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  • 17.07.2024 · IWW-Abrufnummer 242718

    Arbeitsgericht Bonn: Urteil vom 24.04.2024 – 5 Ca 1149/23

    1. Spricht der Arbeitgeber eine unwirksame Kündigung aus und hat der Arbeitnehmer zur Erzielung anderweitigen Verdienstes während des Annahmeverzugszeitraums höhere Fahrtkosten als bei fortgeführtem Arbeitsverhältnis, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Schadensersatz gegen den Arbeitgeber, welcher auf den Ersatz dieser Fahrtkosten gerichtet ist.

    2. Die Kammer hat offengelassen, ob die erhöhten Fahrtkosten alternativ ganz oder – insbesondere unter Berücksichtigung erhöhter Werbungskosten – teilweise als Abzugsposten von dem gemäß § 11 Nr. 1 KSchG anzurechnenden anderweitigen Verdienst geltend gemacht werden können.

    3. Einzelfallentscheidung zur Schätzung der Annahmeverzugsvergütung bei stark schwankenden Zuschlägen vor Beginn des Annahmeverzugs.


    Arbeitsgericht Bonn


    Tenor:

    1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 14.035,10 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.01.2024 zu zahlen.
    2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.600,94 € netto zu zahlen.
    3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
    4. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 74 % und die Beklagte zu 26 %.
    5. Der Rechtsmittelstreitwert beträgt 24.955,84 €.
    6. Die Berufung wird gesondert zugelassen.

     
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    T a t b e s t a n d

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    Die Parteien streiten über die Zahlung restlicher Annahmeverzugsvergütung nach einer unwirksamen Kündigung der Beklagten, Zinsansprüche sowie die Erstattung von Fahrtkosten für die Erzielung anderweitigen Erwerbs.

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    Mit Schreiben vom 13.09.2021 kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis fristlos. Der Kläger obsiegte im Kündigungsschutzprozess erst- und zweitinstanzlich. Mit Schreiben vom 27.06.2023 (Anlage K 32 zur Klageschrift vom 19.07.2023, Bl. 66 ‒ 70 der Akte) machte der Kläger umfangreiche Annahmeverzugsansprüche geltend. Während des vom 13.09.2021 bis zum 15.06.2023 dauernden Annahmeverzugs bezog der Kläger vom 13.09.2021 bis 30.11.2021 Arbeitslosengeld in Höhe von insgesamt 4.843,80 €. Sodann verdiente er bei einem anderen Arbeitgeber vom 01.12.2021 bis zum 15.06.2023 insgesamt 64.427,06 € brutto. Die Beklagte zahlte dem Kläger zunächst 19.284,29 € brutto Annahmeverzugsvergütung. Später zahlte die Beklagte dem Kläger weitere 2.552,79 € brutto Annahmeverzugsvergütung. Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger während des Annahmeverzugs zustehenden zu schätzenden Verdienstes bei der Beklagten.

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    In den Monaten Januar 2021 bis August 2021 zahlte die Beklagte dem Kläger unter Ausklammerung einer Jahressonderzahlung, jedoch unter Einschluss von Zuschlägen, folgende Gehälter: Januar: 4.236,41 €, Februar: 3.940,56 €, März: 4.990,91 €, April: 4.021,39 €, Mai: 5.062,07 €, Juni: 5.193,38 €, Juli: 5.305,39 €, August: 4.115,16 €. Das entspricht durchschnittlich 4.608,16 € brutto pro Monat. Das Grundgehalt des Klägers belief sich ab Januar 2021 auf 3.206,00 € brutto monatlich, ab Juni 2021 auf 3.296,00 € brutto monatlich und ab Juni 2022 auf 3.444,00 € brutto monatlich.

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    Der Arbeitsweg des Klägers zu dem Arbeitsplatz bei der Beklagten betrug 13 km bis 16 km (einfache Strecke). Der Arbeitsweg des Klägers zu dem Arbeitgeber, bei dem er anderweitigen Erwerb erzielte, betrug 45 km bis 46 km für die kürzeste Straßenverbindung (einfache Strecke). Der Kläger fuhr regelmäßig 57 km bis 62 km u. a. über die Autobahnen 1 und 61 (einfache Strecke).

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    Der Kläger ist der Auffassung, dass der fiktive Erwerb bei der Beklagten auf Basis der Durchschnittsbezüge im Zeitraum Januar 2021 bis August 2021 zuzüglich der zwischenzeitlichen Tariferhöhungen und der während des Annahmeverzugs jeweils fälligen Sonderzahlungen in den Monaten Mai und November zu schätzen sei. Es ergebe sich somit ein Gesamtanspruch von 105.143,04 € brutto (zu den Einzelheiten siehe die Anlage K 40 zum Schriftsatz vom 18.01.2024, Bl. 32 der Akte). Die Richtigkeit der Berechnung der Beklagten bestreitet der Kläger. Er habe vor Ausspruch der Kündigung in erheblichem Umfang zuschlagpflichtige Mehrarbeit geleistet, hätte dies auch während des Annahmeverzugszeitraums getan und tue dies auch jetzt wieder. Nach Kenntnis des Klägers sei nach August 2021 aus betrieblichen bzw. produktionstechnischen Gründen nicht weniger zuschlagpflichtige Arbeit angefallen.

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    Der Kläger ist der Ansicht, dass die Beklagte ihm die zusätzlichen Fahrtkosten für die Erzielung anderweitigen Erwerbs im Wege des Schadensersatzes zu ersetzen habe. Insofern hält der Kläger es für zulässig, zwecks Zeitersparnis von ca. 10 bis 15 Minuten pro Richtung den Weg über die Autobahn genommen zu haben. Für 317 Fahrten beansprucht er 9.319,80 € auf Basis einer Kilometerpauschale von 0,30 €.

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    Der Kläger meint, dass die Beklagte die offenen Vergütungsforderungen für den Zeitraum 01.10.2021 bis 31.05.2023 mit insgesamt 1.600,94 € netto zu verzinsen habe. Wegen der Einzelheiten wird auf die Zinsberechnung des Klägers (Anlage K 41 zum Schriftsatz vom 18.01.2024, Bl. 130 / 131 der Akte) Bezug genommen.

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    Der Kläger beantragt nach einer Teilklagerücknahme hinsichtlich der Erteilung von Gehaltsabrechnungen und der Zahlung einer Corona-Prämie sowie nach einer Anpassung der Zahlungsanträge mit einem am 19.01.2024 zugestelltem Schriftsatz nach gerichtlichem Hinweis zuletzt,

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    1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 14.035,10 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klageerweiterung zu zahlen und

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    2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 10.920,74 € netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klageerweiterung zu zahlen.

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    Die Beklagte beantragt,

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    die Klage abzuweisen.

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    Die Beklagte ist der Auffassung, dass der während des Annahmeverzugszeitraumes entgangene Verdienst nicht auf Basis des Durchschnitts für die Monate Januar 2021 bis August 2021 zuzüglich der Tariferhöhungen und Sonderzahlungen zu schätzen sei. Es habe kein Rechtsanspruch des Klägers auf eine Arbeitszeiteinteilung, die zu Mehrarbeitszuschlägen, Nachtzuschlägen, Schichtzuschlägen und Sonntagszuschlägen geführt hätte, bestanden. Hinsichtlich der Ableistung zusätzlicher zuschlagspflichtiger Stunden bestehe auch keine Erwartungshaltung der Beklagten in quantitativer Hinsicht. Es komme auf die Meldungen der Mitarbeiter und den fachlichen Bedarf im Einzelfall an. Sie habe daher zu Recht eine Durchschnittsbetrachtung für eine größere Gruppe angestellt und die Zuschläge ermittelt, die mit dem Kläger vergleichbare Produktionsmitarbeiter aus seinem Bereich mit seiner Kostenstelle im streitgegenständlichen Zeitraum erwirtschaftet hätten. Insgesamt habe sie auf dieser Basis unter Einschluss des Grundgehalts und von Sonderzahlungen einen Bruttobetrag von 92.328,19 € ermittelt. Wegen der Einzelheiten dieser Berechnung wird auf die Klageerwiderung vom 29.01.2024, Seite 4 ‒ 16 (Bl. 159 ‒ 171 der Akte) Bezug genommen.

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    Die Fahrtkosten hält die Beklagte schon dem Grunde nach aus Rechtsgründen nicht für erstattungspflichtig. Jedenfalls aber sei es dem Kläger zumutbar gewesen, die kürzeste Straßenverbindung zu wählen, so dass sich unter Anrechnung des nicht gefahrenen Arbeitswegs zum Sitz der Beklagten ein Anspruch von allenfalls 5.411,40 € (311 Arbeitstage x 58 km x 0,30 €) ergebe. Der durchschnittliche Zeitvorteil bei der Wahl der längeren Strecke hätte bei nur sieben Minuten gelegen.

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    Einwendungen gegen den Zinsanspruch, die sich nicht gegen die Hauptforderung selbst richten, macht die Beklagte nicht geltend.

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    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Protokolle des Gütetermins und des Kammertermins sowie auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

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    E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

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    I. Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

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    1. Der Kläger kann von der Beklagten die Zahlung weiterer 14.035,10 € brutto Annahmeverzugsverfügung zuzüglich Rechtshängigkeitszinsen ab dem 20.01.2024 sowie Verzugszinsen bis zum 31.05.2023 verlangen.

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    a) Während des Annahmeverzugs nach unwirksamer Kündigung hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Leistungen mit Entgeltcharakter grundsätzlich weiter zu gewähren (§ 615 Satz 1 BGB). Abzuziehen von dem Nachzahlungsanspruch nach Obsiegen des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess sind gemäß § 11 KSchG erzielter anderweitiger Verdienst (Nr. 1), böswillig unterlassener anderweitiger Verdienst (Nr. 2) sowie öffentlich-rechtliche Leistungen infolge Arbeitslosigkeit (Nr. 3). Im hiesigen Fall sind zudem die bereits gezahlten Beträge abzuziehen (§ 362 Abs. 1 BGB). Daraus folgt im Streitfall folgende Berechnung: 105.143,04 € [Annahmeverzugsvergütung gemäß § 615 Satz 1 BGB] ‒ 64.427,06 € [anderweitiger Erwerb gemäß § 11 Nr. 1 KSchG] ‒ 4.843,80 € [Arbeitslosengeld als Leistung im Sinne von § 11 Nr. 3 KSchG] ‒ 19.284,29 € [erste Nachzahlung, § 362 Abs. 1 BGB] ‒ 2.552,79 € [zweite Nachzahlung, § 362 Abs. 1 BGB] = 14.035,10 € brutto [Restanspruch gegen die Beklagte unter Ausklammerung der auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangenen Ansprüche].

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    b) Die Kammer schätzt den infolge Annahmeverzugs der Beklagten entgangenen Verdienst, der Berechnung des Klägers in jeder Hinsicht folgend, auf 105.143,04 €.

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    aa) Das im Annahmeverzug fortzuzahlende Entgelt ist nach dem Lohnausfallprinzip zu bemessen (BAG 14.12.2023 ‒ 2 AZR 114/22 Rn. 24). Zu zahlen ist die Vergütung, die der Dienstpflichtige bei Weiterarbeit erzielt hätte (BAG 07.11.2002 ‒ 2 AZR 742/00 zu B. I. 1. e) der Gründe; BAG 18.09.2001 ‒ 9 AZR 307/00 zu II. 1. c) aa) der Gründe; LAG Hessen 25.02.2021 ‒ 17 Sa 1435/19 Rn. 34; Linck in Schaub Arbeitsrechts-Handbuch 20. Aufl. 2023 § 95 Rn. 65). Zur Vergütung gehören alle Leistungen mit Entgeltcharakter, wobei der Anspruch ‒ auch bei steuerbegünstigten Zuschlägen wie Nacht- und Sonntagszuschlägen ‒ auf die Bruttovergütung gerichtet ist (Henssler in MünchKomm-BGB 9. Aufl. 2023 § 615 BGB Rn. 60; Linck in Schaub Arbeitsrechts-Handbuch 20. Aufl. 2023 § 95 Rn. 66). Mangelt es bei schwankender Vergütung an Vereinbarungen oder an anderen festen Anhaltspunkten für die Frage des mutmaßlich erzielten Entgelts, so ist es gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 495, § 287 Abs. 2 ZPO zu schätzen (BAG 14.12.2023 ‒ 2 AZR 114/22 Rn. 24). Dabei kann die vom Arbeitnehmer bis zum Eintritt des Annahmeverzugs erzielte Vergütung einen Anhaltspunkt liefern (BAG 14.12.2023 ‒ 2 AZR 114/22 Rn. 24; BAG 18.09.2001 ‒ 9 AZR 307/00 zu II. 1. c) aa) der Gründe; LAG Hessen 25.02.2021 ‒ 17 Sa 1435/19 Rn. 34). Hätte der Arbeitnehmer bei Weiterarbeit Überstunden geleistet, so zählt auch die Überstundenvergütung zur fortzuzahlenden vertraglichen Vergütung (BAG 18.09.2001 ‒ 9 AZR 307/00 zu II. 1. c) aa) der Gründe m.w.N.; LAG Hessen 25.02.2021 ‒ 17 Sa 1435/19 Rn. 34). Nach Auffassung der Kammer kann für sonstige fortzuzahlende Zuschläge ‒ z. B. Nacht- oder Sonntagszuschläge ‒ nichts Anderes gelten.

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    bb) Das Gericht schätzt den Anspruch gemäß § 287 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Aus dem im Jahr 2021 bis zum Zugang der Kündigung erzielten Entgelt kann mangels jeglicher Anhaltspunkte für eine nach Ausspruch der Kündigung andere Zuschlagpraxis in der Person des Klägers auf die für den Annahmeverzugszeitraum zu zahlenden Zuschläge geschlossen werden. Außerdem sind das Grundgehalt sowie die regelmäßigen Sonderzahlungen in den Monaten Mai und November zuzüglich der unstreitigen zwischenzeitlichen Erhöhungen des Tarifentgelts zu berücksichtigen.

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    Den von dem Kläger gewählten Prognosezeitraum von acht Monaten hält die Kammer für hinreichend lang und somit repräsentativ. Keine der Parteien hat vorgetragen, dass etwa durch jahreszeitliche Schwankungen in der Produktion im Herbst typischerweise deutlich niedrigere Zuschläge anfallen. Außerdem hat keine der Parteien vorgetragen, dass in den ersten acht Monaten des Jahres 2021 aus betrieblichen, produktionstechnischen und auch in der Person des Klägers liegenden Gründen besonders hohe und deshalb nicht repräsentative Zuschläge angefallen wären.

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    Trotz Hinweises des Gerichts hat die Beklagte keine Ausführungen dahingehend gemacht, dass nach August 2021 Änderungen im Betriebsablauf bzw. bei der Schichteinteilung erfolgt wären, die zu niedrigeren Zuschlägen auch für den Kläger geführt hätten. Nicht überzeugend ist deshalb, auf eine mit dem Kläger vergleichbare Gruppe anderer Arbeitnehmer abzustellen. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, in der Vergangenheit in erheblichem Umfang freiwillige Mehrarbeit geleistet zu haben. Es mag Mitarbeiter bei der Beklagten geben, die Zusatzschichten nie bzw. selten ableisten, von der Beklagten jedoch für ihre Durchschnittsberechnung herangezogen worden sind. Bei der Bemessung des entgangenen Entgelts geht es aber nicht (unmittelbar) um den Verdienst einer repräsentativen Gruppe aus dem Betrieb, sondern um die möglichst aussagekräftige Ermittlung des entgangenen individuellen Entgelts. Zuschläge einer größeren Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer können insofern nur dann für die Schätzung herangezogen werden, wenn sie im Einzelfall auch für die Bemessung der fortzuzahlenden Vergütung aussagekräftig sind oder andere Schätzgrundlagen nicht zur Verfügung stehen. Ersteres wird regelmäßig nur dann der Fall sein, wenn auch vor Ausspruch der Kündigung Zuschläge des gekündigten Arbeitnehmers in einem längeren repräsentativen Betrachtungszeitraum nahe bei denjenigen der anderen Gruppenmitglieder lagen. Hatte der gekündigte Arbeitnehmer jedoch höhere Zuschlagsansprüche als die Vergleichsgruppe in einem repräsentativen Zeitraum vor Ausspruch der Kündigung, so muss dieser Mehrverdienst grundsätzlich auch im Annahmeverzugszeitraum Berücksichtigung finden. Eine weitere Ausnahme wäre anzuerkennen, falls aufgrund geänderter Umstände (z. B. grundlegend neues Zuschlags- oder Schichtsystem bzw. Schichtausfälle mit deutlichen Auswirkungen auf die Zuschlagshöhen im Annahmeverzugszeitraum) die Tatsachengrundlage für den Schluss von der Zuschlagpraxis der Vergangenheit auf die Zukunft entfallen wäre.

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    Die Darlegungs- und Beweislast für geänderte Umstände wird regelmäßig bei dem Arbeitgeber liegen, weil die Zerstörung der in der Rechtsprechung anerkannten Schätzungsgrundlage, also der Vergütungspraxis der Vergangenheit, einwendungsähnlichen Charakter hat und dem Arbeitnehmer entsprechende Erkenntnismöglichkeiten oft fehlen werden. Diesbezüglichen Sachvortrag hat die Beklagte nicht geleistet.

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    Hinsichtlich der Sonderzahlung für das Jahr 2021 kommt hinzu, dass diese ohne erkennbaren Grund von der Beklagten in ihrer Vergleichsberechnung im Monat November 2021 nicht berücksichtigt worden ist.

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    c) Der Anspruch auf die Rechtshängigkeitszinsen folgt aus § 291, § 288 Abs. 1 Satz 2, § 247 BGB. Der Anspruch auf Verzugszinsen bis 31.05.2023 folgt aus § 615 Satz 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1, § 247 BGB aufgrund der während des Annahmeverzugs noch abschnittsweisen Fälligkeit der Ansprüche zum Monatsende.

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    2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Beklagte mit Blick auf die Fahrtkosten zur Erzielung anderweitigen Erwerbs. Die Entscheidung BAG 28.11.2019 ‒ 8 AZR 125/18 zum Schadensersatz bei unwirksamer Versetzung hält die Kammer für nicht auf den streitgegenständlichen Sachverhalt übertragbar.

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    a) Unabhängig davon, ob man den Ausspruch einer unwirksamen Kündigung ‒ ggf. unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ‒ als Pflichtverletzung des Arbeitgebers einordnet oder nicht, stellen Aufwendungen zur Erzielung anderweitigen Erwerbs jedenfalls keinen ersatzfähigen Schaden nach Ausspruch einer Kündigung dar. Sie sind vielmehr Aufwendungen im Eigeninteresse, die der gekündigte Arbeitnehmer ‒ im Zweifel unter Anrechnung etwaiger Steuervorteile (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) ‒ unter Umständen als Abzugsposten von dem anderweitig erzielten Erwerb geltend machen kann (Joussen in BeckOK-ArbR Stand 01.03.2024 § 615 BGB Rn. 71 m.w.N.).

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    Ein Schaden ‒ als Anspruchsvoraussetzung im Sinne des von dem Kläger geltend gemachten Anspruchs aus § 611a Abs. 1, § 280 Abs. 1 BGB ‒ ist stets ein unfreiwilliger Nachteil, während eine Aufwendung einen grundsätzlich freiwilligen Aufwand darstellt (zur Abgrenzung etwa F. Schäfer in MünchKomm-BGB 9. Aufl. 2023 § 670 BGB Rn. 18 f.; Spinner in MünchKomm-BGB 9. Aufl. 2023 § 611a BGB Rn. 817). Die Fahrtkosten während des Annahmeverzuges hat der Kläger freiwillig auf sich genommen; es handelte sich also um Aufwendungen. Es gab keine gegenüber der Beklagten bestehende Verpflichtung des Klägers, anderweitigen Erwerb zu erzielen. Er wählte den Arbeitsort zudem eigenverantwortlich. Aus § 11 Nr. 2 KSchG oder sozialrechtlichen Pflichten gegenüber der Bundesagentur für Arbeit (siehe etwa § 2 Abs. 5 SGB III) folgt nichts Anderes. Auf die Erzielung anderweitigen Erwerbs hat der Arbeitgeber nach Ausspruch einer unwirksamen Kündigung keinen Anspruch. § 11 Nr. 2 KSchG sieht als Rechtsfolge einer ausgeschlagenen zumutbaren Arbeitsgelegenheit lediglich eine Anrechnung des böswillig unterlassenen Verdienstes vor.

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    b) Hinzu kommt unter gesetzessystematischen Gesichtspunkten, dass auch im durchgeführten Arbeitsverhältnis Fahrten zur regelmäßigen Arbeitsstätte ohne ausdrückliche abweichende Regelung nicht, etwa analog § 670 BGB, von dem Arbeitgeber zu erstatten sind. Es handelt sich um dem Privatbereich des Arbeitnehmers zuzurechnende Ausgaben in Abgrenzung zu Fahrtkosten infolge einer unwirksamen Versetzung, über die das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 28.11.2019 ‒ 8 AZR 125/18 entschied. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, im Falle einer unwirksamen Kündigung von diesem Grundsatz abzuweichen und den gekündigten Arbeitnehmer im Verhältnis zu anderen Arbeitnehmern zu privilegieren. Insbesondere gilt dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der gekündigte Arbeitnehmer bei Verlängerung seines Arbeitsweges während des Annahmeverzugszeitraums häufig höhere Werbungskosten wird geltend machen können und ihm ‒ möglicherweise ‒ ein (ergänzender) Abzugsposten von dem anderweitig erzielten Erwerb zur Verfügung steht.

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    Ferner sieht § 11 KSchG nach unwirksamer Kündigung ‒ anders als § 615 Satz 2 BGB im Grundfall des Annahmeverzugs im laufenden Arbeitsverhältnis ‒ keine Anrechnung desjenigen vor, was der Arbeitnehmer infolge des Annahmeverzugs erspart. In den Fällen des § 11 KSchG profitiert der Arbeitnehmer also anders als in anderen Konstellationen des Annahmeverzugs davon, dass der Arbeitgeber ihm ersparte Fahrtkosten nicht als Abzugsposten bei der nachzuzahlenden Vergütung nach Ablauf der Kündigungsfrist entgegenhalten kann. Umgekehrt entspricht es im Zweifel der Billigkeit wie auch den hinter der Vorschrift stehenden Vereinfachungs- und Streitvermeidungsgedanken (dazu Schwarz in BeckOGK Stand 01.12.2023 § 11 KSchG Rn. 76; Kiel in Erfurter Kommentar 24. Aufl. 2024 § 11 KSchG Rn. 11), von der Berücksichtigung von Fahrtkosten insgesamt, also auch umgekehrt bei der Entstehung von Mehrkosten, abzusehen und es bei der steuerlichen Regelung bewenden zu lassen.

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    Ob bei offensichtlich rechtswidrigen und / oder schikanösen Kündigungen Abweichendes gelten könnte, lässt die Kammer mangels Entscheidungserheblichkeit dahinstehen. Auch in diesem Fall wäre jedoch nach der Differenzhypothese ein etwaiger Steuervorteil im Zweifel auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen.

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    II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 495, § 269 Abs. 3 Satz 2, § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Soweit der Kläger die Klage ‒ teils durch Neufassung der Zahlungsanträge nach gerichtlichem Hinweis ‒ zurückgenommen hat, waren die Kosten ihm aufzuerlegen, wobei die Geltendmachung der Gehaltsabrechnungen mit 5 % der Vergütung anzusetzen war. Im Übrigen richtet sich die Kostenquote nach den Anteilen des Obsiegens bzw. Unterliegens der Parteien.

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    III. Der Rechtsmittelstreitwert wurde gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG, §§ 3 ff. ZPO im Urteil festgesetzt und beläuft sich auf den Nennbetrag der zuletzt streitigen Zahlungsansprüche.

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    IV. Die Kammer hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG gesondert zugelassen. Es ist in der Rechtsprechung nicht geklärt, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen gegen den Arbeitgeber nach einer unwirksamen Kündigung ein Schadensersatzanspruch mit Blick auf Kosten für die Erzielung anderweitigen Erwerbs während des Annahmeverzugszeitraums in Betracht kommt.

    RechtsgebieteBGB, KSChG, ZPO, EStGVorschriften§ 615 BGB, § 11 KSchG, § 280 Abs. 1 BGB, § 670 BGB, § 287 ZPO, § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG