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  • 29.04.2024 · IWW-Abrufnummer 241224

    Sozialgericht München: Urteil vom 22.03.2024 – S 1 U 5015/23

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    S 1 U 5015/23

    SOZIALGERICHT MÜNCHEN

    IM NAMEN DES VOLKES

    URTEIL

    in dem Rechtsstreit

     A., H-Straße, P-Stadt
    - Kläger -
    Proz.-Bev.:
    V., S-Straße, M-Stadt

    gegen
    Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau - Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft - vertreten durch die Geschäftsführung, Neumarkter Straße 35, 81673 München
    - Beklagte -
    Unfallversicherung

    Die 1. Kammer des Sozialgerichts München hat auf die mündliche Verhandlung in München am 22. März 2024

    für Recht erkannt:

    I.    Der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2023 wird aufgehoben.

    Es wird festgestellt, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach Ziffer 3102 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung vorliegt.

    II.    Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

    T a t b e s t a n d

    Streitig zwischen den Beteiligten ist die Frage, ob beim Kläger eine Berufskrankheit (BK) nach Ziffer 3102 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) ‒ im Folgenden BK 3102 ‒ vorliegt.

    Der 1948 geborene Kläger ist Rentner. Er war und ist zudem im landwirtschaftlichen Betrieb seines Sohnes als mitarbeitender Familienangehöriger tätig. Konkret hilft er (nach eigenen Angaben in den Fragebögen der Beklagten) insbesondere bei Wald-/Holzarbeiten und der Heuernte sowie bei der Jungholzpflege mit, zeitlich an rund 60 Tagen pro Jahr für jeweils sechs bis acht Stunden. Er ziehe sich häufig Zecken zu und entferne diese selbst; einmalig sei eine solche im Jahr 2008 von seinem Hausarzt entfernt worden.

    Ausweislich eines Berichts der Kreisklinik  T-Stadt zum dortigen Aufenthalt des Klägers vom 1. bis 6. Juli 2022 war dieser dort bereits am 18. Juni 2022 wegen seit wenigen Tagen bestehender Flankenschmerzen vorstellig geworden. Die Schmerzen seien zunächst als Nierenkolik gewertet worden, nach Durchführung radiologischer Untersuchungen wurde eine aktivierte Osteochondrose als Schmerzursache vermutet. Bei zunehmender Schmerzsymptomatik sei dann der Verdacht auf Herpes Zoster gestellt und eine diesbezügliche Behandlung eingeleitet worden. Beim anschließenden Aufenthalt des Klägers im Klinikum  T1-Stadt vom 6. bis 18. Juli 2022 wurde sodann anhand der entsprechenden Laborwerte (unstreitig) eine akute Neuro-Borreliose festgestellt und behandelt. Vom Klinikum  T1-Stadt erfolgte wegen des Verdachts auf das Vorliegen einer berufsbedingten Borreliose eine entsprechende Meldung an die Beklagte.

    Der Beratungsarzt der Beklagten R. bestätigte in seiner Stellungnahme vom November 2022 anhand der vorliegenden medizinischen Unterlagen, dass beim Kläger mit ausreichender Sicherheit von einer frühen Lyme-Neuroborreliose als Folge eines unbemerkten Zeckenstiches ausgegangen werden könne. Die vom Kläger noch beklagte Müdigkeit und Kraftlosigkeit könne ein mildes Residualsyndrom nach durchgemachter Lyme-Neuroborreliose darstellen.

    Nach Beteiligung der Regierung von Oberbayern (Gewerbeaufsichtsamt) stellte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Januar 2023 fest, beim Kläger bestehe keine BK 3102 (Borreliose). Sie begründete dies insbesondere damit, dass beim Kläger für die Gelegenheitsarbeiten als mitarbeitender Familienangehöriger in der Landwirtschaft eine erhöhte Gefährdung nicht angenommen werden könne.

    Seinen Widerspruch stützte der Kläger darauf, dass er sich bei Arbeiten im Wald und auf dem Feld ständig Zecken zuziehe und diese nahezu immer selbst entferne. Privat gehe er nicht in den Wald oder auf Wiesen. Das private Fahrradfahren und Spazierengehen erfolge nur auf befestigten Wegen. Er habe keinen eigenen Garten.

    Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2023 zurückgewiesen. Zwar genüge bei der Bewertung einer Borreliose als BK 3102 eine erhöhte Infektionsgefahr statt einer konkreten Einwirkung. Eine erhöhte Infektionsgefahr im Vergleich zur übrigen Bevölkerung sei aber im Vollbeweis nachzuweisen. Die vom Kläger angegebenen 60 Tage à sechs bis acht Stunden seien deutlich weniger als bei einem Landwirt/Waldarbeiter, der seine Arbeitszeit das ganze Jahr über überwiegend im Wald bzw. in der Landwirtschaft verbringe. Bei der bloßen Mithilfe des Klägers sei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung die Infektionsgefahr nicht in besonderem Maße erhöht. Die Gefahr bei der versicherten Tätigkeit habe gegenüber derjenigen im privaten Bereich kein deutliches Übergewicht.

    Die gegen die Entscheidung der Beklagten erhobene Klage wurde ‒ ähnlich wie der Widerspruch ‒ dahingehend begründet, der Kläger arbeite wöchentlich in der Landwirtschaft seines Sohnes mit. Die Arbeitszeiten richteten sich insbesondere bei der Heu- und Getreideernte und der Waldpflege insbesondere nach dem Wetter. Zeckenbisse würden zum beruflichen Alltag des Klägers gehören, Spaziergänge wegen der Gehbehinderung der Lebensgefährtin des Klägers nur auf befestigten Wegen erfolgen. Privat habe er keinen Garten.

    Eine Vorortprüfung/persönliche Befragung durch den Präventionsdienst der Beklagten während des Klageverfahrens am 13. September 2023 ergab, dass der Kläger aus Sicht des Präventionsdienstes keinem Hobby nachgehe, das mit einem erhöhten Risiko eines Zeckenbisses einhergehe. Er fahre lediglich Fahrrad und wandere nur auf befestigten Straßen. Er wohne in einer 2-Zimmer-Souterrainwohnung in einem Mehrfamilienhaus in einer Wohnsiedlung. In seinem Gartenanteil sei eine kleine Rasenfläche vorhanden.

    Auf Anforderung des Gerichts legte der Kläger ein „Tagebuchheft“ (eine handschriftliche Seite) zu seinen Tätigkeiten in der Landwirtschaft seines Sohnes im ersten Halbjahr 2022 vor. Danach war er im Februar 2022 an zwei Tagen mit Waldkontrolle/Holzarbeit befasst, im März 2022 an zwei Tagen mit dem Entfernen von Ampferwurzeln vom Acker und Aussaat, im April 2022 an einem Tag mit Waldkontrolle. Am 10./11. Mai 2022 habe er „siliert“ [Hinweis: Verarbeitung von Grünfutter]. Für den 21. Mai 2022 ist notiert „Boschn ausgemäht v. Gras u. Borkenkäfer-Kontrolle“, für den 23. Mai 2022 „Ampfer gestochen“, für den 28. Mai 2022 „Hühnerzaun versetzt“. Am 9. Juni 2022 wurde erneut „Ampfer gestochen“, am 14. Juni 2022 „Boschn ausgemäht u. Borkenkäferkontrolle“ sowie am 15. Juni 2022 „bei Heuernte geholfen“.

    In der mündlichen Verhandlung am 22. März 2024 wurde „Boschn ausgemäht“ vom Kläger dahingehend erläutert, dass dabei um Baumsetzlinge (Boschn) herum Gras und Stauden entfernt würden. Das „Tagebuchheft“ habe er nicht aus dem Kopf, sondern anhand seines privaten Tagebuchs erstellt. Seine (telefonische) Auskunft im Erörterungstermin vom 1. Februar 2024, im zu seiner Wohnung gehörenden Garten sei er nicht tätig, sondern baue nur in Balkonkästen auf der Terrasse Salat an, bekräftigte der Kläger in der mündlichen Verhandlung. Zwar habe seine Lebensgefährtin Hasen im Garten, mit diesen habe er aber allenfalls im Falle einer Erkrankung seiner Lebensgefährtin zu tun. Diese sei zum Glück selten krank und dies jedenfalls nicht im Mai und Juni 2022 gewesen. Er gehe etwa ein- bis zweimal pro Woche spazieren. Auch wenn seine (gehbehinderte) Lebensgefährtin nicht dabei sei, spaziere er nur auf befestigten Wegen, damit er sicherer gehen und gleichzeitig schauen könne. Seine ein- bis zweistündige Fahrradtour pro Woche mache er im Flachland mit freier Sicht, d.h. nicht dort wo es Büsche gebe, und nur auf befestigten Wegen, er fahre keine Schleichwege. In den Wald gehe er nur, wenn er das für die Tätigkeit für seinen Sohn müsse.

    Der Kläger beantragt,
    den Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2023 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach Ziffer 3102 (Borreliose) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung vorliegt.

    Die Beklagte beantragt,
    die Klage abzuweisen.

    Die vereinzelten Tätigkeiten des Klägers im Unternehmen seines Sohnes würden keine besonders erhöhte Infektionsgefahr gegenüber der Gesamtbevölkerung begründen. Bei der BK 3102 trete die besonders erhöhte Infektionsgefahr an die Stelle der Einwirkungen bei anderen BKen. Sie sei demnach ‒ ebenso wie das Merkmal der Einwirkungen ‒ im Vollbeweis nachzuweisen. Beim Kläger sei sie aufgrund des geringen Umfanges der Tätigkeiten nicht vollbeweislich gesichert. Eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit sei ebenso möglich, zumal der Kläger auf dem Land wohne, einen Garten habe und Bayern zu einem Borreliose-Risikogebiet gehöre.

    Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, hier insbesondere auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung, sowie die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.

    E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

    Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig und auch begründet, da beim Kläger ‒ anders als von der Beklagten entschieden ‒ das Vorliegen einer BK 3102 festzustellen ist.

    BKen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BK bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit (§§ 2, 3 und 6 SGB VII) erleiden. Erkranken Versicherte, die infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung ausgesetzt waren, an einer solchen Krankheit und können Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden, wird vermutet, dass diese infolge der versicherten Tätigkeit verursacht worden ist (§ 9 Abs. 3 SGB VII).

    Die Anerkennung einer BK setzt voraus, dass die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben. Dabei müssen grundsätzlich die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung im Vollbeweis nachgewiesen sein, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 45, 1, 9; 19, 52, 53; 7, 103, 106). Darüber hinaus muss die sog. haftungsbegründende Kausalität zwischen berufsbedingten Einwirkungen und Erkrankung zumindest mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als vorliegend bejaht werden.

    Der zu bewertende Sachverhalt ist im vorliegenden Fall unstreitig. Dies gilt insbesondere für das Vorliegen einer frühen Lyme-Neuroborreliose (mögliche Listen-BK nach Ziffer 3102 der Anlage 1 zur BKV) mit entsprechenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab Juni 2022 sowie die Tätigkeit des Klägers für das landwirtschaftliche Unternehmen seines Sohnes, also die versicherte Tätigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 5b SGB VII. Es besteht für das Gericht kein Anlass, an dem Inhalt des „Tagebuchheftes“ des Klägers zu zweifeln, das nach dessen glaubhafter Auskunft nicht nachträglich aus der Erinnerung erstellt wurde, sondern ein Exzerpt aus einem privaten Tagebuch darstellt. Entsprechendes gilt für die Angabe, dass es sich an den aufgelisteten Tagen nicht um nur zeitlich irrelevante Einsätze, sondern um (fast) volle Arbeitstage handelte. Unstreitig waren die notierten Tätigkeiten insbesondere auch für Mai und Juni 2022 als Arbeit im Gras und im Gestrüpp mit einer erhöhten Gefahr von Zeckenbissen verbunden.

    Der Kläger war ‒ anders als von der Beklagten angenommen ‒ aufgrund seiner versicherten Tätigkeit einer im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt.

    Bei einer Borreliose ist der Nachweis eines konkreten Zeckenbisses nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, vgl. Urteil vom 30. März 2023, Az. B 2 U 2/21 R) nicht erforderlich (anders noch z.B. BSG, Urteil vom 27. Juni 2017, Az. B 2 U 17/15 R, Rz. 14 nach juris). Vielmehr ersetzt die besondere Infektionsgefahr, der ein Versicherter ausgesetzt ist, die (konkrete) Einwirkung (vgl. BSG, Urteil vom 30. März 2023 aaO., Rz. 16 nach juris). Wie bei der BK 3101 ist der Nachweis ausreichend, dass der Versicherte bei der Berufstätigkeit einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt ist (vgl. BSG aaO., Rz. 17 ff nach juris). Der Argumentation des BSG schließt sich die erkennende Kammer voll an.

    Hinsichtlich der erhöhten Ansteckungsgefahr ist eine Vergleichbarkeit des zeitlichen Umfangs der versicherten Gefährdung des Klägers mit derjenigen von in Vollzeit tätigen Waldarbeitern oder Landwirten nicht erforderlich.

    Allgemein zu BKen sind weder im Gesetz noch in der BKV Anhaltspunkte dafür enthalten, dass sich die typisierende Gefährdungsbewertung von BKen im Allgemeinen nur auf hauptberuflich oder gar in Vollzeit gefährdet tätige Personen bezieht. Dies würde zum einen große Teile aller Beschäftigten hinsichtlich vieler BKen dem Schutz des § 9 SGB VII generell entziehen. Zum anderen wäre die Einführung eines Mindestbeschäftigungsanteils (z.B. Teilzeit 50%) nicht plausibel begründbar und würde zu Ungerechtigkeiten aufgrund notwendiger Grenzziehungen führen. Im Bereich der landwirtschaftlichen Unfallversicherung würde der wichtige Schutz von Nebenerwerbslandwirten sowie mitarbeitenden Familienangehörigen bezüglich BKen in großen Teilen leerlaufen. Eine etwaige Notwendigkeit einer besonderen zeitlichen Belastung ist vielmehr der jeweiligen Beschreibung der BK selbst (z.B. BK 2112) oder medizinischen Erkenntnissen zur notwendigen Belastung (z.B. BK 2108) zu entnehmen.

    Etwas Anderes kann für die BK 3102 (hier: Borreliose) nicht gelten. Vielmehr reicht eine entsprechend erhöhte, nicht nur abstrakte Ansteckungsgefahr (vgl. BSG aaO. Rz. 22 nach juris) aus. Demnach ist eine erhöhte Gefährdung selbstverständlich nicht bei jeder Mitarbeit in der Landwirtschaft oder (formellen) Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe gegeben. Vielmehr muss die konkret ausgeübte Tätigkeit zu einer erhöhten Gefährdung führen. Diese wäre ‒ bezogen auf eine Borreliose ‒ z.B. bei einer zur Landwirtschaft gehörenden Bürotätigkeit ausschließlich in geschlossenen Räumen nur schwerlich anzunehmen. Abgesehen davon ist die Gefahr einer Infektion durch versicherte Tätigkeiten bei in der Land- und Forstwirtschaft („outdoor“) tätigen Personen unstreitig grundsätzlich deutlich erhöht (vgl. u.a. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. April 2015, Az. L 2 U 40/14, Rz. 48 nach juris). Für die Erheblichkeit einer solchen Erhöhung erfordert § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII keinen Grenzwert etwa im Sinne einer Verdopplung (vgl. hierzu für die posttraumatischen Belastungsstörung BSG, Urteil vom 22. Juni 2023, Az. B 2 U 11/20 R, Rz. 23 nach juris).

    Nicht einschlägig ist vorliegend die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts (vgl. Urteil vom 31. Januar 2013, Az. L 17 U 175/11) hinsichtlich der (im dortigen Fall als zu gering bewerteten) Infektionsgefahr eines Waldbesitzers, der in einem deutlich in der Vergangenheit liegenden Jahr während eines Zeitraums von acht Wochen an zwei bis drei Tagen pro Woche gefährdet tätig war, im Vergleich zu derjenigen eines Waldarbeiters, der seine Arbeitszeit überwiegend im Wald verbringt. Denn im Gegensatz zum dort bewerteten Fall liegt der Infektionszeitraum beim Kläger nicht in der ferneren Vergangenheit, sondern ist klar einzugrenzen. Eine genauere Auseinandersetzung mit den Gründen der genannten Entscheidung ist deshalb nicht erforderlich.

    Der Kläger war aufgrund seiner konkreten versicherten Tätigkeit als in der Landwirtschaft mitarbeitender Familienangehöriger im maßgeblichen Zeitraum einer im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erheblich erhöhten Gefährdung ausgesetzt. Die konkrete Tätigkeit des Klägers war hinsichtlich der Zeckengefährdung unzweifelhaft „einschlägig“. Sie war im für eine Ansteckung relevanten Zeitraum im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erheblich erhöht.

    Der maßgebliche Zeitraum für eine Ansteckung aufgrund Zeckenbisses sind im vorliegenden Fall vorrangig die Monate Mai bis Mitte Juni 2022. Die Inkubationszeit bei einer Lyme-Borreliose nach dem Biss durch eine mit Borrelien infizierte Zecke beträgt nach dem Merkblatt zur BK 3102 „Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten“ vier bis sieben bzw. drei bis 14 Tage. Erstmals wegen „seit wenigen Tagen“ bestehender Flankenschmerzen begab sich der Kläger am 18. Juni 2022 in Behandlung. In der demnach maßgeblichen Zeit von Mai bis Mitte Juni 2022 ging der Kläger an neun Tagen (demnach bei einem sechs- bis achtstündigen Arbeitstag zwischen 54 und 72 Stunden) einer Tätigkeit mit erheblicher Gefahr von Zeckenbissen nach, da jeweils im Gras oder Gestrüpp bzw. Wald gearbeitet wurde. Dies ist ganz erheblich mehr als beim Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.

    Im vorliegenden Fall kann vor dem Hintergrund des durchaus erheblichen zeitlichen Umfangs dahinstehen, ob z.B. bereits bei einer qualitativ einschlägigen Mithilfe von insgesamt wenigen Stunden eine Erheblichkeit der Gefährdungserhöhung in Betracht kommen kann. Ab wann bei der BK 3102 eine deutliche Erhöhung der Ansteckungsgefahr anzunehmen ist, hat das BSG nicht näher ausgeführt. Viel spricht jedoch dafür, die zeitlichen Voraussetzungen nicht zu eng anzunehmen, um Teilzeitkräfte bzw. Altenteiler nicht auszuschließen. Eine relativ geringe zeitliche Belastung wäre dann ggf. über § 9 Abs. 3 SGB VII zu berücksichtigen.

    Der in § 9 Abs. 3 SGB VII normierte Anscheinsbeweis (vgl. z.B. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 27. Juli 2023, Az. L 17 U 79/20, Rz. 52 nach juris) wird im Fall des Klägers nicht erschüttert, da bei diesem weder eine Infektion aufgrund der versicherten Tätigkeit ausgeschlossen ist noch dem privaten Lebensbereich zuzuordnende (relevante) Infektionsrisiken bestanden haben (vgl. zu diesen Voraussetzungen z.B. BSG, Urteil vom 30. März 2023, aaO., Rz. 27 nach juris). Die Voraussetzungen für außerberufliche Umstände sind nicht, insbesondere nicht im Vollbeweis (vgl. hierzu z.B. Kasseler Kommentar ‒ Ricke § 9 SGB VII Rz. 27a), nachgewiesen.

    Zu einer vollen Überzeugung einer (relevanten) Gefährdung des Klägers im privaten Bereich konnte das Gericht nicht gelangen. Dies gilt insbesondere für seine Bewegung im Freien sowie eine etwaige Gartentätigkeit.

    Zwar hatte der Kläger während des Verwaltungsverfahrens sowie zunächst im Klageverfahren noch angegeben, keinen Garten zu besitzen, was sich anlässlich des Besuchs des Präventionsdienstes als falsch herausstellte. Der Kläger hat aber in der mündlichen Verhandlung dennoch glaubhaft bekräftigt, dass er sich im Garten ‒ falls nicht eine Erkrankung seiner Lebensgefährtin eine Versorgung der Hasen notwendig mache ‒ nur auf der Terrasse aufhalte und dort in Balkonkästen Salat anbaue.

    Die privaten Spaziergänge und Fahrradtouren des Klägers führen ebenfalls nicht zu einem Vollbeweis einer relevanten privaten Gefährdung. Zwar hat der Kläger im Verwaltungsverfahren hinsichtlich des Radfahrens noch zwei bis drei Stunden pro Woche angegeben, in der mündlichen Verhandlung dagegen die Dauer von ein bis zwei Stunden. Unabhängig von der Dauer ergaben sich jedoch keine Diskrepanzen hinsichtlich des konkreten Inhalts von Spaziergängen und Radtouren, nämlich des Verbleibens auf befestigten Wegen. Die diesbezügliche Erklärung des Klägers (Sicherheit bei Spaziergängen, freie Sicht bei Radtouren) erschien der Kammer überzeugend. Keinesfalls ist jedoch im Vollbeweis anzunehmen, dass etwas Anderes der Fall wäre.

    Weitere private Tätigkeiten des Klägers, die zu einer insbesondere Zeckenexposition führen könnten, sind weder ersichtlich noch nachgewiesen. Die von der Beklagten angeführten Argumente „Wohnen auf dem Land“ und „Risikogebiet Bayern“ führen zu keinem anderen Ergebnis. Denn dies müsste dann für alle Versicherten in Risikogebieten gelten und würden demnach die Anerkennung einer Borreliose als BK 3102 in Risikogebieten ohne Nachweis einer beruflich „erworbenen“, konkreten Zecke (auch bei den von der Beklagten als Vergleichsmaßstab herangezogenen Vollzeit-Waldarbeitern) generell ausschließen. Der erforderliche Schutz bei berufsbedingt erworbener Borreliose würde in Risikogebieten faktisch leerlaufen, obwohl er dort besonders wichtig ist. Vergleichsmaßstab ist vielmehr die vergleichbare Gesamtbevölkerung.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).