· Fachbeitrag · §§ 62 ff EStG
Kindergeld für Kinder eines nach Deutschland entsandten Arbeitnehmers
| Die Wohnsitzfiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann bei Personen, die nach Deutschland entsandt wurden und deshalb nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes unterliegen, dazu führen, dass der Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld nicht dem nach Deutschland entsandten Elternteil zusteht, sondern dem im anderen Mitgliedstaat zusammen mit den Kindern in einem Haushalt lebenden anderen Elternteil. |
Sachverhalt
Die Anspruchsberechtigte, eine polnische Staatsangehörige, ist die Mutter von drei in den Jahren 2009, 2011 und 2012 geborenen Kindern. Sie lebte im Streitzeitraum mit den Kindern in Polen und war dort nicht erwerbstätig. Der Vater der Kinder ist ebenfalls polnischer Staatsbürger. Er war vom 16.2.2015 bis zum 31.10.2015 bei einer polnischen Firma beschäftigt, wurde von dieser in die Bundesrepublik Deutschland entsandt, blieb jedoch in Polen sozialversichert.
Die Anspruchsberechtigte beantragte am 17.3.2016 die Gewährung von Kindergeld für ihre drei Kinder ab August 2014, da der Vater der Kinder ab diesem Zeitpunkt in Deutschland lebe. Die Familienkasse lehnte die Gewährung von Kindergeld für den Zeitraum Januar bis August 2015 ab mit der Begründung, dass die Anspruchsberechtigte im Streitzeitraum weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt und dort auch keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe.
Im Einspruchsverfahren wies die Familienkasse darauf hin, dass der Vater der Kinder im Zeitraum Februar bis Oktober 2015 nach Deutschland entsandt worden sei. Für entsandte Arbeitnehmer werde ein inländischer Wohnsitz nicht fingiert. Sie wies den Einspruch als unbegründet zurück.
Auch die Klage vor dem Sächsischen FG hatte insofern keinen Erfolg.
Entscheidung
Dies sieht der BFH jedoch anders. Erfüllt ein nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer die in §§ 62 ff. EStG geforderten Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs, so wird sein Anspruch i. S. d. Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 durch den Wohnort ausgelöst, wenn er die Beschäftigung nur im Rahmen der Entsendung ausübt und auch sonst im Inland weder eine den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Erwerbstätigkeit ausübt noch eine Rente bezieht.
Begründung
Besteht neben dem durch den Wohnort ausgelösten Anspruch eines Entsandten auf deutsches Kindergeld für dasselbe Kind und denselben Zeitraum Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, der zugleich der Wohnsitzstaat der Kinder ist, so wird gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 der Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld ausgeschlossen.
Im Streitfall konnte der BFH auf der Grundlage der Feststellungen des FG nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass Deutschland in Bezug auf den Kindsvater als vorrangig zuständiger Mitgliedstaat zur Gewährung des vollen Kindergelds oder als nachrangig zuständiger Mitgliedstaat zur Gewährung eines Differenzbetrags verpflichtet ist. Entsprechend konnte er auch nicht darüber befinden, ob der Kindsvater eine entsprechende Anspruchsberechtigung vermitteln konnte.
- Dazu wäre zunächst festzustellen, ob der Kindsvater die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfüllte. Insbesondere wäre aufzuklären, ob der Kindsvater im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte oder vom zuständigen Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wurde (§ 62 Abs. 1 Satz 1 EStG) und ob er die Identifikationsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG erfüllte, soweit der zeitliche Anwendungsbereich der letztgenannten Vorschrift im Streitfall bereits eröffnet ist.
- Erfüllt der Kindsvater die nationalen Anspruchsvoraussetzungen, ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit sein Anspruch durch vorrangige Ansprüche für dieselben Familienangehörigen in anderen Mitgliedstaaten ausgeschlossen wird. Würde der Kindsvater der Anspruchsberechtigten danach eine Berechtigung auf einen (Differenz-)Kindergeldanspruch vermitteln, müsste die Anspruchsberechtigte im zeitlichen Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG zudem in eigener Person die nationalen Identitätsnachweisanforderungen erfüllen. Da aber davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber übersehen hat, dass für Anspruchsberechtigte mit europarechtlich fingiertem Wohnsitz/gewöhnlichem Aufenthalt oder mit europarechtlich fingierter fiktiv unbeschränkter Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG keine Identifikationsnummer vergeben wird, bestünden keine Bedenken, für diesen Fall die Regelung des § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG analog anzuwenden. Eine Identifizierung könnte daher auch „in anderer geeigneter Weise“ durchgeführt werden.
- Zudem müsste die Anspruchsberechtigte die nach § 64 Abs. 2, Abs. 3 EStG erforderlichen Voraussetzungen dafür erfüllen, dass ihr Kindergeldanspruch dem Kindergeldanspruch des Kindsvaters vorgeht.
Da das FG bislang keine ausreichenden Feststellungen zur Anspruchsberechtigung des Kindsvaters, zu konkurrierenden Ansprüchen in anderen Mitgliedstaaten und zu den von der Anspruchsberechtigten zu erfüllenden nationalen Anspruchsvoraussetzungen getroffen hatte, verwies der BFH den Streitfall zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das Sächsische FG zurück.
Fundstelle
- BFH 1.7.20, III R 22/19, iww.de/astw, Abruf-Nr. 218662