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  • · Fachbeitrag · Elektronischer Rechtsverkehr

    Gerichte müssen nicht (elektronisch) weiterleiten

    von Christian Noe B. A., Göttingen

    | Schon immer hat sich in der Anwaltschaft der Mythos über die gerichtliche Pflicht gehalten, falsch adressierte Schriftsätze an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Auch im ERV-Zeitalter steht fest: Natürlich gab es Fälle, in denen Gerichte den Anwalt informiert und pragmatisch Schriftsätze zügig postalisch weitergeleitet haben. Eine obligatorische Pflicht hierzu bestand aber nie und das gilt auch für von Anwälten elektronisch eingereichte Dokumente. |

    1. Schon bis zum Stichtag 1.1.22 war es für Anwälte schwierig

    Bereits vor dem Start der aktiven beA-Nutzungspflicht am 1.1.22 bewegten sich Anwälte bei der Frage, ob Gerichte Schriftsätze weiterleiten müssen, auf dünnem Eis. Auf der sicheren Seite waren sie nur unter einschränkenden Voraussetzungen. Nach dem BGH (28.6.07, V ZB 187/06, Abruf-Nr. 072453) durfte ein Anwalt nur dann darauf vertrauen, dass ein unzuständiges Gericht einen fristgebundenen Schriftsatz an das zuständige Gericht weiterleitet (selbst wenn er seinen Fehler noch rechtzeitig vor Ablauf der Frist bemerkt hatte), wenn

    • das unzuständige Gericht mit der Sache schon erstinstanzlich befasst war. Es gilt also ausdrücklich die Ebene des Instanzenzugs und nicht grundsätzlich bezogen auf alle Gerichte.
    • der Schriftsatz beim unzuständigen Gericht so zeitig eingeht, dass man ihn dort noch im „ordentlichen Geschäftsgang“ weitergeben kann. Damit ist der erwartbare Zeitraum gemeint, den ein Gericht benötigt, um den Fehler zu entdecken und den Schriftsatz intern zur Weiterleitung zu geben.

    2. Es gibt auch keine elektronische Weiterleitungspflicht

    Zwar haben jüngst einige Gerichte die Fürsorgepflicht betont, dass Anwälte bei fehlerhaften elektronischen Dokumenten von dem Empfänger-Gericht informiert werden müssen (z. B. bei fehlenden Signaturen oder unzulässigen Dateiformaten: BAG 5.6.20, 10 AZN 532/20, AK 20, 129). Bezüglich einer Weiterleitungspflicht elektronisch bei dem unzuständigen Gericht eingereichter Schriftsätze gibt es aber bislang keine einschlägigen Entscheidungen. In Einzelfällen handelte es sich dabei um Eingänge am letzten Fristtag (beim falschen Gericht). Hier erklärten die Gerichte, dass im ordentlichen Geschäftsgang ohnehin nicht mehr rechtzeitig hätte weitergeleitet werden können. Ob das Gericht dies grundsätzlich hätte tun oder versuchen müssen, wurde offengelassen (z. B. OVG NRW 21.12.22, 31 A 3242/21.O, Abruf-Nr. 235702).

     

    In der viel beachteten Entscheidung des OLG Bamberg hatten die Richter nur bejaht, dass ein elektronisch an das zuständige Gericht weitergeleiteter Schriftsatz als formgerecht eingegangen gilt (2.5.22, 2 UF 16/22, Abruf-Nr. 235703). Sie haben damit die elektronische Weiterleitung zwischen Gerichten als zulässig angesehen, über eine mögliche Pflicht des Gerichts aber kein Wort verloren.

     

    Wie verhalten sich Anwälte nun am besten? RA Volker Himmen von der AG Kanzleimanagement im DAV meint, dass sich die bisherige Situation auch im beA-Zeitalter nicht grundlegend ändert: „Ich denke, es wird zukünftig nur zu einer Manifestierung der gerichtlichen Hinweispflicht nach § 139 ZPO kommen. Das unzuständige Gericht muss den Einreicher auf seine Unzuständigkeit lediglich hinweisen.“

     

    Zwar kann ein Anwalt argumentieren, dass der „ordentliche Geschäftsgang“ elektronisch schneller abläuft. Denn ein über das Datennetz verschickter Schriftsatz erreicht binnen Sekunden das Empfängergericht. Allerdings weiß kaum ein Anwalt, ob und welche Gerichte im Einzelfall derzeit technisch für eine Weiterleitung gerüstet sind. Und selbst wenn ein Gericht weiterleitet, tut es dies im Einzelfall ohne Pflicht. Dazu meint Ulrich Hensinger, VorsRi und Pressesprecher am LAG Baden-Württemberg: „Die Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg arbeitet seit vielen Jahren mit der eAkte und wäre technisch in der Lage, elektronische Irrläufer im Rechtsverkehr weiterzuleiten. Die eAkten-AG unserer Arbeitsgerichtsbarkeit hat im August 2022 den Dienstvorständen der Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg allerdings empfohlen, (lediglich) einen Hinweis im ordnungsgemäßen Geschäftsgang an den Einreicher zu erteilen, dass er versehentlich z. B. das ‚ArbG Stuttgart‘ statt des ‚AG Stuttgart‘ im beA-Adressbuch ausgewählt hat. Eine über diesen Hinweis hinausgehende Pflicht zur Weiterleitung gibt es nach Ansicht dieser AG, die auch von den Dienstvorständen geteilt wird, weder in der Papier- noch in der elektronischen Welt. Von einigen Gerichten wird sogar angezweifelt, ob im Fall der Weiterleitung (bei fehlender qeS) überhaupt ein wirksamer elektronischer Eingang beim Empfängergericht vorliegt, was ich allerdings bejahen würde.“

     

    Genau besehen, stehen Anwälte derzeit sogar etwas schlechter dar, als noch vor der aktiven Nutzungspflicht des beA. Denn selbst eine Weiterleitung, die der Anwalt unter den o. g. Voraussetzungen noch erwarten durfte, fällt jetzt weg, wenn ein Gericht dies elektronisch nicht kann. Ob der Startschuss für die digitalisierte Justiz am 1.1.26 tatsächlich fällt und damit auch die Kommunikation in den Justizbehörden mit eAkten umgesetzt ist, ist fraglich. Die flächendeckenden IT-Maßnahmen sind aufwendig. Der Deutsche Richterbund hat den planmäßigen Start bereits angezweifelt (iww.de/s8079).

     

    PRAXISTIPP | Vorläufig sichern Sie sich am besten dergestalt ab, dass Sie Ihre Dokumente stets qualifiziert signieren (und sie so „weiterleitungsfähig“ machen) und Fristen möglichst nicht bis zum letzten Tag ausschöpfen. So können Sie zumindest in entsprechenden Fällen mit rechtzeitigen Hinweisen des Gerichts rechnen und Versandfehler korrigieren (vgl. AK 20, 129). Schöpfen Sie Fristen maximal aus, kommt auch ein zügiger gerichtlicher Hinweis in der Regel zu spät ‒ denn die Gerichte brauchen im Minimum einen Tag Reaktionszeit.

     

    Argumentieren Sie im Rahmen einer Wiedereinsetzung, dass das Gericht elektronisch hätte weiterleiten können, könnten Sie strategisch das Gericht fragen, ob dieses in der Vergangenheit ‒ egal ob im Einzelfall oder häufiger ‒ schon einmal Anwaltsdokumente elektronisch weitergeleitet hat. Wenn ja, ergibt sich die Frage, warum dies konkret in Ihrem Fall nicht geschehen ist oder versucht wurde.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Anwälte sollten auf eine mögliche Prozessfinanzierung hinweisen, AK 21, 149
    • beA-Versand: Gericht hat bei Formfehlern Hinweispflichten, AK 20, 166
    Quelle: Ausgabe 07 / 2023 | Seite 118 | ID 49483376