19.10.2021 · IWW-Abrufnummer 225310
Finanzgericht Berlin-Brandenburg: Urteil vom 17.06.2021 – 4 K 4206/18
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Berlin-Brandenburg
Klägerin,
bevollmächtigt:
gegen
das Finanzamt,
Beklagter,
den Richter am Finanzgericht ...,
den Richter am Finanzgericht ...,
die ehrenamtliche Richterin ... sowie
die ehrenamtliche Richterin ...
Tenor:
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin auferlegt.
Die Beteiligten streiten über einen Haftungsbescheid, mit dem die Klägerin wegen Lohnsteuer und sonstiger Lohnabzugsbeträge für die Zeit von September 2012 bis September 2014 nach § 42 d Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Haftung genommen wurde.
Die Klägerin mit Sitz in C... fungiert als Vertriebsgesellschaft der B... GmbH mit Sitz in D..., die zu dem weltweit tätigen Pharmaunternehmen E... mit Sitz in ... gehört. Im Zuge der Übernahme der F...-Gruppe im Jahr 2011, die ihrerseits im Jahr 2006 die G...-Gruppe erworben hatte, strukturierte die Klägerin ihren Vertriebsbereich neu. Dies hatte zur Folge, dass der Mitarbeiterstamm beider Unternehmungen von 800 auf 328 Stellen (Außen- und Innendienst), davon 238 im Außendienst, abgebaut wurde. Sukzessive sollten die bisherigen Standorte in H... geschlossen und Aufgabenbereiche am Standort in D... gebündelt bzw. fremdvergeben werden.
Im Zuge der Umstrukturierungsmaßnahmen schloss die Klägerin mit dem Betriebsrat am 19.04.2012 einen Interessenausgleich mit dem Ziel, die mit dem Personalabbau verbundenen wirtschaftlichen Nachteile abzumildern. Für den Innen- und Außendienst vereinbarten die Beteiligten (u. a.) unter § 4 "Personelle Auswirkungen", dass den von der Betriebsänderung betroffenen Mitarbeitern für den Verlust des Arbeitsplatzes "Freiwilligen-Abfindungen" (Freiwilligenprogramm) angeboten werden, bei deren Berechnung so genannte "Erhöhte Altersfaktoren" einfließen sollten (siehe z. B. § 4 zweiter Absatz). In weiteren Betriebsvereinbarungen vom selben Tag bestimmten die Beteiligten ein Punktesystem, dass der Sozialauswahl zugrunde gelegt werden sollte und gestalteten die Ermittlung der Altersfaktoren zur Berechnung der Abfindungshöhe näher aus. Für Arbeitnehmer, die auf eine Kündigungsschutzklage verzichteten, galt nach Ziff. 2 ein Altersfaktor von 1,5. Für weitere in Ziff. 3 der Betriebsvereinbarung näher bezeichnete Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse einvernehmlich beendet wurden, sah die Betriebsvereinbarung nach Lebensalter gestaffelte Altersfaktoren vor.
In dem zwischen der Geschäftsleitung der Klägerin und ihrem Betriebsrat abgeschlossenen Sozialplan vom 19.04.2012 vereinbarten die Beteiligten in Umsetzung des Interessenausgleichs (u. a.) gemäß § 12 eine Abfindung für die bei ihr aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmer, welche mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig wurde. Bei der Berechnung der Kündigungsfrist wurden nach Ziff. 9 des Sozialplans in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit gestaffelte Auslauffristen (von mindestens 1 bis zu maximal 5 Monate) vereinbart.
Im Falle eines Kündigungsrechtsstreits sollten die aufgrund eines gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs vom Gericht festgesetzten Abfindungen auf die "Freiwilligen-Abfindungen" angerechnet werden. Gleiches sollte für Entgeltzahlungen gelten, die aufgrund eines Kündigungsschutzprozesses über den Kündigungszeitpunkt hinaus von der Klägerin zu zahlen sind.
Den Mitarbeitern wurde nach § 11 die Möglichkeit eingeräumt, die Abfindungsleistung in das für sie geführte Langzeitkonto einzubringen. Langzeitkonten waren bereits aufgrund einer Anlage zur Betriebsvereinbarung vom 10.12.2010 (sogenannter Demografiefonds) eingerichtet worden. Mit Betriebsvereinbarung vom 13.04.2011 wurden die Ansparmöglichkeiten um weitere Einbringungsmöglichkeiten ergänzt (z. B. Entgeltumwandlung von Urlaubs- und Brückentagen, Ansparung durch Einbringung von Arbeitsstunden u. s. w.). Unter § 5 der betreffenden Anlage "Entnahme von Guthaben aus den Langzeitkonten" war geregelt, dass die Arbeitnehmer Wertguthaben mitarbeiterseitig zur vollständigen oder teilweisen Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung vor der Inanspruchnahme gesetzlicher Altersrente nutzen können (§ 5 I.). Bei Störfällen (siehe § 5 II.) wurde eine Einmalauszahlung an den Arbeitnehmer bzw. dessen Erben unter Beachtung des Abzugs der Lohnsteuer und der Gesamtsozialversicherungsbeiträge bzw. eine Übertragung des bestehenden Wertguthabens auf den neuen Arbeitgeber bzw. die Deutsche Rentenversicherung Bund nach Maßgabe der Norm des § 7f des Sozialgesetzbuches (SGB) IV geregelt.
Nach § 4 der Anlage zur Betriebsvereinbarung vom 13.04.2011 war die Klägerin verpflichtet, die auf den Langzeitkonten angesammelten Wertguthaben im Rahmen eines Gruppenversicherungsvertrages bei der I...-AG als Kapitalanlage (insolvenzfest) anzulegen. Für den Fall der Einbringung der Abfindungsleistung in das Langzeitkonto sollte die Abfindung gemäß § 11 des Sozialplans vom 19.04.2012 in ein Arbeitsentgeltguthaben sowie in ein Arbeitgebersozialversicherungsguthaben gesplittet werden. In § 12 des Sozialplanes ist geregelt, dass der Anspruch auf Abfindung mit Zugang der Kündigung oder Abschluss eines Aufhebungsvertrages entsteht. Der Anspruch ist mit seinem Entstehen vererblich, kann aber nicht abgetreten oder verpfändet werden. Im Falle eines Kündigungsschutzrechtsstreits wird die Abfindung erst mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens fällig.
Im Streitfall leistete die Klägerin für eine Vielzahl von Arbeitnehmern, die an dem von ihr angebotenen "Freiwilligenprogramm" teilnahmen, Abfindungen in Höhe von 8.205.160,66 €, die sie weder dem Lohnsteuerabzug unterwarf noch Beiträge zur Gesamtsozialversicherung abführte. Die Abfindungsleistungen wurden ebenso nicht als Kapitalanlage bei der I...-AG angelegt.
Die Auszahlung der (hier streitgegenständlichen) Abfindungsleistungen erfolgte nicht auf die Bankkonten der Arbeitnehmer. Stattdessen erklärten sich die Arbeitnehmer schriftlich mit dem Merkblatt "Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäß Interessenausgleich /Sozialplan A... vom 19.04.2012" einverstanden, die Abfindung ihrem Langzeitkonto gutzuschreiben. Jeweils wenige Tage vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragten die gekündigten Arbeitnehmer bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (fortan DRV) die Übertragung ihres Wertguthabens auf die DRV nach § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV. Aufgrund einer internen Personalmitteilung wurde die Auszahlungsstelle der Klägerin angewiesen, die hier streitgegenständlichen Abfindungsleistungen an die Langzeitkonten der Arbeitnehmer zu zahlen. Die Klägerin bestätigte der DRV auf einem Formular (V 9110 FM) die Angaben zum Wertguthaben. Nach Überweisung des Wertguthabens bestätigte die DRV den ausgeschiedenen Arbeitnehmern die Übertragung ihres Wertguthabens.
Soweit sich die Arbeitnehmer neben der geschilderten Übertragung der Wertguthaben auf die DRV Teile ihrer Abfindungsleistung auf ihr Konto überweisen ließen, nahm die Klägerin einen Lohnsteuerabzug vor, führte auch die Sozialversicherungsbeiträge ab, nahm die entsprechenden Beträge in den elektronischen Steuerbescheinigungen auf und versteuerte die Abfindung als ermäßigt besteuerten Arbeitslohn nach der so genannten Fünftelregelung (siehe § 24 Abs. 1 Nr. 1a i. V. m. § 34 Abs. 1 und 2 Nr. 2 EStG).
Im Rahmen einer bei der Klägerin durchgeführten Lohnsteueraußenprüfung, die im Auftrag des Beklagten nach § 195 der Abgabenordnung (AO) durch das Finanzamt J... als das für den Betriebssitz der B... GmbH zuständige Betriebsfinanzamt durchgeführt wurde, vertrat der Prüfer in seinem Bericht vom 28.01.2016 (Blatt [Bl.]19 ff Lohnsteueraußenprüfungsakten) die Auffassung, die mit den Arbeitnehmern vereinbarten Abfindungen und an die DRV zur Auszahlung gebrachten Beträge seien zu Unrecht nicht dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden. Zwar könnten nach § 3 Nr. 53 EStG Zeitwertkonten (Langzeitkonten), die in zulässiger Weise gebildet worden seien, in "einem Störfall", hier: durch Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber, steuerfrei auf die DRV überragen werden. Dies treffe aber nur für solche Zeitwertguthabenkonten zu, die vor der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig geworden seien. Ein solcher Störfall liege hier aber nicht vor, weil die Abfindungen aufgrund der Bestimmung im Sozialplan, auf denen die Abwicklungsbeträge der Arbeitnehmer beruhten, vorsähen, dass die Abfindung erst mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig würde. Im Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 17.06.2009 (Bundessteuerblatt [BStBl] I 2009, 1286) werde insoweit darauf hingewiesen, dass in einem Zeitwertkonto keine weiteren Zuführungen mehr unversteuert vorgenommen werden dürften, sobald feststehe, dass die zugeführten Beträge nicht mehr durch Freistellung in diesem Arbeitsverhältnis vollständig aufgebraucht werden könnten. Im Streitfall könnten die Abfindungen bei der Klägerin nicht mehr durch Freistellung von der Arbeitsleistung in Anspruch genommen werden, weil das Arbeitsverhältnis zu ihr bereits vor der Fälligkeit der Abfindungsleistung beendet worden sei. Daraus folge, dass die Abfindung von einer steuerfreien Übertragung des Wertguthabens auf die DRV ausgenommen sei und folglich mit der Auszahlung an diese als zugeflossener sonstiger Bezug der Lohnsteuer hätte unterworfen werden müssen.
Der Beklagte folgte der Auffassung des Prüfers und erließ am 09.06.2017, welcher am 20.06.2017 beim Bevollmächtigten einging (Bl. 148 Lohnsteueraußenprüfungsakte), einen auf § 42d Abs. 1 EStG gestützten Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnabzugsbeträge für die Zeit von September 2012 bis September 2014 (Bl. 5 ff Gerichtsakte), mit dem er unter anderem die Klägerin hinsichtlich der nicht einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuern in Höhe von 3.446.167,48 € (42 % der Abfindungen), Solidaritätszuschlag zur Lohnsteuer in Höhe von 189.539,21 € (5,5 % der Abfindungen) sowie Lohnkirchensteuern in Höhe von 172.308,37 € (pauschal 5 % der Abfindungen) für Abfindungsleistungen in Höhe von 8.205.160,66 € (Bl. 40 Lohnsteueraußenprüfungsakte) in Anspruch nahm. Zur Begründung verwies er im Erläuterungsteil auf die Feststellungen im Lohnsteueraußenprüfungsbericht vom 28.01.2016. Ein Arbeitslohnzufluss läge vor und eine Nachversteuerung der Abfindungszahlungen sei gerechtfertigt. Anderenfalls würde ein Präzedenzfall geschaffen, der die Regelung des Gesetzgebers in § 34 EStG in Bezug auf Entlassungsentschädigungen obsolet machen würde.
Von einer Inanspruchnahme der Arbeitnehmer sei abzusehen, weil die Klägerin die Lohnsteuer in unzutreffender Höhe einbehalten und abgeführt habe. Die Klägerin sei als Haftende anstelle des Arbeitnehmers in Anspruch zu nehmen, weil ein Haftungsausschluss nicht vorliege. Ihre Inanspruchnahme sei auch nicht unbillig, zudem habe sie sich mit ihrer Inanspruchnahme einverstanden erklärt (siehe Erläuterungsteil im Haftungsbescheid vom 09.06.2017).
Mit Schriftsatz vom 18.06.2017 legte die Klägerin gegen den Haftungsbescheid vom 09.06.2017, welcher der hiesigen Prozessbevollmächtigten (mittlerweile unstrittig) erst nach Ablauf der dreitägigen Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 20.06.2017 zugegangen war, vollumfänglich Einspruch ein. Die Klägerin sieht die Voraussetzungen für die Haftungsinanspruchnahme für die Lohn- und Annexsteuern der an die ausgeschiedenen Arbeitnehmer gezahlten Abfindungsleisten für nicht erfüllt an. Zur Begründung führte sie aus, hinsichtlich der strittigen Entgelte fehle es an einem Zufluss, weil die Abfindungen wirksam einem Wertguthaben nach § 7b SGB IV zugeführt worden seien, welches sodann mit steuerbefreiender Wirkung auf die DRV übertragen worden sei (§ 7f Abs. 1 Satz 2 SGB IV, § 3 Nr. 53 Satz 2f EStG). Eine Besteuerung scheide aus, weil die Fälligkeit der Abfindung durch Zuführung auf das Wertguthabenkonto aufgeschoben sei und eine wirtschaftliche Verfügungsmacht der betroffenen Arbeitnehmer über die Wertguthaben erst mit Auszahlung der nämlichen Guthaben durch die DRV stattfinde, woran es mangele. Davon abgesehen wäre bei Auskehrung der Beträge nicht die Klägerin, sondern die DRV verpflichtet, die Lohn- und Annexsteuern sowie die Gesamtsozialversicherungsbeträge beim Betriebsstättenfinanzamt und den Sozialversicherungsträgern anzumelden und abzuführen, weil mit der Übertragung der Wertguthaben die entsprechenden Arbeitgeberpflichten von der Klägerin auf die DRV übergingen. Es treffe zwar zu, dass die Ansparung des Wertguthabens (Zeitwertkonto) im Regelfall dazu diene, den angesparten Betrag im Zusammenhang mit einer beabsichtigten vollen oder teilweisen Freistellung von der Arbeitsleistung während des noch fortbestehenden Dienstverhältnisses auszuzahlen. Dieser Zweck könne hier zwar nicht erreicht werden, weil bereits bei Zuführung der Abfindung zum Wertguthabenkonto feststehe, dass das Arbeitsverhältnis zur Klägerin beendet sei und eine Freistellung ihr gegenüber nicht mehr in Betracht komme. Dies sei indes unbeachtlich, weil der Gesetzgeber mit der Schaffung der Übertragungsmöglichkeit des Wertguthabens auf die DRV zu erkennen gegeben habe, dass die soziale Absicherung einer langfristig geplanten Freistellung auch bestehen bleiben solle, wenn sich nach der Zuführung zum Wertguthabenkonto ein weiteres (sozialversicherungspflichtiges) Beschäftigungsverhältnis nicht anschließe. Insoweit sei es ausreichend, dass bei gleichmäßiger Verteilung des Wertguthabens von der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bis zum Beginn der Regelaltersrente den betroffenen Arbeitnehmern aus dem Wertguthaben maximal ein monatlicher Betrag zufließe, der seinem letzten Arbeitsentgelt annähernd entspreche. Diese Voraussetzung werde mit den bei der Klägerin geführten Lebensarbeitszeitkonten erfüllt. Die Auffassung des Beklagten bzw. der Finanzverwaltung, dass steuerneutrale Zuführungen zum Zeitwertkonto nur unter der Voraussetzung eines fortbestehenden Beschäftigungsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber rechtlich zulässig seien und weitere unversteuerte Zuführungen ausschieden, wenn feststehe, dass die dem Konto zugeführten Beträge nicht mehr durch eine Freistellung vollständig aufgebraucht werden könnten (siehe Schreiben des BMF vom 17.06.2009 VV DEU BMF 2009-06-17 IV C 5-S 2332/07/0004; BStBl I 2009, 1286, Buchst. A Ziff. I. sowie Buchstabe B Ziff. I.), greife zu kurz und könne die Haftungsinanspruchnahme nicht begründen.
Mit Schriftsatz vom 13.06.2018 (Bl. 136 f. Rechtsbehelfsakte) stimmte die Klägerin zu, dass das Einspruchsverfahren betreffend die Lohn- und Annexsteuern der Jahre 2013 und 2014 gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO bis zu einer abschließenden Entscheidung über das Streitjahr 2012 ruhen solle. Dem folgend wurde das Einspruchsverfahren in Bezug auf folgende Verfahrensgegenstände fortgeführt:
Arbeitnehmer Geburtsdatum Kündigung zum Abfindung (abgerundet in €) a) Übertragung des Guthabens auf DRV
b) Bestätigung des Übergangs
K... ........1962 31.10.2012 365.648 a) 21.02.2013
(davon 300.000 als Wertguthaben) b) 26.04.2013
L... ........1960 30.11.2012 235.820 a) 21.03.2013
b) 28.05.2013
M... ........1965 31.12.2012 143.235 a) 21.03.2013
b) 28.05.2013
N... ........1958 30.11.2012 200.000 a) 21.03.2013
b) 28.05.2013
Summe 879.055
Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin weiterhin gegen ihre Haftungsinanspruchnahme dem Grunde und der Höhe nach. Sie wiederholt und präzisiert ihren vorinstanzlichen Vortrag und hält daran fest, dass die Abfindungen als sonstige Bezüge den betreffenden Arbeitnehmern nicht nach § 11 EStG zugflossen seien. Mit der Zuführung der Beträge auf das Wertguthabenkonto werde kein Zufluss bewirkt. Auch die Übertragung des Wertguthabens auf die DRV sei nach § 3 Nr. 53 EStG steuerbefreit und vermöge eine Einbehaltungs- und Abführungsverpflichtung hinsichtlich Lohn- und Annexsteuern nicht zu begründen. Die spätere Auszahlung der Beträge durch die DRV an die betroffenen Arbeitnehmer während der Freistellungsphase sei gleichfalls ohne Belang, weil die entsprechenden Lohnsteuer-Arbeitgeberpflichten mit der Übertragung der Konten auf die DRV übergegangen seien. Davon abgesehen sei bedeutsam, dass bei tatsächlicher Auszahlung durch die DRV erneut Lohnsteuern abgeführt werden müssten und insoweit eine verfassungsrechtlich unzulässige Doppelbesteuerung einträte. Weiterhin weist die Klägerin auf höchstrichterliche Rechtsprechung hin. Selbst für den Fall, dass die Abfindung mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig geworden sei, wäre die Fälligkeit der Zahlungen unter der Berücksichtigung des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.11.2009 (XI R 1/09, BStBl II 20109, 746 Rz. 12) wirksam aufgeschoben worden.
Die betreffenden Guthaben seien nämlich bereits durch die gegenüber der Klägerin erfolgten Haftungsinanspruchnahme in nämlicher Höhe besteuert worden. Überdies sei die mit dem Haftungsbescheid beanspruchte Lohnsteuer überhöht, weil die einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuern lediglich etwa 20 % des Bruttolohns ausmachen würde. Wegen des weiteren Vortrags wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 01.04.2019 ergänzend Bezug genommen (Bl. 53 ff. Gerichtsakte).
Die Klägerin beantragt,
den Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnabzugsbeträge für die Zeit von September 2012 bis Dezember 2012 vom 09.06.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 dahingehend zu ändern, dass die in 2012 an die Deutsche Rentenversicherung Bund geleisteten Beträge in Höhe von 879.055,13 € vom Haftungsbetrag abgesetzt werden;
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte wiederholt seinen Vortrag. Ergänzend führt er aus, dass der von der Klägerin zitierten Entscheidung des BFH vom 11.11.2009 (a. a. O.) ein anderer Sachverhalt zugrunde liege und für den vorliegenden Fall eine andere Beurteilung nicht rechtfertigen könne. Soweit die Klägerin darauf verweise, dass die Broschüre "Wertguthaben" des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Bl. 86 ff. Gerichtsakte) beispielhaft auch "Sondervergütungen" wie etwa "Abfindungen" als Arbeitsentgelte erwähne, sei gleichfalls keine andere Entscheidung gerechtfertigt, weil Abfindungen nicht zwangsläufig nur für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt würden. Dass die DRV bei Auszahlungen der Guthaben an die Arbeitnehmer in rechtlich unzutreffender Weise Lohnsteuer einbehalte und abführe, vermöge an der lohnsteuerrechtlichen Beurteilung der zeitlich vorhergehenden Zahlungen der Klägerin an die DRV ebenso nichts zu ändern.
Dem Senat haben bei seiner Entscheidungsfindung neben einem Band (Bd.) Streitakten zum vorliegenden Verfahren je ein Bd. Rechtsbehelfs- und Lohnsteuer-Außenprüfungsakten sowie ein Leitzordner "Lohnsteuer-Außenprüfung 2015" des Beklagten zur Steuernummer ... vorgelegen, auf deren Inhalt ergänzend Bezug genommen wird.
Der angefochtene Lohnsteuerhaftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt nicht die Rechte der Klägerin (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung [FGO]).
Nach § 191 Abs.1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes - BFH/NV - 2017, 593 m. w. N.). Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 Abs.1 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensausfall, Ermessensüber/-unterschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar. Prüfungsmaßstab hierfür ist allein die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung).
Zu Recht hat der Beklagte angenommen, dass in der Person der Klägerin der objektive Haftungstatbestand gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt sei. Den Arbeitnehmern ist spätestens mit der Überweisung der Abfindungsbeträge auf die bei der DRV geleisteten Wertguthaben jeweils gegenwärtiger Arbeitslohn als sonstiger Bezug zugeflossen (§ 38a Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG).
Gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. Anlässlich der Auszahlung der Arbeitslöhne hat er die Lohnsteuer gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG für Rechnung der Arbeitnehmer einzubehalten und diese Steuern nach § 41a Abs. 1 Nr. 2 EStG fristgerecht, d. h. bis zum 10. Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteueranmeldungszeitraumes, an den Beklagten abzuführen (Fälligkeitssteuer). Dabei bemisst sich die Jahreslohnsteuer nach dem Arbeitslohn, den der Arbeitnehmer im Kalenderjahr bezieht. Arbeitslohn, der - wie hier - nicht als laufender Arbeitslohn, sondern als sonstiger Bezug geleistet wird, wird nach § 38a Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG in dem Kalenderjahr bezogen, in dem er dem Arbeitnehmer zufließt.
Dass die fraglichen Abfindungen ertragssteuerrechtlich Arbeitslohn darstellen, bedarf keiner vertieften Ausführungen. Denn die Abfindungen werden aus Anlass der Beendigung des Dienstverhältnisses (Arbeitsverhältnis) als Entschädigung für künftige Einnahmeausfälle bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit der aus dem Unternehmen der Klägerin ausscheidenden Arbeitnehmern geleistet. Als durch die Beschäftigung veranlasste Einnahmen werden sie "für" eine Beschäftigung geleistet (für Entlassungsentschädigungen bei nichtselbständiger Arbeit siehe § 2 Abs. 2 Nr. 4 Lohnsteuer-Durchführungsverordnung [LStDV] sowie § 24 Nr. 1 a) und b) EStG).
Die Abfindungen sind auch zugeflossen.
Der Zufluss von Arbeitslohn setzt die Erlangung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über ein Wirtschaftsgut voraus (siehe auch BFH-Urteil vom 23.07.2017 VI R 4/16, BStBl II 2018, 208 [BFH 23.08.2017 - VI R 4/16]). Ob die wirtschaftliche Verfügungsmacht übergegangen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles (Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 16.02.2012 14 K 202/11, Entscheidungen der Finanzgerichte [EFG] 2012, 1397).
Zuflusszeitpunkt ist der Tag der Erfüllung des Anspruchs des Arbeitnehmers, also der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die geschuldete Leistung tatsächlich erbringt (BFH-Urteil vom 22.02.2018 VI R 17/16, BStBl II 2019, 496).
Hiervon ausgehend liegt ein Zufluss vor, wenn Geldbeträge fließen, sei es, dass sie bar ausgezahlt oder einem Konto des Empfängers bei einem Kreditinstitut gutgeschrieben werden. Auch eine Gutschrift in den Büchern des Verpflichteten bei Bestehen einer Zahlungsverpflichtung kann einen Zufluss bewirken. Dies setzt allerdings voraus, dass der Gläubiger in der Lage sein muss, den Leistungserfolg ohne weiteres Zutun des im Übrigen leistungsbereiten und leistungsfähigen Schuldners herbeizuführen. Es muss aber eine Zahlungsverpflichtung bestehen. Darüber hinaus kann auch eine Novation (Schuldumwandlung) zu einem Zufluss führen. Durch die Novation wird ein Schuldverhältnis durch ein neues ersetzt. Das alte Schuldverhältnis erlischt (Brox, Allgemeines Schuldrecht, 6. Aufl. 1977, § 16 Rz. 195). Überdies liegt ein Zufluss auch im Fall einer Lohnverwendungsabrede vor, also, wenn der geschuldete Abfindungsbetrag nicht dem Arbeitnehmer ausbezahlt, sondern auf seine Weisung anderweitig verwendet wird (Abkürzung des Leistungsweges). Schließlich wird ein Zufluss auch dadurch bewirkt, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen unmittelbaren und unentziehbaren Rechtsanspruch gegen einen Dritten verschafft.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall liegt ein Zufluss der Abfindungen als Arbeitslohn vor und ist eine Lohnsteuer im Jahr 2012 ausgelöst worden. Dieser Würdigung liegen folgende Erwägungen zugrunde:
Obschon die Abfindungsbeträge an die Arbeitnehmer weder bar ausgezahlt noch deren Bankkonten im Kalenderjahr 2012 gutgeschrieben worden waren, ist ein gegenwärtiger Zufluss von Arbeitslohn nach § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG anzunehmen, weil die Arbeitnehmer mit der einvernehmlichen Zuführung ihrer mit Beendigung ihres Dienstverhältnisses fällig gewordenen Abfindungsbeträge auf ihre bestehenden Langzeitkonten wirtschaftlich Verfügungsmacht über die betreffenden Beträge erlangt hatten.
Die Zuführung der Abfindungen auf die Langzeitkonten konnte die Fälligkeit der Arbeitslöhne (Abfindungen) nicht hinausschieben bzw. einen Zufluss bei den Arbeitnehmern verhindern. Auch die Übertragung der um die Abfindungen aufgestockten Wertguthabenkonten auf die DRV, die an sich nach § 3 Nr. 52 EStG steuerbefreit ist, vermag an der Lohnsteuerpflicht nichts zu ändern. Die höchstrichterliche Rechtsprechung (siehe BFH-Urteil vom 22.02.2018 a. a. O. mit vielfachen Hinweisen auf die Rechtsprechung der Finanzgerichte), welche im Grundsatz davon ausgeht, dass die aufgrund einer zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarung erfolgten Zuführungen von künftig fällig werdendem Arbeitslohn zu sog. Wertgutenhabenkonten (Zeitwertkonten) keine Auszahlung bewirken und keinen gegenwärtig zufließenden Arbeitslohn darstellen, findet hier keine Anwendung.
Im Hinblick auf die um die Abfindungen (scheinbar) aufgestockten Wertguthaben fehlt es an wirksam abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarungen. Die an die Arbeitnehmer aufgrund des Freiwilligenprogramms geleisteten Abfindungen aus Anlass des Verlustes ihres Arbeitsplatzes (Einmalzahlungen) stellen kein Arbeitsentgelt i. S. des § 14 SGB IV dar. Mangels Arbeitsentgeltcharakters konnten die Abfindungsbeträge weder den Wertguthabenkonten der betreffenden Arbeitnehmer wirksam zugeführt werden noch konnten die um die Abfindungsbeträge scheinbar aufgestockten Wertguthabenkonten wirksam auf die DRV nach Maßgabe von § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV übertragen werden, mit der Konsequenz, dass die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 52 EStG ebenso nicht eingreift.
Die zwischen der Klägerin und den Arbeitnehmern abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarungen sind unwirksam, weil der von den Beteiligten verfolgte Vertragszweck nicht erreicht werden konnte und es den Vereinbarungen von vornherein an einer Geschäftsgrundlage fehlte.
Die Lehre von der Geschäftsgrundlage gilt (u. a.) in Fällen der übermäßigen Leistungserschwerung, der Zweckvereitelung, der Äquivalenzstörung und des beiderseitigen Motivirrtums (vgl. Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 12. Aufl. 1988, § 20 Rdnr. 427). Vorliegend hätten die Parteien nach Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte eine Zuführung zu den Langzeitkonten nicht vereinbart, wenn ihnen bekannt gewesen wäre, dass eine Übertragbarkeit der Abfindungen auf die DRV nach Maßgabe von § 7f SGB IV nicht in rechtlich zulässiger Weise erfolgen konnte.
Hierzu im Einzelnen:
Mit der durch das Flexi-II-Gesetz (Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen und zur Änderung anderer Gesetze neu gefasst, Bundesgesetzblatt [BGBl] 2008, 2940) neu gefassten Norm des § 7b SGB IV wird bestimmt, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit einer schriftlich zu vereinbarenden Wertguthabenvereinbarung darauf einigen, dass "Arbeitsentgelt in das Wertguthaben eingebracht wird, um es für Zeiten der Freistellung von der Arbeitsleistung oder der Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit zu entnehmen" (§ 7b Ziff. 3 SGB IV). § 7b Ziff. 4 SGB IV normiert, dass das aus dem "Wertguthaben fällige Arbeitsentgelt mit einer vor oder nach der Freistellung von der Arbeitsleistung oder der Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit erbrachten Arbeitsleistung erzielt wird". Mit der Wertguthabenvereinbarung einigen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer somit darauf, einen Teil des dem Arbeitnehmer zustehenden Arbeitsentgeltes nicht auszuzahlen, sondern in ein vom Arbeitgeber geführtes, insolvenzrechtlich geschütztes Konto (siehe § 7e SGB IV) für eine spätere Freistellung z. B. Elternzeit, Pflegezeit, Vorruhestand einzustellen (vgl. Meurs, Übertragung von Wertguthaben auf die DRV - Abruf und Ankündigungsfristen, Betriebsberater [BB] 2012, 1012; BMF-Schreiben vom 17.06.2009 VV DEU BMF 2009-06-17 IV C 5-S 2332/07/0004, BStBl I 2009, 1286; Schmidt/Krüger, 38. Aufl. 2019, § 19 Rz. 100 Stichwort: "Arbeitszeitkonten"). Wesentliche Rechtsfolge einer Wertguthabenvereinbarung ist, dass Einstellungen keine Beitragspflicht zur Sozialversicherung auslösen (§ 23 b Abs. 1 Satz 1 SGB IV) und auch nicht der Lohnsteuer unterliegen, da dem Arbeitnehmer noch kein Arbeitslohn zufließt (siehe BFH-Urteil vom 28.10.2020 X R 1/19, BStBl II 2021, 283). Die durch Zuführung der auf dem Guthabenkonto angesammelten Beträge aufgeschobene Verbeitragung bzw. Lohnversteuerung wird nach § 23b Abs. 1 SGB IV vielmehr erst ausgelöst, wenn dem Arbeitnehmer das auf dem Guthabenkonto angesparte Arbeitsentgelt während der Freistellung von der Arbeitsleistung bei noch fortbestehendem Dienstverhältnis ausbezahlt wird. Für den Fall, dass das Dienstverhältnis aus nicht vorhersehbaren Gründen vorzeitig - also vor Beginn der Freistellungsphase bzw. während der noch laufenden Freistellung von der Arbeitsleistung - beendet wird, lässt § 7f SGB IV eine Portabilität von Wertguthaben durch Übertragung des Wertguthabens auf einen neuen Arbeitgeber bzw. auf die DRV zu. Beiden Übertragungsmöglichkeiten liegt ein Störfall zugrunde, der darauf beruht, dass das (fortgeführte) Arbeitsverhältnis noch vor Beginn oder während noch laufender Arbeitsfreistellungsphase aus nicht vorhersehbaren Gründen etwa durch Tod des Arbeitnehmers oder (fristlose) Kündigung des Arbeitsverhältnisses beendet wird (sog. Störfall). Zur Vermeidung einer sofortigen Auflösung des Wertguthabens lässt der Gesetzgeber deshalb eine Übertragung der Wertguthaben nach Maßgabe von § 7f SGB IV vor. Ein solcher Störfall ist im Streitfall aber nicht gegeben.
Mit den vorliegenden Abfindungen, deren Entstehung und Fälligkeit die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses voraussetzte, konnte diese Zielsetzung nicht erreicht werden, denn mit den Leistungen sollten die ausscheidenden Arbeitnehmer nach dem übereinstimmenden Willen der Vertragsbeteiligten für ihre entgehenden (künftigen) Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit entschädigt werden. Eine Verwendung der Abfindung für eine Freistellung von der Arbeitsleistung in dem bei der Klägerin bestehenden Beschäftigungsverhältnis war keinesfalls beabsichtigt. In dem Zeitpunkt, als die Arbeitnehmer die Klägerin nach Maßgabe der mitbestimmungspflichtigen Bestimmungen (Sozialplan/Interessenausgleich) anwiesen, ihre fälligen Abfindungen nicht oder jedenfalls nicht in voller Höhe auszuzahlen, sondern ihren Langzeitkonten zuzuführen, stand vielmehr fest, dass die Arbeitsverhältnisse mit der Klägerin beendet werden und eine künftige Freistellung von der Arbeitsleistung ihr gegenüber ausschied. Die an die rechtsbeständige Beendigung der Arbeitsverhältnisse mit der Klägerin gekoppelten Abfindungen sollten nach dem übereinstimmenden Willen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber vielmehr dazu dienen, die auf den Langzeitkonten gebuchten Wertguthaben vor deren Übertragung auf die DRV (siehe § 7f SGB IV) um die nicht ausgezahlten Abfindungsbeträge aufzustocken. Mit den um die Abfindungsbeträge aufgestockten Beträgen sollten zum einen die Mindesthöhen erreicht werden, von deren Erreichung die Übertragung bestehender Zeitwertkonten auf die DRV abhängt (das Wertguthaben einschließlich des Gesamtsozialversicherungsbeitrags nach § 28d SGB IV muss einen Betrag in Höhe des Sechsfachen der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV übersteigen, dies waren in den Kalenderjahren 2012 und 2013 West 15.750 € und 16.170 €). Zum anderen diente die Aufstockung dazu, mit den auf die übertragenen Wertguthaben zugeführten Beträgen die in § 7c SGB IV aufgezählten Freistellungszeiten zu finanzieren.
Davon abgesehen konnten die Abfindungen auch deshalb nicht den Langzeitkonten der ausscheidenden Arbeitnehmer zugeführt werden, weil es sich insoweit nicht um Arbeitsentgelt handelte.
Nach dem Wortlaut des § 7b Abs. 1 Nr. 3 SGB IV kann den Wertguthaben nur "Arbeitsentgelt" zugeführt werden. Nach der Legaldefinition des § 14 Abs. 1 SGB IV zählen zum (sozialversicherungspflichtigen) Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen "aus einer Beschäftigung", gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Auch (unechte) Abfindungen können hiernach Arbeitsentgelt darstellen, vorausgesetzt, sie lassen sich zeitlich der versicherungspflichtigen Beschäftigung zuordnen, d.h. sie müssen auf die Zeit der Beschäftigung und der Versicherungspflicht entfallen. Dies trifft aber auf eine (echte) Abfindung, die - wie hier - aus Anlass der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses als Entschädigung für künftig entgehende Einnahmen geleistet wird, nicht zu (so zutreffend die langjährige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], Urteil vom 21.02.1990 12 RK 20/88, Amtliche Sammlung des BSG [BSGE] 66, 219 Tz. 13). Mit den von der Klägerin geleisteten Abfindungen verfolgte diese bei lebensnaher Betrachtung vielmehr den Zweck, die Arbeitnehmer zum Ausscheiden aus ihrem Unternehmen zu motivieren bzw. einen gewissen Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes zu leisten. Diese Gründe schließen es aus, die Leistungen zeitlich dem Beschäftigungsverhältnis zuzuordnen. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn es sich etwa um eine Nachzahlung von während der Beschäftigung verdientem Entgelt handelte, wie dies etwa bei der Abgeltung von nicht in Anspruch genommenem Urlaub der Fall sein kann (unechte Abfindung).
Bei den hier im Streit stehenden Abfindungen handelt es sich jedoch aus den vorstehend genannten Erwägungen nicht um eine solche Nachzahlung. Die Abfindungsleistungen konnten auch nicht kraft einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Klägerin und den ausscheidenden Arbeitnehmern auf den Beschäftigungszeitraum verschoben werden. Auch wenn im Arbeitsverhältnis der Grundsatz der Privatautonomie gilt, der es dem Einzelnen ermöglicht, im Rahmen der Rechtsordnung eigenverantwortlich rechtsverbindliche Regeln durch Abschluss eines Rechtsgeschäfts zu vereinbaren, erlaubt die jetzige Rechtslage den Vertragsbeteiligten nicht auf die Sozialversicherungsfreiheit der echten Abfindung zu verzichten (siehe Schönhöft, Wertguthaben zur Übertragung auf die Deutsche Rentenversicherung - Eine Alternative zur Abfindungszahlung?, BB 2021, 1332). Aus der Regelung des § 32 SGB I wird deutlich, dass Sozialversicherungspflicht nicht durch eine private Vereinbarung begründet werden kann, sondern dass es auf das tatsächlich Gelebte ankommt.
Im Ergebnis vermochte die Zuführung der Abfindungsbeträge auf die Langzeitkonten deshalb nicht zur Aufschiebung der Fälligkeit führen. Es handelte sich um einen gegenwärtigen Zufluss von Arbeitslohn, der durch den Abschluss einer Lohnverwendung zu Gunsten der DRV begründet wurde.
Diese Würdigung wird zudem dadurch untermauert, dass die Abfindungsbeträge - anders als dies für die übrigen Zuführungen von Arbeitsentgelten auf die Langzeitkonten der Fall war - nicht im Namen der Klägerin bei der I...-AG kapitalsichernd angelegt worden waren. Auf diesen Umstand hat der Beklagte zu recht hingewiesen.
Ungeachtet dessen erlangten die Arbeitnehmer die wirtschaftliche Verfügungsmacht über die Abfindungsbeträge spätestens mit der Überweisung der Abfindungen durch die Klägerin auf die bei der DRV geführten Treuhandkonten. Eine Bindung an den Treuhandzweck konnte nicht eintreten, weil die Abfindungen mangels Arbeitsentgeltcharakters nicht übertragbar sind und eine Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 52 EStG ausscheidet.
Mit der auf Rechnung der Arbeitnehmer überwiesenen Beträge an die DRV flossen den Arbeitnehmern die Einnahmen zu (vgl. BFH-Urteile vom 01.10.1993 III R 32/92, BStBl II 1994, 179 vom 22.02.2018 VI R 17/16 a. a. O., Schmidt/Krüger a. a. O., § 11 Tz. 17).
Bei den nämlichen Kontenguthaben handelt es sich auch um solche Positionen, die den Arbeitnehmern jeweils zuzuordnen waren. Aus der Norm des § 7f Abs. 3 SGB IV folgt nämlich, dass die DRV die ihr übertragenen Wertguthaben einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrags getrennt von ihrem sonstigen Vermögen treuhänderisch zu verwalten hat (siehe auch Wißing in: Schlegel/Voelzke in jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 7f SGB IV, Rz. 38 [Stand: 01.03.2016]).
Eine Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 52 EStG scheidet für die auf die übertragenen Wertguthaben zugeführten Abfindungsbeträge jedoch aus.
Nach § 3 Nr. 52 EStG ist eine Steuerbefreiung gegeben, wenn nach § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Wertguthaben auf die DRV als Treuhänder wirksam übertragen werden kann, sofern ein neues Arbeitsverhältnis nicht folgt. § 3 Nr. 52 EStG schließt es insoweit aus, die Verfügung des Arbeitnehmers über sein Guthaben als Zufluss zu versteuern (Schmidt/Levedag a. a. O., § 3 Tz. 175).
Ein (Lohn-)Steuerpflicht wird vielmehr erst im Zeitpunkt der Freistellungsphase i. S. des § 7c SGB IV mit Auszahlung des Guthabens ausgelöst.
Die Steuerbefreiung kommt indes hier nicht zum Tragen, weil es im Hinblick auf die fraglichen Abfindungsleistungen an einer wirksamen Übertragung des Wertguthabens auf die DRV mangelt.
Die Abfindungsleistungen konnten aus den vorstehenden Gründen nicht Gegenstand einer wirksamen Wertguthabenvereinbarung i. S. von § 7b SGB zwischen der Klägerin als Arbeitgeberin und den Arbeitnehmern sein. Auch insoweit ist von Gewicht, dass die hier aus Anlass des Arbeitsplatzverlustes geleistete Abfindung kein Arbeitsentgelt gemäß § 14 SGB IV darstellte. Vielmehr handelte es sich um fällige als Wertguthaben "getarnte" Guthaben zu Gunsten der Arbeitnehmer, für die eine Bindung an die Freistellungszeiten nach § 7c SGB IV nicht gelten konnte. Die Anspruchsberechtigung der Arbeitnehmer folgte hier aus Bereicherungsrecht nach § 812 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Bei fehlender, nichtiger oder unwirksamer Wertguthabenvereinbarung erfolgt der Ansparvorgang ohne Rechtsgrund. Die Rückabwicklung hat deshalb nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen (§§ 812 ff. BGB) zu erfolgen und ist nicht etwa als Störfall nach § 23b SGB IV zu behandeln (so zutreffend Wißing in: Schlegel/Voelzke in jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 7f SGB IV, Rz. 38 [Stand: 01.03.2016] für den Fall einer gegen das Schriftformerfordernis abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarung nach § 126 BGB i. V. m. § 7b SGB IV; Ulrich Freudenberg, Aufsatz in B + P 2011, 126). Die Rückabwicklung wegen Zweckverfehlung nach § 812 Abs. 1 Satz 2 2. Fall BGB außerhalb der Störfallregelungen des SGB IV schließt es deshalb aus, die für den tatsächlichen Störfall vorhergesehene Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 52 EStG hier eingreifen zu lassen.
Mit dieser Beurteilung weicht der erkennende Senat im Ergebnis nicht von der (bisherigen) höchstrichterlichen Rechtsprechung ab, nach der Gutschriften auf einem Wertguthabenkonto (gleichbedeutend mit Langzeit- /Wertguthabenkonto) kein gegenwärtig zufließender Arbeitslohn sind (BFH-Urteil vom 22.02.2018 VI R 17/16, BStBl II 2019, 496).
Gegen die hier vorgenommene Bewertung kann die Klägerin sich nicht mit Erfolg auf eine verfassungsrechtlich unzulässige doppelte Inanspruchnahme der Arbeitnehmer bzw. der Klägerin berufen. Soweit es die Gesamtsozialversicherungsbeträge anbelangt, kann dies schon deshalb nicht der Fall sein, weil es sich bei den hier in Rede stehenden Abfindungen, die wegen Beendigung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung als Entschädigung für die Zeit danach gezahlt wird, nach zutreffender Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, welche der Senat für zutreffend erachtet und der er folgt, kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt darstellt (BSG-Urteil vom 21.02.1990 12 RK 20/88, BSGE 66, 219). Auch in lohnsteuerrechtlicher Hinsicht ergibt sich im Ergebnis keine andere Beurteilung.
Insoweit ist einerseits von Relevanz, dass für die hier streitigen Abfindungen, die als Entschädigungsleistungen gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1b EStG geleistet werden, zur Abmilderung der Progressionswirkung aufgrund des zusammengeballten Zuflusses von Einnahmen in einem Veranlagungszeitraum ein besonderer Steuersatz nach § 34 EStG zur Anwendung kommt. Davon abgesehen kann die Klägerin wegen ihrer Inanspruchnahme als Haftungsschuldnerin gegen ihre ehemaligen Arbeitnehmer zivilrechtliche Rückgriffsrechte geltend machen.
Die Höhe der Lohnsteuern, für welche die Klägerin durch den verfahrensgegenständlichen Haftungsbescheid in Anspruch genommen wird, unterliegt gleichfalls keinen Bedenken.
Die Schätzungen der Bemessungsgrundlage und die zugrunde gelegten Steuersätze sind zutreffend ermittelt. Die Klägerin hat für die betroffenen Arbeitnehmer keine Einkommensteuerbescheide zur Untermauerung der genauen Höhe der Einkommensteuer vorgelegt, was auch für Zwecke des Lohnsteuerhaftungsverfahrens zu ihren Lasten zu würdigen ist, weil die Klägerin insoweit die objektive Feststellungslast trifft (siehe Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.10.2018 4 K 4263/17, juris, nicht rechtskräftig, Revision anhängig, Aktenzeichgen des BFH: VI R 47/18).
Es ist auch nicht erkennbar, dass die gegenüber den Arbeitnehmern erfolgte vorrangige Inanspruchnahme der Klägerin als deren Arbeitgeberin einen Ermessensfehler i. S. der § 102 FGO, § 5 AO begründet.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen. Ob Abfindungen, die als Entschädigungsleistungen für den Verlust von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geleistet werden, zur Vermeidung eines Zuflusses bei den Arbeitnehmern in wirksamer Weise in Zeitwertkonten (Wertguthaben) zugeführt bzw. auf die DRV steuerfrei übertragen werden können, ist noch nicht höchstrichterlich geklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Urteil vom 17.06.2021
In dem Rechtsstreit
der A... GmbH & Co. KG,Klägerin,
bevollmächtigt:
gegen
das Finanzamt,
Beklagter,
wegen Haftungsbescheides vom 09.06.2017 über Lohnsteuer für die Monate September bis Dezember 2012
hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg - 4. Senat - aufgrund mündlicher Verhandlung vom 17.06.2021 durch
die Vorsitzende Richterin am Finanzgericht ...,den Richter am Finanzgericht ...,
den Richter am Finanzgericht ...,
die ehrenamtliche Richterin ... sowie
die ehrenamtliche Richterin ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin auferlegt.
Tatbestand
Die Klägerin mit Sitz in C... fungiert als Vertriebsgesellschaft der B... GmbH mit Sitz in D..., die zu dem weltweit tätigen Pharmaunternehmen E... mit Sitz in ... gehört. Im Zuge der Übernahme der F...-Gruppe im Jahr 2011, die ihrerseits im Jahr 2006 die G...-Gruppe erworben hatte, strukturierte die Klägerin ihren Vertriebsbereich neu. Dies hatte zur Folge, dass der Mitarbeiterstamm beider Unternehmungen von 800 auf 328 Stellen (Außen- und Innendienst), davon 238 im Außendienst, abgebaut wurde. Sukzessive sollten die bisherigen Standorte in H... geschlossen und Aufgabenbereiche am Standort in D... gebündelt bzw. fremdvergeben werden.
Im Zuge der Umstrukturierungsmaßnahmen schloss die Klägerin mit dem Betriebsrat am 19.04.2012 einen Interessenausgleich mit dem Ziel, die mit dem Personalabbau verbundenen wirtschaftlichen Nachteile abzumildern. Für den Innen- und Außendienst vereinbarten die Beteiligten (u. a.) unter § 4 "Personelle Auswirkungen", dass den von der Betriebsänderung betroffenen Mitarbeitern für den Verlust des Arbeitsplatzes "Freiwilligen-Abfindungen" (Freiwilligenprogramm) angeboten werden, bei deren Berechnung so genannte "Erhöhte Altersfaktoren" einfließen sollten (siehe z. B. § 4 zweiter Absatz). In weiteren Betriebsvereinbarungen vom selben Tag bestimmten die Beteiligten ein Punktesystem, dass der Sozialauswahl zugrunde gelegt werden sollte und gestalteten die Ermittlung der Altersfaktoren zur Berechnung der Abfindungshöhe näher aus. Für Arbeitnehmer, die auf eine Kündigungsschutzklage verzichteten, galt nach Ziff. 2 ein Altersfaktor von 1,5. Für weitere in Ziff. 3 der Betriebsvereinbarung näher bezeichnete Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse einvernehmlich beendet wurden, sah die Betriebsvereinbarung nach Lebensalter gestaffelte Altersfaktoren vor.
In dem zwischen der Geschäftsleitung der Klägerin und ihrem Betriebsrat abgeschlossenen Sozialplan vom 19.04.2012 vereinbarten die Beteiligten in Umsetzung des Interessenausgleichs (u. a.) gemäß § 12 eine Abfindung für die bei ihr aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmer, welche mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig wurde. Bei der Berechnung der Kündigungsfrist wurden nach Ziff. 9 des Sozialplans in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit gestaffelte Auslauffristen (von mindestens 1 bis zu maximal 5 Monate) vereinbart.
Im Falle eines Kündigungsrechtsstreits sollten die aufgrund eines gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs vom Gericht festgesetzten Abfindungen auf die "Freiwilligen-Abfindungen" angerechnet werden. Gleiches sollte für Entgeltzahlungen gelten, die aufgrund eines Kündigungsschutzprozesses über den Kündigungszeitpunkt hinaus von der Klägerin zu zahlen sind.
Den Mitarbeitern wurde nach § 11 die Möglichkeit eingeräumt, die Abfindungsleistung in das für sie geführte Langzeitkonto einzubringen. Langzeitkonten waren bereits aufgrund einer Anlage zur Betriebsvereinbarung vom 10.12.2010 (sogenannter Demografiefonds) eingerichtet worden. Mit Betriebsvereinbarung vom 13.04.2011 wurden die Ansparmöglichkeiten um weitere Einbringungsmöglichkeiten ergänzt (z. B. Entgeltumwandlung von Urlaubs- und Brückentagen, Ansparung durch Einbringung von Arbeitsstunden u. s. w.). Unter § 5 der betreffenden Anlage "Entnahme von Guthaben aus den Langzeitkonten" war geregelt, dass die Arbeitnehmer Wertguthaben mitarbeiterseitig zur vollständigen oder teilweisen Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung vor der Inanspruchnahme gesetzlicher Altersrente nutzen können (§ 5 I.). Bei Störfällen (siehe § 5 II.) wurde eine Einmalauszahlung an den Arbeitnehmer bzw. dessen Erben unter Beachtung des Abzugs der Lohnsteuer und der Gesamtsozialversicherungsbeiträge bzw. eine Übertragung des bestehenden Wertguthabens auf den neuen Arbeitgeber bzw. die Deutsche Rentenversicherung Bund nach Maßgabe der Norm des § 7f des Sozialgesetzbuches (SGB) IV geregelt.
Nach § 4 der Anlage zur Betriebsvereinbarung vom 13.04.2011 war die Klägerin verpflichtet, die auf den Langzeitkonten angesammelten Wertguthaben im Rahmen eines Gruppenversicherungsvertrages bei der I...-AG als Kapitalanlage (insolvenzfest) anzulegen. Für den Fall der Einbringung der Abfindungsleistung in das Langzeitkonto sollte die Abfindung gemäß § 11 des Sozialplans vom 19.04.2012 in ein Arbeitsentgeltguthaben sowie in ein Arbeitgebersozialversicherungsguthaben gesplittet werden. In § 12 des Sozialplanes ist geregelt, dass der Anspruch auf Abfindung mit Zugang der Kündigung oder Abschluss eines Aufhebungsvertrages entsteht. Der Anspruch ist mit seinem Entstehen vererblich, kann aber nicht abgetreten oder verpfändet werden. Im Falle eines Kündigungsschutzrechtsstreits wird die Abfindung erst mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens fällig.
Im Streitfall leistete die Klägerin für eine Vielzahl von Arbeitnehmern, die an dem von ihr angebotenen "Freiwilligenprogramm" teilnahmen, Abfindungen in Höhe von 8.205.160,66 €, die sie weder dem Lohnsteuerabzug unterwarf noch Beiträge zur Gesamtsozialversicherung abführte. Die Abfindungsleistungen wurden ebenso nicht als Kapitalanlage bei der I...-AG angelegt.
Die Auszahlung der (hier streitgegenständlichen) Abfindungsleistungen erfolgte nicht auf die Bankkonten der Arbeitnehmer. Stattdessen erklärten sich die Arbeitnehmer schriftlich mit dem Merkblatt "Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäß Interessenausgleich /Sozialplan A... vom 19.04.2012" einverstanden, die Abfindung ihrem Langzeitkonto gutzuschreiben. Jeweils wenige Tage vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragten die gekündigten Arbeitnehmer bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (fortan DRV) die Übertragung ihres Wertguthabens auf die DRV nach § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV. Aufgrund einer internen Personalmitteilung wurde die Auszahlungsstelle der Klägerin angewiesen, die hier streitgegenständlichen Abfindungsleistungen an die Langzeitkonten der Arbeitnehmer zu zahlen. Die Klägerin bestätigte der DRV auf einem Formular (V 9110 FM) die Angaben zum Wertguthaben. Nach Überweisung des Wertguthabens bestätigte die DRV den ausgeschiedenen Arbeitnehmern die Übertragung ihres Wertguthabens.
Soweit sich die Arbeitnehmer neben der geschilderten Übertragung der Wertguthaben auf die DRV Teile ihrer Abfindungsleistung auf ihr Konto überweisen ließen, nahm die Klägerin einen Lohnsteuerabzug vor, führte auch die Sozialversicherungsbeiträge ab, nahm die entsprechenden Beträge in den elektronischen Steuerbescheinigungen auf und versteuerte die Abfindung als ermäßigt besteuerten Arbeitslohn nach der so genannten Fünftelregelung (siehe § 24 Abs. 1 Nr. 1a i. V. m. § 34 Abs. 1 und 2 Nr. 2 EStG).
Im Rahmen einer bei der Klägerin durchgeführten Lohnsteueraußenprüfung, die im Auftrag des Beklagten nach § 195 der Abgabenordnung (AO) durch das Finanzamt J... als das für den Betriebssitz der B... GmbH zuständige Betriebsfinanzamt durchgeführt wurde, vertrat der Prüfer in seinem Bericht vom 28.01.2016 (Blatt [Bl.]19 ff Lohnsteueraußenprüfungsakten) die Auffassung, die mit den Arbeitnehmern vereinbarten Abfindungen und an die DRV zur Auszahlung gebrachten Beträge seien zu Unrecht nicht dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden. Zwar könnten nach § 3 Nr. 53 EStG Zeitwertkonten (Langzeitkonten), die in zulässiger Weise gebildet worden seien, in "einem Störfall", hier: durch Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber, steuerfrei auf die DRV überragen werden. Dies treffe aber nur für solche Zeitwertguthabenkonten zu, die vor der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig geworden seien. Ein solcher Störfall liege hier aber nicht vor, weil die Abfindungen aufgrund der Bestimmung im Sozialplan, auf denen die Abwicklungsbeträge der Arbeitnehmer beruhten, vorsähen, dass die Abfindung erst mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig würde. Im Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 17.06.2009 (Bundessteuerblatt [BStBl] I 2009, 1286) werde insoweit darauf hingewiesen, dass in einem Zeitwertkonto keine weiteren Zuführungen mehr unversteuert vorgenommen werden dürften, sobald feststehe, dass die zugeführten Beträge nicht mehr durch Freistellung in diesem Arbeitsverhältnis vollständig aufgebraucht werden könnten. Im Streitfall könnten die Abfindungen bei der Klägerin nicht mehr durch Freistellung von der Arbeitsleistung in Anspruch genommen werden, weil das Arbeitsverhältnis zu ihr bereits vor der Fälligkeit der Abfindungsleistung beendet worden sei. Daraus folge, dass die Abfindung von einer steuerfreien Übertragung des Wertguthabens auf die DRV ausgenommen sei und folglich mit der Auszahlung an diese als zugeflossener sonstiger Bezug der Lohnsteuer hätte unterworfen werden müssen.
Der Beklagte folgte der Auffassung des Prüfers und erließ am 09.06.2017, welcher am 20.06.2017 beim Bevollmächtigten einging (Bl. 148 Lohnsteueraußenprüfungsakte), einen auf § 42d Abs. 1 EStG gestützten Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnabzugsbeträge für die Zeit von September 2012 bis September 2014 (Bl. 5 ff Gerichtsakte), mit dem er unter anderem die Klägerin hinsichtlich der nicht einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuern in Höhe von 3.446.167,48 € (42 % der Abfindungen), Solidaritätszuschlag zur Lohnsteuer in Höhe von 189.539,21 € (5,5 % der Abfindungen) sowie Lohnkirchensteuern in Höhe von 172.308,37 € (pauschal 5 % der Abfindungen) für Abfindungsleistungen in Höhe von 8.205.160,66 € (Bl. 40 Lohnsteueraußenprüfungsakte) in Anspruch nahm. Zur Begründung verwies er im Erläuterungsteil auf die Feststellungen im Lohnsteueraußenprüfungsbericht vom 28.01.2016. Ein Arbeitslohnzufluss läge vor und eine Nachversteuerung der Abfindungszahlungen sei gerechtfertigt. Anderenfalls würde ein Präzedenzfall geschaffen, der die Regelung des Gesetzgebers in § 34 EStG in Bezug auf Entlassungsentschädigungen obsolet machen würde.
Von einer Inanspruchnahme der Arbeitnehmer sei abzusehen, weil die Klägerin die Lohnsteuer in unzutreffender Höhe einbehalten und abgeführt habe. Die Klägerin sei als Haftende anstelle des Arbeitnehmers in Anspruch zu nehmen, weil ein Haftungsausschluss nicht vorliege. Ihre Inanspruchnahme sei auch nicht unbillig, zudem habe sie sich mit ihrer Inanspruchnahme einverstanden erklärt (siehe Erläuterungsteil im Haftungsbescheid vom 09.06.2017).
Mit Schriftsatz vom 18.06.2017 legte die Klägerin gegen den Haftungsbescheid vom 09.06.2017, welcher der hiesigen Prozessbevollmächtigten (mittlerweile unstrittig) erst nach Ablauf der dreitägigen Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 20.06.2017 zugegangen war, vollumfänglich Einspruch ein. Die Klägerin sieht die Voraussetzungen für die Haftungsinanspruchnahme für die Lohn- und Annexsteuern der an die ausgeschiedenen Arbeitnehmer gezahlten Abfindungsleisten für nicht erfüllt an. Zur Begründung führte sie aus, hinsichtlich der strittigen Entgelte fehle es an einem Zufluss, weil die Abfindungen wirksam einem Wertguthaben nach § 7b SGB IV zugeführt worden seien, welches sodann mit steuerbefreiender Wirkung auf die DRV übertragen worden sei (§ 7f Abs. 1 Satz 2 SGB IV, § 3 Nr. 53 Satz 2f EStG). Eine Besteuerung scheide aus, weil die Fälligkeit der Abfindung durch Zuführung auf das Wertguthabenkonto aufgeschoben sei und eine wirtschaftliche Verfügungsmacht der betroffenen Arbeitnehmer über die Wertguthaben erst mit Auszahlung der nämlichen Guthaben durch die DRV stattfinde, woran es mangele. Davon abgesehen wäre bei Auskehrung der Beträge nicht die Klägerin, sondern die DRV verpflichtet, die Lohn- und Annexsteuern sowie die Gesamtsozialversicherungsbeträge beim Betriebsstättenfinanzamt und den Sozialversicherungsträgern anzumelden und abzuführen, weil mit der Übertragung der Wertguthaben die entsprechenden Arbeitgeberpflichten von der Klägerin auf die DRV übergingen. Es treffe zwar zu, dass die Ansparung des Wertguthabens (Zeitwertkonto) im Regelfall dazu diene, den angesparten Betrag im Zusammenhang mit einer beabsichtigten vollen oder teilweisen Freistellung von der Arbeitsleistung während des noch fortbestehenden Dienstverhältnisses auszuzahlen. Dieser Zweck könne hier zwar nicht erreicht werden, weil bereits bei Zuführung der Abfindung zum Wertguthabenkonto feststehe, dass das Arbeitsverhältnis zur Klägerin beendet sei und eine Freistellung ihr gegenüber nicht mehr in Betracht komme. Dies sei indes unbeachtlich, weil der Gesetzgeber mit der Schaffung der Übertragungsmöglichkeit des Wertguthabens auf die DRV zu erkennen gegeben habe, dass die soziale Absicherung einer langfristig geplanten Freistellung auch bestehen bleiben solle, wenn sich nach der Zuführung zum Wertguthabenkonto ein weiteres (sozialversicherungspflichtiges) Beschäftigungsverhältnis nicht anschließe. Insoweit sei es ausreichend, dass bei gleichmäßiger Verteilung des Wertguthabens von der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bis zum Beginn der Regelaltersrente den betroffenen Arbeitnehmern aus dem Wertguthaben maximal ein monatlicher Betrag zufließe, der seinem letzten Arbeitsentgelt annähernd entspreche. Diese Voraussetzung werde mit den bei der Klägerin geführten Lebensarbeitszeitkonten erfüllt. Die Auffassung des Beklagten bzw. der Finanzverwaltung, dass steuerneutrale Zuführungen zum Zeitwertkonto nur unter der Voraussetzung eines fortbestehenden Beschäftigungsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber rechtlich zulässig seien und weitere unversteuerte Zuführungen ausschieden, wenn feststehe, dass die dem Konto zugeführten Beträge nicht mehr durch eine Freistellung vollständig aufgebraucht werden könnten (siehe Schreiben des BMF vom 17.06.2009 VV DEU BMF 2009-06-17 IV C 5-S 2332/07/0004; BStBl I 2009, 1286, Buchst. A Ziff. I. sowie Buchstabe B Ziff. I.), greife zu kurz und könne die Haftungsinanspruchnahme nicht begründen.
Mit Schriftsatz vom 13.06.2018 (Bl. 136 f. Rechtsbehelfsakte) stimmte die Klägerin zu, dass das Einspruchsverfahren betreffend die Lohn- und Annexsteuern der Jahre 2013 und 2014 gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO bis zu einer abschließenden Entscheidung über das Streitjahr 2012 ruhen solle. Dem folgend wurde das Einspruchsverfahren in Bezug auf folgende Verfahrensgegenstände fortgeführt:
Arbeitnehmer Geburtsdatum Kündigung zum Abfindung (abgerundet in €) a) Übertragung des Guthabens auf DRV
b) Bestätigung des Übergangs
K... ........1962 31.10.2012 365.648 a) 21.02.2013
(davon 300.000 als Wertguthaben) b) 26.04.2013
L... ........1960 30.11.2012 235.820 a) 21.03.2013
b) 28.05.2013
M... ........1965 31.12.2012 143.235 a) 21.03.2013
b) 28.05.2013
N... ........1958 30.11.2012 200.000 a) 21.03.2013
b) 28.05.2013
Summe 879.055
Insoweit wies der Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass es sich bei den Zuführungen um nicht begünstigte Entlassungsentschädigungen handele, die den betreffenden Arbeitnehmern zugeflossen seien. Die Gutschrift von Einmalzahlungen könne nur dann steuerneutral erfolgen, wenn es sich um Vergütungen handele, die für einen Zeitraum bezogen werden, was bei den hier strittigen Abfindungen aus Anlass der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht der Fall sei. Davon abgesehen folge aus der Norm des § 7b Nr. 4 SGB IV, dass die Zuführung zum Wertguthaben in der Ansparphase voraussetze, dass bei demselben Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis fortgesetzt werde. Dieser Beurteilung stehe die Übertragungsmöglichkeit des Wertguthabens auf die DRV nach Maßgabe von § 7f SGB IV nicht entgegen. Zwar ermögliche die Norm im Grundsatz die Fortführung des Guthabens über die gesamte verbleibende Lebensarbeitszeit bis zum Beginn des Bezugs einer Altersrente. Allerdings bezwecke die Regelung lediglich den Störfall einer zwangsläufigen Auszahlung des Guthabens bei Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses zu verhindern. Lediglich vor diesem Hintergrund sei auch die Regelung des § 7 Abs. 3 Satz 2 SGB IV zu sehen, wonach eine Beschäftigung auch dann als fortbestehend gelte, wenn Arbeitsentgelt aus einem der DRV übertragenen Wertguthaben bezogen werde. Nur insoweit sei auch der Begriff des Lebensarbeitszeitkontos auszulegen.
Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin weiterhin gegen ihre Haftungsinanspruchnahme dem Grunde und der Höhe nach. Sie wiederholt und präzisiert ihren vorinstanzlichen Vortrag und hält daran fest, dass die Abfindungen als sonstige Bezüge den betreffenden Arbeitnehmern nicht nach § 11 EStG zugflossen seien. Mit der Zuführung der Beträge auf das Wertguthabenkonto werde kein Zufluss bewirkt. Auch die Übertragung des Wertguthabens auf die DRV sei nach § 3 Nr. 53 EStG steuerbefreit und vermöge eine Einbehaltungs- und Abführungsverpflichtung hinsichtlich Lohn- und Annexsteuern nicht zu begründen. Die spätere Auszahlung der Beträge durch die DRV an die betroffenen Arbeitnehmer während der Freistellungsphase sei gleichfalls ohne Belang, weil die entsprechenden Lohnsteuer-Arbeitgeberpflichten mit der Übertragung der Konten auf die DRV übergegangen seien. Davon abgesehen sei bedeutsam, dass bei tatsächlicher Auszahlung durch die DRV erneut Lohnsteuern abgeführt werden müssten und insoweit eine verfassungsrechtlich unzulässige Doppelbesteuerung einträte. Weiterhin weist die Klägerin auf höchstrichterliche Rechtsprechung hin. Selbst für den Fall, dass die Abfindung mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig geworden sei, wäre die Fälligkeit der Zahlungen unter der Berücksichtigung des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.11.2009 (XI R 1/09, BStBl II 20109, 746 Rz. 12) wirksam aufgeschoben worden.
Die betreffenden Guthaben seien nämlich bereits durch die gegenüber der Klägerin erfolgten Haftungsinanspruchnahme in nämlicher Höhe besteuert worden. Überdies sei die mit dem Haftungsbescheid beanspruchte Lohnsteuer überhöht, weil die einbehaltenen und abgeführten Lohnsteuern lediglich etwa 20 % des Bruttolohns ausmachen würde. Wegen des weiteren Vortrags wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 01.04.2019 ergänzend Bezug genommen (Bl. 53 ff. Gerichtsakte).
Die Klägerin beantragt,
den Haftungsbescheid über Lohnsteuer und sonstige Lohnabzugsbeträge für die Zeit von September 2012 bis Dezember 2012 vom 09.06.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 dahingehend zu ändern, dass die in 2012 an die Deutsche Rentenversicherung Bund geleisteten Beträge in Höhe von 879.055,13 € vom Haftungsbetrag abgesetzt werden;
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte wiederholt seinen Vortrag. Ergänzend führt er aus, dass der von der Klägerin zitierten Entscheidung des BFH vom 11.11.2009 (a. a. O.) ein anderer Sachverhalt zugrunde liege und für den vorliegenden Fall eine andere Beurteilung nicht rechtfertigen könne. Soweit die Klägerin darauf verweise, dass die Broschüre "Wertguthaben" des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Bl. 86 ff. Gerichtsakte) beispielhaft auch "Sondervergütungen" wie etwa "Abfindungen" als Arbeitsentgelte erwähne, sei gleichfalls keine andere Entscheidung gerechtfertigt, weil Abfindungen nicht zwangsläufig nur für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt würden. Dass die DRV bei Auszahlungen der Guthaben an die Arbeitnehmer in rechtlich unzutreffender Weise Lohnsteuer einbehalte und abführe, vermöge an der lohnsteuerrechtlichen Beurteilung der zeitlich vorhergehenden Zahlungen der Klägerin an die DRV ebenso nichts zu ändern.
Dem Senat haben bei seiner Entscheidungsfindung neben einem Band (Bd.) Streitakten zum vorliegenden Verfahren je ein Bd. Rechtsbehelfs- und Lohnsteuer-Außenprüfungsakten sowie ein Leitzordner "Lohnsteuer-Außenprüfung 2015" des Beklagten zur Steuernummer ... vorgelegen, auf deren Inhalt ergänzend Bezug genommen wird.
Entscheidungsgründe
Nach § 191 Abs.1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes - BFH/NV - 2017, 593 m. w. N.). Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 Abs.1 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensausfall, Ermessensüber/-unterschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar. Prüfungsmaßstab hierfür ist allein die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung).
Zu Recht hat der Beklagte angenommen, dass in der Person der Klägerin der objektive Haftungstatbestand gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt sei. Den Arbeitnehmern ist spätestens mit der Überweisung der Abfindungsbeträge auf die bei der DRV geleisteten Wertguthaben jeweils gegenwärtiger Arbeitslohn als sonstiger Bezug zugeflossen (§ 38a Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG).
Gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. Anlässlich der Auszahlung der Arbeitslöhne hat er die Lohnsteuer gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG für Rechnung der Arbeitnehmer einzubehalten und diese Steuern nach § 41a Abs. 1 Nr. 2 EStG fristgerecht, d. h. bis zum 10. Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteueranmeldungszeitraumes, an den Beklagten abzuführen (Fälligkeitssteuer). Dabei bemisst sich die Jahreslohnsteuer nach dem Arbeitslohn, den der Arbeitnehmer im Kalenderjahr bezieht. Arbeitslohn, der - wie hier - nicht als laufender Arbeitslohn, sondern als sonstiger Bezug geleistet wird, wird nach § 38a Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG in dem Kalenderjahr bezogen, in dem er dem Arbeitnehmer zufließt.
Dass die fraglichen Abfindungen ertragssteuerrechtlich Arbeitslohn darstellen, bedarf keiner vertieften Ausführungen. Denn die Abfindungen werden aus Anlass der Beendigung des Dienstverhältnisses (Arbeitsverhältnis) als Entschädigung für künftige Einnahmeausfälle bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit der aus dem Unternehmen der Klägerin ausscheidenden Arbeitnehmern geleistet. Als durch die Beschäftigung veranlasste Einnahmen werden sie "für" eine Beschäftigung geleistet (für Entlassungsentschädigungen bei nichtselbständiger Arbeit siehe § 2 Abs. 2 Nr. 4 Lohnsteuer-Durchführungsverordnung [LStDV] sowie § 24 Nr. 1 a) und b) EStG).
Die Abfindungen sind auch zugeflossen.
Der Zufluss von Arbeitslohn setzt die Erlangung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über ein Wirtschaftsgut voraus (siehe auch BFH-Urteil vom 23.07.2017 VI R 4/16, BStBl II 2018, 208 [BFH 23.08.2017 - VI R 4/16]). Ob die wirtschaftliche Verfügungsmacht übergegangen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles (Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 16.02.2012 14 K 202/11, Entscheidungen der Finanzgerichte [EFG] 2012, 1397).
Zuflusszeitpunkt ist der Tag der Erfüllung des Anspruchs des Arbeitnehmers, also der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die geschuldete Leistung tatsächlich erbringt (BFH-Urteil vom 22.02.2018 VI R 17/16, BStBl II 2019, 496).
Hiervon ausgehend liegt ein Zufluss vor, wenn Geldbeträge fließen, sei es, dass sie bar ausgezahlt oder einem Konto des Empfängers bei einem Kreditinstitut gutgeschrieben werden. Auch eine Gutschrift in den Büchern des Verpflichteten bei Bestehen einer Zahlungsverpflichtung kann einen Zufluss bewirken. Dies setzt allerdings voraus, dass der Gläubiger in der Lage sein muss, den Leistungserfolg ohne weiteres Zutun des im Übrigen leistungsbereiten und leistungsfähigen Schuldners herbeizuführen. Es muss aber eine Zahlungsverpflichtung bestehen. Darüber hinaus kann auch eine Novation (Schuldumwandlung) zu einem Zufluss führen. Durch die Novation wird ein Schuldverhältnis durch ein neues ersetzt. Das alte Schuldverhältnis erlischt (Brox, Allgemeines Schuldrecht, 6. Aufl. 1977, § 16 Rz. 195). Überdies liegt ein Zufluss auch im Fall einer Lohnverwendungsabrede vor, also, wenn der geschuldete Abfindungsbetrag nicht dem Arbeitnehmer ausbezahlt, sondern auf seine Weisung anderweitig verwendet wird (Abkürzung des Leistungsweges). Schließlich wird ein Zufluss auch dadurch bewirkt, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen unmittelbaren und unentziehbaren Rechtsanspruch gegen einen Dritten verschafft.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall liegt ein Zufluss der Abfindungen als Arbeitslohn vor und ist eine Lohnsteuer im Jahr 2012 ausgelöst worden. Dieser Würdigung liegen folgende Erwägungen zugrunde:
Obschon die Abfindungsbeträge an die Arbeitnehmer weder bar ausgezahlt noch deren Bankkonten im Kalenderjahr 2012 gutgeschrieben worden waren, ist ein gegenwärtiger Zufluss von Arbeitslohn nach § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG anzunehmen, weil die Arbeitnehmer mit der einvernehmlichen Zuführung ihrer mit Beendigung ihres Dienstverhältnisses fällig gewordenen Abfindungsbeträge auf ihre bestehenden Langzeitkonten wirtschaftlich Verfügungsmacht über die betreffenden Beträge erlangt hatten.
Die Zuführung der Abfindungen auf die Langzeitkonten konnte die Fälligkeit der Arbeitslöhne (Abfindungen) nicht hinausschieben bzw. einen Zufluss bei den Arbeitnehmern verhindern. Auch die Übertragung der um die Abfindungen aufgestockten Wertguthabenkonten auf die DRV, die an sich nach § 3 Nr. 52 EStG steuerbefreit ist, vermag an der Lohnsteuerpflicht nichts zu ändern. Die höchstrichterliche Rechtsprechung (siehe BFH-Urteil vom 22.02.2018 a. a. O. mit vielfachen Hinweisen auf die Rechtsprechung der Finanzgerichte), welche im Grundsatz davon ausgeht, dass die aufgrund einer zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarung erfolgten Zuführungen von künftig fällig werdendem Arbeitslohn zu sog. Wertgutenhabenkonten (Zeitwertkonten) keine Auszahlung bewirken und keinen gegenwärtig zufließenden Arbeitslohn darstellen, findet hier keine Anwendung.
Im Hinblick auf die um die Abfindungen (scheinbar) aufgestockten Wertguthaben fehlt es an wirksam abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarungen. Die an die Arbeitnehmer aufgrund des Freiwilligenprogramms geleisteten Abfindungen aus Anlass des Verlustes ihres Arbeitsplatzes (Einmalzahlungen) stellen kein Arbeitsentgelt i. S. des § 14 SGB IV dar. Mangels Arbeitsentgeltcharakters konnten die Abfindungsbeträge weder den Wertguthabenkonten der betreffenden Arbeitnehmer wirksam zugeführt werden noch konnten die um die Abfindungsbeträge scheinbar aufgestockten Wertguthabenkonten wirksam auf die DRV nach Maßgabe von § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV übertragen werden, mit der Konsequenz, dass die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 52 EStG ebenso nicht eingreift.
Die zwischen der Klägerin und den Arbeitnehmern abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarungen sind unwirksam, weil der von den Beteiligten verfolgte Vertragszweck nicht erreicht werden konnte und es den Vereinbarungen von vornherein an einer Geschäftsgrundlage fehlte.
Die Lehre von der Geschäftsgrundlage gilt (u. a.) in Fällen der übermäßigen Leistungserschwerung, der Zweckvereitelung, der Äquivalenzstörung und des beiderseitigen Motivirrtums (vgl. Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 12. Aufl. 1988, § 20 Rdnr. 427). Vorliegend hätten die Parteien nach Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte eine Zuführung zu den Langzeitkonten nicht vereinbart, wenn ihnen bekannt gewesen wäre, dass eine Übertragbarkeit der Abfindungen auf die DRV nach Maßgabe von § 7f SGB IV nicht in rechtlich zulässiger Weise erfolgen konnte.
Hierzu im Einzelnen:
Mit der durch das Flexi-II-Gesetz (Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen und zur Änderung anderer Gesetze neu gefasst, Bundesgesetzblatt [BGBl] 2008, 2940) neu gefassten Norm des § 7b SGB IV wird bestimmt, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit einer schriftlich zu vereinbarenden Wertguthabenvereinbarung darauf einigen, dass "Arbeitsentgelt in das Wertguthaben eingebracht wird, um es für Zeiten der Freistellung von der Arbeitsleistung oder der Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit zu entnehmen" (§ 7b Ziff. 3 SGB IV). § 7b Ziff. 4 SGB IV normiert, dass das aus dem "Wertguthaben fällige Arbeitsentgelt mit einer vor oder nach der Freistellung von der Arbeitsleistung oder der Verringerung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit erbrachten Arbeitsleistung erzielt wird". Mit der Wertguthabenvereinbarung einigen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer somit darauf, einen Teil des dem Arbeitnehmer zustehenden Arbeitsentgeltes nicht auszuzahlen, sondern in ein vom Arbeitgeber geführtes, insolvenzrechtlich geschütztes Konto (siehe § 7e SGB IV) für eine spätere Freistellung z. B. Elternzeit, Pflegezeit, Vorruhestand einzustellen (vgl. Meurs, Übertragung von Wertguthaben auf die DRV - Abruf und Ankündigungsfristen, Betriebsberater [BB] 2012, 1012; BMF-Schreiben vom 17.06.2009 VV DEU BMF 2009-06-17 IV C 5-S 2332/07/0004, BStBl I 2009, 1286; Schmidt/Krüger, 38. Aufl. 2019, § 19 Rz. 100 Stichwort: "Arbeitszeitkonten"). Wesentliche Rechtsfolge einer Wertguthabenvereinbarung ist, dass Einstellungen keine Beitragspflicht zur Sozialversicherung auslösen (§ 23 b Abs. 1 Satz 1 SGB IV) und auch nicht der Lohnsteuer unterliegen, da dem Arbeitnehmer noch kein Arbeitslohn zufließt (siehe BFH-Urteil vom 28.10.2020 X R 1/19, BStBl II 2021, 283). Die durch Zuführung der auf dem Guthabenkonto angesammelten Beträge aufgeschobene Verbeitragung bzw. Lohnversteuerung wird nach § 23b Abs. 1 SGB IV vielmehr erst ausgelöst, wenn dem Arbeitnehmer das auf dem Guthabenkonto angesparte Arbeitsentgelt während der Freistellung von der Arbeitsleistung bei noch fortbestehendem Dienstverhältnis ausbezahlt wird. Für den Fall, dass das Dienstverhältnis aus nicht vorhersehbaren Gründen vorzeitig - also vor Beginn der Freistellungsphase bzw. während der noch laufenden Freistellung von der Arbeitsleistung - beendet wird, lässt § 7f SGB IV eine Portabilität von Wertguthaben durch Übertragung des Wertguthabens auf einen neuen Arbeitgeber bzw. auf die DRV zu. Beiden Übertragungsmöglichkeiten liegt ein Störfall zugrunde, der darauf beruht, dass das (fortgeführte) Arbeitsverhältnis noch vor Beginn oder während noch laufender Arbeitsfreistellungsphase aus nicht vorhersehbaren Gründen etwa durch Tod des Arbeitnehmers oder (fristlose) Kündigung des Arbeitsverhältnisses beendet wird (sog. Störfall). Zur Vermeidung einer sofortigen Auflösung des Wertguthabens lässt der Gesetzgeber deshalb eine Übertragung der Wertguthaben nach Maßgabe von § 7f SGB IV vor. Ein solcher Störfall ist im Streitfall aber nicht gegeben.
Mit den vorliegenden Abfindungen, deren Entstehung und Fälligkeit die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses voraussetzte, konnte diese Zielsetzung nicht erreicht werden, denn mit den Leistungen sollten die ausscheidenden Arbeitnehmer nach dem übereinstimmenden Willen der Vertragsbeteiligten für ihre entgehenden (künftigen) Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit entschädigt werden. Eine Verwendung der Abfindung für eine Freistellung von der Arbeitsleistung in dem bei der Klägerin bestehenden Beschäftigungsverhältnis war keinesfalls beabsichtigt. In dem Zeitpunkt, als die Arbeitnehmer die Klägerin nach Maßgabe der mitbestimmungspflichtigen Bestimmungen (Sozialplan/Interessenausgleich) anwiesen, ihre fälligen Abfindungen nicht oder jedenfalls nicht in voller Höhe auszuzahlen, sondern ihren Langzeitkonten zuzuführen, stand vielmehr fest, dass die Arbeitsverhältnisse mit der Klägerin beendet werden und eine künftige Freistellung von der Arbeitsleistung ihr gegenüber ausschied. Die an die rechtsbeständige Beendigung der Arbeitsverhältnisse mit der Klägerin gekoppelten Abfindungen sollten nach dem übereinstimmenden Willen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber vielmehr dazu dienen, die auf den Langzeitkonten gebuchten Wertguthaben vor deren Übertragung auf die DRV (siehe § 7f SGB IV) um die nicht ausgezahlten Abfindungsbeträge aufzustocken. Mit den um die Abfindungsbeträge aufgestockten Beträgen sollten zum einen die Mindesthöhen erreicht werden, von deren Erreichung die Übertragung bestehender Zeitwertkonten auf die DRV abhängt (das Wertguthaben einschließlich des Gesamtsozialversicherungsbeitrags nach § 28d SGB IV muss einen Betrag in Höhe des Sechsfachen der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV übersteigen, dies waren in den Kalenderjahren 2012 und 2013 West 15.750 € und 16.170 €). Zum anderen diente die Aufstockung dazu, mit den auf die übertragenen Wertguthaben zugeführten Beträgen die in § 7c SGB IV aufgezählten Freistellungszeiten zu finanzieren.
Davon abgesehen konnten die Abfindungen auch deshalb nicht den Langzeitkonten der ausscheidenden Arbeitnehmer zugeführt werden, weil es sich insoweit nicht um Arbeitsentgelt handelte.
Nach dem Wortlaut des § 7b Abs. 1 Nr. 3 SGB IV kann den Wertguthaben nur "Arbeitsentgelt" zugeführt werden. Nach der Legaldefinition des § 14 Abs. 1 SGB IV zählen zum (sozialversicherungspflichtigen) Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen "aus einer Beschäftigung", gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Auch (unechte) Abfindungen können hiernach Arbeitsentgelt darstellen, vorausgesetzt, sie lassen sich zeitlich der versicherungspflichtigen Beschäftigung zuordnen, d.h. sie müssen auf die Zeit der Beschäftigung und der Versicherungspflicht entfallen. Dies trifft aber auf eine (echte) Abfindung, die - wie hier - aus Anlass der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses als Entschädigung für künftig entgehende Einnahmen geleistet wird, nicht zu (so zutreffend die langjährige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], Urteil vom 21.02.1990 12 RK 20/88, Amtliche Sammlung des BSG [BSGE] 66, 219 Tz. 13). Mit den von der Klägerin geleisteten Abfindungen verfolgte diese bei lebensnaher Betrachtung vielmehr den Zweck, die Arbeitnehmer zum Ausscheiden aus ihrem Unternehmen zu motivieren bzw. einen gewissen Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes zu leisten. Diese Gründe schließen es aus, die Leistungen zeitlich dem Beschäftigungsverhältnis zuzuordnen. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn es sich etwa um eine Nachzahlung von während der Beschäftigung verdientem Entgelt handelte, wie dies etwa bei der Abgeltung von nicht in Anspruch genommenem Urlaub der Fall sein kann (unechte Abfindung).
Bei den hier im Streit stehenden Abfindungen handelt es sich jedoch aus den vorstehend genannten Erwägungen nicht um eine solche Nachzahlung. Die Abfindungsleistungen konnten auch nicht kraft einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Klägerin und den ausscheidenden Arbeitnehmern auf den Beschäftigungszeitraum verschoben werden. Auch wenn im Arbeitsverhältnis der Grundsatz der Privatautonomie gilt, der es dem Einzelnen ermöglicht, im Rahmen der Rechtsordnung eigenverantwortlich rechtsverbindliche Regeln durch Abschluss eines Rechtsgeschäfts zu vereinbaren, erlaubt die jetzige Rechtslage den Vertragsbeteiligten nicht auf die Sozialversicherungsfreiheit der echten Abfindung zu verzichten (siehe Schönhöft, Wertguthaben zur Übertragung auf die Deutsche Rentenversicherung - Eine Alternative zur Abfindungszahlung?, BB 2021, 1332). Aus der Regelung des § 32 SGB I wird deutlich, dass Sozialversicherungspflicht nicht durch eine private Vereinbarung begründet werden kann, sondern dass es auf das tatsächlich Gelebte ankommt.
Im Ergebnis vermochte die Zuführung der Abfindungsbeträge auf die Langzeitkonten deshalb nicht zur Aufschiebung der Fälligkeit führen. Es handelte sich um einen gegenwärtigen Zufluss von Arbeitslohn, der durch den Abschluss einer Lohnverwendung zu Gunsten der DRV begründet wurde.
Diese Würdigung wird zudem dadurch untermauert, dass die Abfindungsbeträge - anders als dies für die übrigen Zuführungen von Arbeitsentgelten auf die Langzeitkonten der Fall war - nicht im Namen der Klägerin bei der I...-AG kapitalsichernd angelegt worden waren. Auf diesen Umstand hat der Beklagte zu recht hingewiesen.
Ungeachtet dessen erlangten die Arbeitnehmer die wirtschaftliche Verfügungsmacht über die Abfindungsbeträge spätestens mit der Überweisung der Abfindungen durch die Klägerin auf die bei der DRV geführten Treuhandkonten. Eine Bindung an den Treuhandzweck konnte nicht eintreten, weil die Abfindungen mangels Arbeitsentgeltcharakters nicht übertragbar sind und eine Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 52 EStG ausscheidet.
Mit der auf Rechnung der Arbeitnehmer überwiesenen Beträge an die DRV flossen den Arbeitnehmern die Einnahmen zu (vgl. BFH-Urteile vom 01.10.1993 III R 32/92, BStBl II 1994, 179 vom 22.02.2018 VI R 17/16 a. a. O., Schmidt/Krüger a. a. O., § 11 Tz. 17).
Bei den nämlichen Kontenguthaben handelt es sich auch um solche Positionen, die den Arbeitnehmern jeweils zuzuordnen waren. Aus der Norm des § 7f Abs. 3 SGB IV folgt nämlich, dass die DRV die ihr übertragenen Wertguthaben einschließlich des darin enthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeitrags getrennt von ihrem sonstigen Vermögen treuhänderisch zu verwalten hat (siehe auch Wißing in: Schlegel/Voelzke in jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 7f SGB IV, Rz. 38 [Stand: 01.03.2016]).
Eine Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 52 EStG scheidet für die auf die übertragenen Wertguthaben zugeführten Abfindungsbeträge jedoch aus.
Nach § 3 Nr. 52 EStG ist eine Steuerbefreiung gegeben, wenn nach § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Wertguthaben auf die DRV als Treuhänder wirksam übertragen werden kann, sofern ein neues Arbeitsverhältnis nicht folgt. § 3 Nr. 52 EStG schließt es insoweit aus, die Verfügung des Arbeitnehmers über sein Guthaben als Zufluss zu versteuern (Schmidt/Levedag a. a. O., § 3 Tz. 175).
Ein (Lohn-)Steuerpflicht wird vielmehr erst im Zeitpunkt der Freistellungsphase i. S. des § 7c SGB IV mit Auszahlung des Guthabens ausgelöst.
Die Steuerbefreiung kommt indes hier nicht zum Tragen, weil es im Hinblick auf die fraglichen Abfindungsleistungen an einer wirksamen Übertragung des Wertguthabens auf die DRV mangelt.
Die Abfindungsleistungen konnten aus den vorstehenden Gründen nicht Gegenstand einer wirksamen Wertguthabenvereinbarung i. S. von § 7b SGB zwischen der Klägerin als Arbeitgeberin und den Arbeitnehmern sein. Auch insoweit ist von Gewicht, dass die hier aus Anlass des Arbeitsplatzverlustes geleistete Abfindung kein Arbeitsentgelt gemäß § 14 SGB IV darstellte. Vielmehr handelte es sich um fällige als Wertguthaben "getarnte" Guthaben zu Gunsten der Arbeitnehmer, für die eine Bindung an die Freistellungszeiten nach § 7c SGB IV nicht gelten konnte. Die Anspruchsberechtigung der Arbeitnehmer folgte hier aus Bereicherungsrecht nach § 812 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Bei fehlender, nichtiger oder unwirksamer Wertguthabenvereinbarung erfolgt der Ansparvorgang ohne Rechtsgrund. Die Rückabwicklung hat deshalb nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen (§§ 812 ff. BGB) zu erfolgen und ist nicht etwa als Störfall nach § 23b SGB IV zu behandeln (so zutreffend Wißing in: Schlegel/Voelzke in jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 7f SGB IV, Rz. 38 [Stand: 01.03.2016] für den Fall einer gegen das Schriftformerfordernis abgeschlossenen Wertguthabenvereinbarung nach § 126 BGB i. V. m. § 7b SGB IV; Ulrich Freudenberg, Aufsatz in B + P 2011, 126). Die Rückabwicklung wegen Zweckverfehlung nach § 812 Abs. 1 Satz 2 2. Fall BGB außerhalb der Störfallregelungen des SGB IV schließt es deshalb aus, die für den tatsächlichen Störfall vorhergesehene Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 52 EStG hier eingreifen zu lassen.
Mit dieser Beurteilung weicht der erkennende Senat im Ergebnis nicht von der (bisherigen) höchstrichterlichen Rechtsprechung ab, nach der Gutschriften auf einem Wertguthabenkonto (gleichbedeutend mit Langzeit- /Wertguthabenkonto) kein gegenwärtig zufließender Arbeitslohn sind (BFH-Urteil vom 22.02.2018 VI R 17/16, BStBl II 2019, 496).
Gegen die hier vorgenommene Bewertung kann die Klägerin sich nicht mit Erfolg auf eine verfassungsrechtlich unzulässige doppelte Inanspruchnahme der Arbeitnehmer bzw. der Klägerin berufen. Soweit es die Gesamtsozialversicherungsbeträge anbelangt, kann dies schon deshalb nicht der Fall sein, weil es sich bei den hier in Rede stehenden Abfindungen, die wegen Beendigung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung als Entschädigung für die Zeit danach gezahlt wird, nach zutreffender Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, welche der Senat für zutreffend erachtet und der er folgt, kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt darstellt (BSG-Urteil vom 21.02.1990 12 RK 20/88, BSGE 66, 219). Auch in lohnsteuerrechtlicher Hinsicht ergibt sich im Ergebnis keine andere Beurteilung.
Insoweit ist einerseits von Relevanz, dass für die hier streitigen Abfindungen, die als Entschädigungsleistungen gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1b EStG geleistet werden, zur Abmilderung der Progressionswirkung aufgrund des zusammengeballten Zuflusses von Einnahmen in einem Veranlagungszeitraum ein besonderer Steuersatz nach § 34 EStG zur Anwendung kommt. Davon abgesehen kann die Klägerin wegen ihrer Inanspruchnahme als Haftungsschuldnerin gegen ihre ehemaligen Arbeitnehmer zivilrechtliche Rückgriffsrechte geltend machen.
Die Höhe der Lohnsteuern, für welche die Klägerin durch den verfahrensgegenständlichen Haftungsbescheid in Anspruch genommen wird, unterliegt gleichfalls keinen Bedenken.
Die Schätzungen der Bemessungsgrundlage und die zugrunde gelegten Steuersätze sind zutreffend ermittelt. Die Klägerin hat für die betroffenen Arbeitnehmer keine Einkommensteuerbescheide zur Untermauerung der genauen Höhe der Einkommensteuer vorgelegt, was auch für Zwecke des Lohnsteuerhaftungsverfahrens zu ihren Lasten zu würdigen ist, weil die Klägerin insoweit die objektive Feststellungslast trifft (siehe Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.10.2018 4 K 4263/17, juris, nicht rechtskräftig, Revision anhängig, Aktenzeichgen des BFH: VI R 47/18).
Es ist auch nicht erkennbar, dass die gegenüber den Arbeitnehmern erfolgte vorrangige Inanspruchnahme der Klägerin als deren Arbeitgeberin einen Ermessensfehler i. S. der § 102 FGO, § 5 AO begründet.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen. Ob Abfindungen, die als Entschädigungsleistungen für den Verlust von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geleistet werden, zur Vermeidung eines Zuflusses bei den Arbeitnehmern in wirksamer Weise in Zeitwertkonten (Wertguthaben) zugeführt bzw. auf die DRV steuerfrei übertragen werden können, ist noch nicht höchstrichterlich geklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.