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  • · Fachbeitrag · § 62 EStG

    Kindergeld wegen seelischer Behinderung und Auswahl eines geeigneten Sachverständigen

    Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das FG die Überzeugung vom Vorliegen einer seelischen Behinderung aufgrund eines retrospektiven Gutachtens eines psychologischen Psychotherapeuten bildet. Maßgebliches Kriterium für die Auswahl eines geeigneten Sachverständigen ist dessen Sachkunde in Bezug auf die Beweisfrage.

     

    Sachverhalt

    Streitig war, ob sich das FG auf der Grundlage des Gutachtens eines psychologischen Psychotherapeuten die Überzeugung bilden durfte, dass in den Monaten Oktober 2016 bis Oktober 2017 (Streitzeitraum) eine zu einem Kindergeldanspruch führende seelische Behinderung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vorlag.

     

    Entscheidung

    Im Revisionsverfahren bestätigte der BFH die Entscheidung der Vorinstanz und entschied, dass das FG auf der Grundlage des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens davon ausgehen durfte, dass bei der Tochter im Streitzeitraum eine seelische Behinderung vorlag, wegen der sie zum Selbstunterhalt außerstande war.

     

    Für die Frage, welche Anforderungen an das Vorliegen einer Behinderung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu stellen sind, ist die Legaldefinition in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) in ihrer im jeweiligen Streitzeitraum geltenden Fassung maßgeblich. Danach ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dabei lässt sich der Behinderungsbegriff nicht auf eine rein medizinische Frage reduzieren.

     

    Seelisch behindert ist, wer infolge einer seelischen Störung eine in diesem Sinne länger andauernde Funktions- und Teilhabebeeinträchtigung aufweist. In Betracht kommen körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge einer Krankheit oder Verletzung des Gehirns, Anfallsleiden oder körperliche Beeinträchtigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.

     

    Für die Frage, ob die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft infolge einer seelischen Störung beeinträchtigt ist, kommt es auf deren Ausmaß und Grad an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt. Die Prüfung einer Teilhabebeeinträchtigung hat aufgrund einer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds zu erfolgen, ihre Feststellung bedarf einer auf entsprechende tatsächliche Feststellungen gestützten Begründung.

     

    Neben medizinischem ist gegebenenfalls auch der Sachverstand anderer Wissensgebiete heranzuziehen, insbesondere sozialpädagogischer und psychologischer Art. Sofern eine fachärztliche beziehungsweise therapeutische Stellungnahme zum Vorliegen einer seelischen Gesundheitsstörung Aussagen zur Frage der Teilhabebeeinträchtigung enthält, sind diese bei der Beurteilung angemessen zu berücksichtigen.

     

    § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG setzt voraus, dass das Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die Behinderung muss nach den Gesamtumständen des Einzelfalls für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein. Die Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten, ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits. Diese Prüfung hat für jeden Monat gesondert zu erfolgen.

     

    Der BFH entschied, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass sich das FG als das für die tatrichterliche Würdigung zuständige Gericht die Überzeugung vom Vorliegen einer seelischen Behinderung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG auf der Grundlage eines retrospektiven Sachverständigengutachtens eines psychologischen Psychotherapeuten bildet, ohne hierzu eine ergänzende ärztliche Stellungnahme einzuholen. Denn aus der gesetzlichen Gleichstellung in § 35a SGB VIII ist im Hinblick auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i. V. m § 2 Abs. 1 SGB IX abzuleiten, dass mit Blick auf die maßgebliche Fachkompetenz keine Veranlassung besteht, den Kreis der für die Begutachtung von seelischen Störungen und Behinderungen geeigneten Sachverständigen auf Ärzte zu beschränken.

     

    Das FG durfte daher auf der Grundlage des nicht von einem Arzt erstellten Sachverständigengutachtens eine bei dem Kind vorliegende seelische Behinderung bejahen, die im Streitzeitraum dazu führte, dass es außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Die tatrichterliche Würdigung des Gutachtens und der Aussage des als Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut in hinreichender Weise qualifizierten Sachverständigen hielt der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

     

    Fundstelle

    Quelle: ID 50382346