - auch auf Seiten der Zeugin K...... - bestehenden Voreingenommenheiten hat das Landgericht gesehen, aber im Ergebnis der Beweiswürdigung als nicht durchgreifend erachtet. Vielmehr hat es sich davon überzeugt gesehen, dass der Kläger entgegen der Schadensschilderung den Zeugen R...... von hinten geschubst hat, der dadurch zu Boden stürzte und sich dabei schwer verletzte.

    2. Ausgehend von der Feststellung, dass der Kläger den an einer spastischen Lähmung der rechten Seite leidenden, schwerbeschädigten Geschädigten von hinten einen kräftigen Stoß in den Rücken gegeben hat, liegt es nach Ansicht des Senats nahe, von einem Leistungsausschluss wegen vorsätzlichen Handelns nach § 103 VVG auszugehen. Bei einem durch einen Stoß in den Rücken verursachten Hinfallen ist es zwar im Regelfall eher zu verneinen, dass der Eintritt von schweren Gesundheitsschäden von einem für den Leistungsausschluss erforderlichen bedingten Körperverletzungsvorsatz mit umfasst ist. Vorliegend hat der Kläger nach eigener Darstellung aber selbst bemerkt, dass "etwas mit dem Geschädigten nicht in Ordnung sei", der "mit beiden Händen" an dem Schloss des Sicherheitsgurtes herumgemacht und "richtig gezittert" habe. Bei dem dennoch ausgeübten kräftigen Stoß in den Rücken, der den Geschädigten nach vorne fliegen ließ, ist die Annahme bedingten Vorsatzes hinsichtlich der infolge des Sturzes eingetretenen schwerwiegenden Verletzungsfolgen damit jedenfalls nicht fernliegend.

    3. Ob ein Leistungsausschluss nach § 103 VVG gegeben ist, kann aber im Ergebnis dahinstehen. Denn das Landgericht ist zutreffend von einer Leistungsfreiheit wegen einer vorsätzlichen Aufklärungspflichtverletzung gem. § 5 (3.) Satz 2 AHB 2011 durch Falschangaben in der Schadensmeldung vom 20.01.2020 ausgegangen. Ohne Erfolg macht die Berufung dagegen geltend, die Beklagte habe einen dahingehenden Vorsatz des Klägers nicht nachgewiesen. Der Kläger hat entgegen seinen Angaben, den Geschädigten von hinten gestoßen, so dass er zu Fall gekommen ist. In der Schadensmeldung dagegen hat er eine zumindest subjektiv so empfundene Notwehr- bzw. Verteidigungssituation geschildert, für die auch nach dem eigenen Sachvortrag des Klägers aber gerade kein Anhalt bestand. Die Abweichung, an der er auch im weiteren Verlauf festgehalten hat, rechtfertigt den Schluss auf vorsätzliches Handeln ohne weiteres.

    Der Senat rät zur Rücknahme der Berufung, die zwei Gerichtsgebühren spart.

    RechtsgebieteZPO, VVGVorschriften§ 529 ZPO, § 103 VVG