10.08.2022 · IWW-Abrufnummer 230678
Finanzgericht Münster: Urteil vom 24.06.2022 – 4 K 135/19 E
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster
Tenor:
Die Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010 vom 08.06.2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 13.12.2018 werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leisten.
Die Revision wird zugelassen.
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Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Frage, ob hinsichtlich der Einkommensteuer für 2009 und 2010 eine vollendete Steuerhinterziehung durch die Kläger vorliegt und demzufolge nicht die regelmäßige, sondern eine verlängerte Festsetzungsfrist gilt.
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Die Kläger sind verheiratet. Bis einschließlich 2008 erzielte lediglich der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Lohnsteuerabzug erfolgte über die Steuerklasse III. Die Kläger reichten regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein. Sie wurden zusammen veranlagt. Der Beklagte speicherte den Steuerfall der Kläger in seinem Datenverarbeitungsprogramm als Antragsveranlagung ab.
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Ab 2009 erzielte nicht nur der Kläger, sondern auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Kläger nicht. Der Lohnsteuerabzug des Klägers erfolgte weiterhin über die Steuerklasse III, derjenige der Klägerin über die Steuerklasse V. Die Arbeitgeber der Kläger übermittelten dem Beklagten die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen für die Kläger und die Jahre 2009 und 2010. In dem Datenverarbeitungsprogramm des Beklagten wurden diese elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen erfasst und waren dort abrufbar. Außerdem händigten die Arbeitgeber der Kläger den Klägern einen Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus. Auf diesen war schriftlich vermerkt, dass die Daten der elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.
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Die Kläger reichten ab 2009 keine Steuererklärungen mehr ein. Der Steuerfall der Kläger blieb in dem Datenverarbeitungsprogramm des Beklagten weiterhin als Antragsveranlagung gespeichert. Der Beklagte versandte an die Kläger keine Aufforderungen zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen. Er schloss die wesentlichen Veranlagungsarbeiten (zu 95 %) für 2009 am 31.03.2011 und für 2010 am 31.03.2012 ab.
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Anfang 2018 bearbeitete der Beklagte eine durch die Oberfinanzdirektion übersandte eDaten-Prüfliste. Hierbei fiel auf, dass mit der Aufnahme der nichtselbständigen Tätigkeit durch die Klägerin in 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher ab 2009 verpflichtet waren, Einkommensteuererklärungen einzureichen.
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Hierauf leitete das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung J-Stadt ein Strafverfahren hinsichtlich der Jahre 2011 bis 2016 ein. Für die Streitjahre 2009 und 2010 wurde kein Strafverfahren eingeleitet, da insoweit von einer strafrechtlichen Verjährung ausgegangen wurde. Das Strafverfahren für die Jahre 2011 bis 2016 wurde gegen Zahlung einer Geldauflage i. H. v. xxx € (je Kläger xxx €) eingestellt.
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Am 08.06.2018 erließ der Beklagte Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010. Die Einkommensteuerfestsetzungen betrugen für 2009 xxxx € und für 2010 xxxx €. Die Verspätungszuschläge setzte der Beklagte mit xxx € für 2009 und xxx € für 2010 fest. In den Erläuterungen führte er aus, dass die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden seien. Die Kläger hätten trotz Aufforderung keine Steuererklärungen abgegeben. Die Verspätungszuschläge seien wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen festgesetzt worden.
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Hiergegen legten die Kläger Einsprüche ein. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen aus, dass für 2009 und 2010 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Sie, die Kläger, hätten sich nicht wegen vollendeter Steuerhinterziehung strafbar gemacht. Sie hätten nicht vorsätzlich gehandelt. Hinweise auf eine Steuererklärungspflicht hätten sie nicht zur Kenntnis genommen. Im Übrigen hätte der Beklagte keine jährlichen Aufforderungsschreiben an die Kläger versandt. Vor diesem Hintergrund baten sie auch um eine Überdenkung des Ermessens zur Festsetzung der Verspätungszuschläge.
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Mit Einspruchsentscheidungen vom 13.12.2018 wies der Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück.
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Zur Begründung der vollendeten Steuerhinterziehung und damit einhergehender verlängerter Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer führte der Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Kläger Kenntnis von der Pflicht zur Abgabe der Steuererklärungen gehabt hätten. Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 seien regelmäßig Einkommensteuererklärungen abgegeben worden. Erst ab dem Veranlagungszeitraum, in dem eine Nachzahlung entstanden wäre, seien keine Erklärungen mehr abgegeben worden. Für einen zumindest bedingten Vorsatz spreche, dass bei der Vergabe der Steuerklassen auf die Abgabepflicht hingewiesen worden sei. Außerdem könne man aus dem bisherigen Abgabeverhalten der Kläger darauf schließen, dass bewusst ab dem Jahr, in dem eine Steuernachzahlung zustande gekommen wäre, keine Erklärungen mehr eingereicht worden seien. Des Weiteren könnten die Kläger nicht darauf abstellen, dass die Finanzbehörden sie auf die Abgabe der Steuererklärungen hätten hinweisen müssen. Der Beklagte habe nicht wissen können, dass die Klägerin ab dem Veranlagungszeitraum 2009 Arbeitslohn bezogen hätte, da keine Steuererklärungen mehr abgegeben worden seien. Es sei die Pflicht der Kläger gewesen, den Beklagten durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung auf den neuen steuerlich relevanten Sachverhalt hinzuweisen.
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Zur Begründung der Verspätungszuschläge führte der Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Kläger ihrer Verpflichtung zur Einreichung von Einkommensteuererklärungen nicht nachgekommen seien. Zur Höhe der Verspätungszuschläge verweist der Beklagte auf die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, nach denen sich der festzusetzende Verspätungszuschlag an der festzusetzenden Einkommensteuer orientiere. Da die festgesetzte Einkommensteuer für 2009 xxxx € und für 2010 xxxx € betrage, seien die festgesetzten Verspätungszuschläge (2009: xxx; 2010: xxx €) ermessensgerecht. Bezüglich der Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerfestsetzungen verwies der Beklagte auf die diesbezügliche Einspruchsentscheidung.
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Hiergegen haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung wiederholen sie ihren bisherigen Vortrag. Sie sind der Auffassung, dass sie nicht vorsätzlich gehandelt hätten.
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Die Kläger beantragen sinngemäß,
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die Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010 vom 08.06.2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 13.12.2018 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Klageerwiderung wiederholt der Beklagte seinen bisherigen Vortrag aus der Einspruchsentscheidung. Er ist der Auffassung, dass die Kläger zumindest mit Eventualvorsatz gehandelt hätten.
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Nachdem der Berichterstatter den Beklagten u. a. darauf hingewiesen hat, dass gute Gründe dafür sprechen, dass der objektive Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) nicht erfüllt sei, trägt der Beklagte ergänzend vor, dass in gewöhnlichen Arbeitnehmerfällen keine Akte angelegt und der Fall nur dann zur Bearbeitung und Überprüfung vorgelegt werde, wenn entweder eine Steuererklärung eingereicht worden sei oder ein Fall der Pflichtveranlagung vorliege. Ob eine Pflichtveranlagung vorliege, könne das Datenverarbeitungsprogramm der Finanzverwaltung nicht selbständig feststellen. Deshalb könne der Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung grundsätzlich nur durch Mitwirkung der Steuerpflichtigen oder eine Kontrollmitteilung auffallen. Die einzige weitere Möglichkeit, solche Fälle zu identifizieren, sei die vom Rechenzentrum ausgegebene eDaten-Prüfliste. Die eDaten-Prüfliste habe als Programmleistung erst für die Jahre ab 2015 zur Verfügung gestanden. Den Finanzämtern habe sie erst ab 2018 vorgelegen. Vorher habe es keine realistische Möglichkeit gegeben, von der Pflichtveranlagung der Kläger zu erfahren. Der Fall sei insofern vergleichbar mit einem bislang nichtveranlagten Steuerpflichtigen, der trotz Pflichtveranlagung keine Steuererklärung abgebe, aber dessen Lohndaten „in den Weiten“ der eDaten ruhen. Außerdem sei es bei ca. 31.500 2000er-Antragsveranlagungen im Amt des Beklagten tatsächlich unmöglich, jeden einzelnen Fall, der keine Steuererklärung abgebe, daraufhin zu überprüfen, ob dieser nicht doch eine Pflichtveranlagung sei. Erst die ab 2018 zur Verfügung stehenden Programmleistungen hätten hier Abhilfe geschafft.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis zu einer gerichtlichen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.
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Entscheidungsgründe
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Der Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung [FGO]). Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer gerichtlichen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt. Der Senat hält eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich. Es sind allein Rechtsfragen strittig. Diese sind im schriftlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ausführlich erörtert worden und waren auch Bestandteil eines gerichtlichen Hinweises durch den Berichterstatter.
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I. Die Klage hat Erfolg.
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Die Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010 vom 08.06.2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 13.12.2018 sind aufzuheben. Diese Verwaltungsakte sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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1. Hinsichtlich der Einkommensteuer für 2009 und 2010 liegt keine vollendete Steuerhinterziehung durch die Kläger vor. Demzufolge gilt die regelmäßige Festsetzungsfrist von vier Jahren und keine verlängerte Festsetzungsfrist. Bei Erlass der streitgegenständlichen Bescheide in 2018 war die jeweils geltende Festsetzungsfrist bereits abgelaufen.
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a) Eine Steuerfestsetzung ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO). Für die Einkommensteuer beträgt die Festsetzungsfrist regelmäßig vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Sie beträgt zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Festsetzungsfrist beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Hiervon abweichend beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
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b) Im Streitfall begann die Festsetzungsfrist für 2009 am 31.12.2012 und für 2010 am 31.12.2013. Die Kläger hatten (pflichtwidrig) keine Einkommensteuererklärungen für diese Jahre eingereicht. Die Festsetzungsfrist beträgt für beide Streitjahre vier Jahre. Demzufolge lief die Festsetzungsfrist für 2009 am 31.12.2016 und für 2010 am 31.12.2017 ab.
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c) Vorliegend gilt weder für 2009 noch für 2010 eine auf zehn oder fünf Jahre verlängerte Festsetzungsfrist. Es liegt weder eine Steuerhinterziehung noch eine leichtfertige Steuerverkürzung vor.
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Ob eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt, bestimmt sich auch bei Prüfung der Festsetzungsverjährung nach §§ 370, 378 AO. Hinterzogen sind die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 370 AO, leichtfertig verkürzt die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 378 AO erfüllt ist (vgl. Bundesfinanzhof [BFH] ‒ Urteil vom 02.04.2014 VIII R 38/13, BFHE 245, 295). § 378 AO setzt hinsichtlich der Tathandlung die Verwirklichung einer Tatbestandsvariante des § 370 AO voraus.
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Vorliegend ist der hier allein in Betracht kommende objektive Tatbestand der Unterlassungsvariante (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt.
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Der objektive Tatbestand der hier allein in Betracht kommenden Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.
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Im Streitfall haben die Kläger die für ihre Einkommensteuerveranlagung zuständige Finanzbehörde, den Beklagten, nicht über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen. Dem Beklagten waren die für die Einkommensteuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umstände bekannt. Insbesondere war dem Beklagten aufgrund der für die Kläger zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %], hier: 31.03.2011 und 31.03.2012) vorliegenden elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen bekannt, dass die Kläger in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezogen und beim Lohnsteuerabzug die Lohnsteuerklassen III (Kläger) und V (Klägerin) berücksichtigt wurden. Diese elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen waren mit der gemeinsamen Steuernummer der verheirateten Kläger konkret verknüpft und ihr tatsächlich zugeordnet. Sie waren in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten liegt nicht bereits deshalb eine vollendete Steuerhinterziehung durch die Kläger vor, weil sie es nach dem Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung unterlassen haben, Einkommensteuererklärungen für 2009 und 2010 einzureichen. Zwar waren sie hierzu verpflichtet (§ 149 Abs. 1 Satz 1 AO i. V. m. § 25 des Einkommensteuergesetzes [EStG], § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG und § 56 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung). Allerdings reicht allein eine Verletzung von Erklärungspflichten nicht aus, um den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO zu verwirklichen.
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d) Nach der Überzeugung des Senats scheidet eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %]) von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis haben.
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Der Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO setzt ein In-Unkenntnis-lassen der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen voraus. Nach dem Verständnis des Senats kann ein Steuerpflichtiger eine Finanzbehörde nicht „in Unkenntnis lassen“, wenn sie tatsächlich über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist (so bereits Oberlandesgericht [OLG] Oldenburg, Beschluss vom 10.07.2018 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79, rechtskräftig [rkr.]; siehe auch FG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2021 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331, rkr. und OLG Köln, Urteil vom 31.01.2017 III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363, rkr.; in diese Richtung auch BFH-Urteil vom 04.12.2012 VIII R 50/10, BFHE 239, 495 Rz. 31: „Hat nämlich die Finanzverwaltung ‒ auf welchem Weg auch immer ‒ die erforderlichen Informationen erhalten […], so scheidet eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen aus […]“).
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Der Sinn und Zweck des § 370 AO steht dieser Wortlautauslegung nicht entgegen, sondern stützt die Auffassung des Senats. Das von § 370 Abs. 1 AO geschützte Rechtsgut ist das öffentliche Interesse am rechtzeitigen und vollständigen Aufkommen der von dieser Norm erfassten Steuern (Bundesverfassungsgericht ‒ Beschluss vom 29.04.2010 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, BFH/NV 2010, 1595; Bundesgerichtshof [BGH] ‒ Urteil vom 02.12.2008 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71). Eine Gefährdung für dieses Rechtsgut durch die Steuerpflichtigen besteht nicht, wenn die Finanzbehörden tatsächlich über die für die Besteuerung wesentlichen Umstände informiert sind (so bereits OLG Oldenburg, Beschluss vom 10.07.2018 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79, rkr.; siehe auch FG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2021 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331, rkr. und OLG Köln, Urteil vom 31.01.2017 III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363, rkr.).
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aa) Höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Fällen ausscheidet, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Besteuerung wesentlichen tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis haben oder die Finanzbehörden bereits dann in Unkenntnis gelassen werden, wenn Steuererklärungen pflichtwidrig nicht abgegeben werden, liegt nicht vor.
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Der BGH hat lediglich in zwei Entscheidungen bei Gelegenheit (obiter dicta) ausgeführt, dass bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ‒ im Gegensatz zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ‒ nicht auf eine Kenntnis oder Unkenntnis der Finanzbehörden abzustellen oder das ungeschriebene Merkmal der „Unkenntnis“ der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt in den Tatbestand hineinzulesen ist (BGH-Beschlüsse vom 21.11.2012 1 StR 391/12, BFH/NV 2013, 493 und 14.12.2010 1 StR 275/10, BFH/NV 2011, 956).
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bb) Der Senat schließt sich mit seinem Verständnis zum In-Unkenntnis-lassen den bislang veröffentlichten obergerichtlichen Entscheidungen an.
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Nach der insoweit grundlegenden Entscheidung des OLG Köln, Urteil vom 31.01.2017 III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363, rkr., ist das Merkmal der „Unkenntnis“ in den objektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO hineinzulesen. Demzufolge scheidet eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %]) von den wesentlichen steuerlich relevanten Umständen bereits Kenntnis haben. Hiernach fehlt es in den Fällen der Pflichtveranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG), bei denen beide Ehegatten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beziehen und einer von ihnen nach der Steuerklasse V besteuert wird, regelmäßig an einer Unkenntnis der Finanzbehörde. Diese erhält durch die dem Arbeitgeber obliegende Verpflichtung zur Übermittlung der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung Kenntnis von den steuererheblichen Tatsachen und die Ehegatten werden und dürfen regelmäßig davon ausgehen, dass dies auch tatsächlich geschieht.
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Das OLG Oldenburg hat sich dieser Entscheidung angeschlossen. Nach OLG Oldenburg, Beschluss vom 10.07.2018 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79, rkr., können die Finanzbehörden nicht mehr gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen werden, wenn sie ihnen bereits bekannt sind.
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Auch das Finanzgericht (FG) Düsseldorf folgt der von den OLG Köln und Oldenburg vertretenen Auffassung (FG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2021 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331, rkr.).
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cc) Der in der Literatur vertretenen Auffassung, nach der ein In-Unkenntnis-lassen bereits dann vorliegt, wenn ein Erklärungspflichtiger pflichtwidrig die steuerlich erheblichen Tatsachen nicht mitteilt, folgt der Senat nicht (so aber Jäger, in Klein, AO, 15. Auflage 2020, § 370 Rn. 60b unter Verweis auf Roth, NZWiSt 2017, 308; Peters, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 Rz. 148 ff.).
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Eine solche Auslegung lässt sich nicht ohne weiteres mit dem Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO vereinbaren. Dieser knüpft ausdrücklich an ein In-Unkenntnis-lassen und nicht an ein pflichtwidriges Unterlassen von Erklärungspflichten an. Außerdem ist die Erfüllung von steuerlichen Mitwirkungs- und Erklärungspflichten nicht das geschützte Rechtsgut von § 370 AO. Schließlich kommt es auch nicht zu Strafbarkeitslücken. Auch nach der hier vertretenen Auffassung bleibt eine Versuchsstrafbarkeit möglich (so OLG Köln, Urteil vom 31.1.2017 III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363, rkr. und OLG Oldenburg, Beschluss vom 10.07.2018 1 Ss 51/18, wistra 2019, rkr.).
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dd) Ob mit einer in der Literatur vertretenen Meinung eine Grenze für die hier zu vertretene Sichtweise zu ziehen ist, wenn neben den elektronisch übermittelten Einnahmen noch weitere Einnahmen zu erklären gewesen wären oder die elektronisch übermittelten Einnahmen nur verfügbar und nicht konkret verknüpft oder tatsächlich zugeordnet sind (Krumm, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 370 AO Rz. 73), kann dahinstehen.
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Vorliegend erzielten die Kläger keine weiteren Einkünfte neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Außerdem waren die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an den Beklagten übermittelten Daten konkret mit der gemeinsamen Steuernummer der Kläger verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet. Die an den Beklagten übermittelten Daten waren in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar und standen zur Bearbeitung und Überprüfung bereit. Es handelte sich insoweit nicht um Daten, die nur verfügbar und noch nicht konkret verknüpft oder tatsächlich zugeordnet waren.
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e) Der Senat folgt nicht der vom Beklagten vertretenen Auffassung, dass eine vollendete Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO bereits deshalb anzunehmen ist, weil die Kläger es durch die Nichtabgabe von Steuererklärungen unterlassen haben, einen mit einer Veranlagung einhergehenden Bearbeitungs- und Überprüfungsvorgang anzustoßen.
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§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO knüpft an die Unkenntnis von steuerlich relevanten Tatsachen an. Dem Beklagten lagen die für die Besteuerung wesentlichen tatsächlichen Umstände vor. Dass die Finanzverwaltung und somit auch der Beklagte es in gewöhnlichen Arbeitnehmerfällen grundsätzlich unterlässt, eine Akte anzulegen und die Fälle zur Bearbeitung oder Überprüfung heranzuziehen, mag aus verwaltungsökonomischen Gründen nachvollziehbar sein. Jedoch geht hiermit einher, dass der Beklagte ‒ trotz Kenntnis der für die Besteuerung wesentlichen tatsächlichen Umstände ‒ eben nicht in jedem Fall beurteilen kann, ob es sich nicht doch um eine Pflichtveranlagung handelt und demzufolge eine Einkommensteuererklärung einzureichen ist. Dies ist allerdings Konsequenz der zuvor getroffenen verwaltungsökonomischen Entscheidung über Art und Umfang der Ermittlungen und der Verarbeitung von erhobenen oder erfassten Daten.
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Außerdem ist der hier zu entscheidende Sachverhalt auch nicht dem Fall eines bislang nichtveranlagten Steuerpflichtigen vergleichbar, der trotz Pflichtveranlagung keine Steuererklärung abgibt, aber dessen Lohndaten „in den Weiten“ der eDaten ruhen. Die Kläger wurden vor den Streitjahren bereits veranlagt. Mithin sind sie keine bislang nichtveranlagten Steuerpflichtigen. Außerdem ruhten die Lohndaten der Kläger nicht „in den Weiten“ der eDaten. Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen erfasst und waren dort abrufbar.
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Schließlich kann dahinstehen, wie die von den Arbeitgebern der Kläger an den Beklagten übermittelten Daten aus den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen im Einzelnen verarbeitet worden sind und dies unter Umständen eine Kenntniszurechnung, so sie denn entscheidungserheblich wäre, ausschließen könnte. Letztlich erhielt der Beklagte die für eine Veranlagung erforderlichen Informationen durch die Arbeitgeber der Kläger. Diese Informationen waren durch den für die Veranlagung der Kläger zuständigen Bearbeiter abrufbar, sind aber tatsächlich nicht im Rahmen einer Veranlagung verarbeitet worden.
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2. Hinsichtlich der Verspätungszuschläge für 2009 und 2010 geht der Beklagte für seine Ermessenserwägungen von einer Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 und 2010 aus. Dies ist nicht ermessensgerecht. Die Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 und 2010 sind rechtswidrig.
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Auf Steuererklärungen, die vor dem 01.01.2019 einzureichen sind, ist § 152 AO in der am 31.12.2016 geltenden Fassung anzuwenden (§ 8 Abs. 4 Satz 3 des Einführungsgesetzes zur AO).
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Gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgemäß nachkommt, kann ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden. Von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags ist abzusehen, wenn die Versäumnis entschuldbar erscheint (§ 152 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO in der am 31.12.2016 geltenden Fassung). Der Verspätungszuschlag darf 10 % der festgesetzten Steuer nicht übersteigen und höchstens 25.000 € betragen. Bei der Bemessung des Verspätungszuschlags sind neben seinem Zweck, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung anzuhalten, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen (§ 152 Abs. 2 AO in der am 31.12.2016 geltenden Fassung).
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Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Finanzgericht auch, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen (§ 102 FGO).
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Die Festsetzung der Verspätungszuschläge für 2009 und 2010 ist nicht ermessensgerecht. Der Beklagte geht im Rahmen seiner Ermessenserwägungen von einem nicht zutreffenden Sachverhalt aus. Er legt seinen Ermessenserwägungen zugrunde, dass die Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 und 2010 rechtmäßig sind und gelangt auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis, dass die Verspätungszuschläge in Anbetracht der festgesetzten Einkommensteuer für 2009 und 2010 ermessensgerecht seien. Dieser Sachverhalt trifft nicht zu. Die Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 und 2010 sind rechtswidrig. Es war insoweit Festsetzungsverjährung eingetreten.
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Vor diesem Hintergrund braucht der Senat zu der Frage, ob für Verspätungszuschläge eine Festsetzungsfrist besteht, nicht Stellung zu nehmen (Seer, in Tipke/Kruse, § 152 AO/FGO, § 152 AO Rz. 87; BFH-Urteil vom 10.10.2001 XI R 41/00, BFHE 196, 408; siehe hierzu auch § 169 Nr. 5 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung).
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
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Die Revisionszulassung folgt aus § 115 Abs. 2 FGO. Zu der hier streitentscheidenden Frage liegt noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor.