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  • 01.12.2022 · IWW-Abrufnummer 232566

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 16.08.2022 – 6 K 2755/21 E

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Münster

     
    Tenor:

    Die Klage wird abgewiesen.

    Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

    1
    T a t b e s t a n d

    2
    Streitig ist der Zeitpunkt des (erstmaligen) Zugangs des Einkommensteuerbescheids 2016 vom 05.08.2019.

    3
    Die Kläger sind Eheleute, die für das Jahr 2016 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger erzielte Einkünfte aus Gewerbebetrieb, die Klägerin erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.

    4
    Da die Kläger ihrer Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung für das Jahr 2016 nicht fristgerecht nachkamen, schätzte der Beklagte die Besteuerungsgrundlagen mit Einkommensteuerbescheid vom 27.04.2018. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (VdN) i.S. des § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO). Mit Einkommensteuerbescheid vom 05.08.2019 hob der Beklagte den VdN auf. Mit Einkommensteuerbescheid ebenfalls vom 05.08.2019 schätze der Beklagte mangels Nichtabgabe der Steuererklärung die Besteuerungsgrundlagen für das Jahr 2017 unter dem VdN. Die im Bescheid ausgewiesene Zahllast i. H. v. X € wurde fristgerecht bis zum 09.09.2019 durch die Kläger per Überweisung beglichen.

    5
    Am 09.03.2020 wurde gegen den Kläger ein Strafverfahren wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen 2016 und 2017 eingeleitet.

    6
    Mit Prüfungsanordnung vom 16.03.2020 ordnete der Beklagte beim Kläger die Durchführung einer Betriebsprüfung (BP) für die Veranlagungszeiträume 2015 bis 2017 (Einkommensteuer, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer) an. Im Rahmen der Checkliste Prüfungsvorbereitung hielt die Prüferin dabei fest, dass der VdN für das Jahr 2016 bereits aufgehoben worden, innerhalb der Einspruchsfrist aber keine Erklärung eingegangen sei. Ausweislich der vorliegenden Prüfungsakten standen die Gewerbesteuermessbescheide 2016 und 2017 bei Prüfungsbeginn unter dem VdN.

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    Am 10.06.2020 übermittelten die Kläger die Einkommensteuererklärung für das Jahr 2016 digital an den Beklagten. Die Betriebsprüfung endete am 06.01.2021 mit einem Vermerk über eine ergebnislose Betriebsprüfung. Im Schreiben vom 19.01.2021 teilte die Betriebsprüferin dem Kläger mit, dass für den Prüfungszeitraum Bescheide unter dem VdN ergangen seien. Diese VdNs würden aufgehoben. Ein geänderter Bescheid zur Einkommensteuer 2016 erging nicht.

    8
    Am 09.02.2021 informierte der Beklagte den Steuerberater der Kläger telefonisch, dass eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2016 nicht mehr möglich sei, da die Erklärung erst eingereicht worden sei, nachdem der VdN bereits aufgehoben gewesen sei. Mit Schreiben vom selben Tag übersandte die Betriebsprüferin den Klägern einen mit „Kopie“ beschrifteten Ausdruck des Einkommensteuerbescheids 2016 vom 05.08.2019 sowie weitere Bescheide, die hier nicht mehr streitgegenständlich sind.

    9
    Hiergegen wandten sich die Kläger, vertreten durch ihren Steuerberater, mit Einspruch vom 10.03.2021 und trugen vor, der Einkommensteuerbescheid 2016 sei ihnen erstmals mit Schreiben vom 09.02.2021 bekanntgegeben worden. Mit Schreiben vom 09.04.2021 führte der Steuerberater ergänzend aus, dass der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 die Kläger nicht erreicht habe. Sämtliche Unterlagen des Beklagten würden durch die Kläger unverzüglich an den Steuerberater weitergeleitet. Der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 sei nicht weitergeleitet worden. Es sei nicht nachvollziehbar, wieso der VdN vor Durchführung einer Außenprüfung aufgehoben worden sei. Die Übermittlung der Steuererklärungen sei auf Aufforderung der BP erfolgt. Es sei daher nach Aktenlage des Steuerberaters logisch gewesen, dass Gegenstand der BP die unter dem VdN stehenden Bescheide gewesen seien. Auch ein Schreiben vom 02.07.2020 sei bei den Klägern nicht eingegangen. Nach Abschluss der BP sei mitgeteilt worden, dass die Vorbehalte der Nachprüfung aufgehoben würden. Daraus ergebe sich, dass auch der Beklagte selbst davon ausgegangen sei, dass der Bescheid über die Aufhebung des VdN nicht bekanntgegeben worden sei. Der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 sei erst auf Nachfrage des Steuerbüros bei der Betriebsprüferin übersandt worden.

    10
    Ausweislich des in den Steuerakten befindlichen Ausdrucks einer Übersicht über durchgeführte Einkommensteuerveranlagungen (sog. Veranlagungsspiegel - Stand 10.09.2021) wurde der Einkommensteuerbescheid 2016 am 26.07.2018 geändert und am 05.08.2019 durch das Rechenzentrum versandt.

    11
    Am 10.09.2021 stellte der Beklagte beim Rechenzentrum der Finanzverwaltung NRW eine Anfrage unter anderem hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids 2016 vom 05.08.2019. Er bat dabei speziell um Mitteilung, ob der Bescheid an dem im Bescheid angegebenen Datum versandt wurde und ob dieser sich mit dem Umsatzsteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 (Freigabe ebenfalls am 26.07.2018) in einem Umschlag befunden habe. Mit E-Mail vom 13.09.2021 teilte das Rechenzentrum der Finanzverwaltung mit, dass der Einkommensteuerbescheid 2016 sowie der Umsatzsteuerbescheid 2017 zwar am selben Tag, aber getrennt versandt worden seien, da der Einkommensteuerbescheid an die Eheleute und der Umsatzsteuerbescheid an den Kläger adressiert gewesen sei.

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    Mit weiterer E-Mail vom 15.09.2021 teilte das Rechenzentrum hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids 2016 mit, dass dieser, ebenso wie der Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019, Inhalt der Druckdatei (Inhalt Nr. 1) gewesen sei und die Sendungsnummer XXXXX erhalten habe. Die Sendung sei, wie in den beigefügten Datenbankauszügen POSY 3 und 4 zu erkennen, am 30.07.2019 um 10:57 Uhr mit dem Status „maschinell gut erfasst“ kuvertiert und ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am Absendetag (05.08.2019 ‒ 11:00 Uhr) zur Post eingeliefert worden. Ein Ausdruck der POSY Datei war beigefügt. Ausweislich dieser Datei enthielt die Sendung mit der Nummer XXXXX fünf Blätter zur Steuernummer und war adressiert an „Herrn L 2, Frau L 1, A-Straße 1, N“.

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    Ausweislich der beigefügten Ausfertigungen der Einkommensteuerbescheide 2016 und 2017 wurde der vierseitige, frankierte Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 auf zwei Blättern gedruckt, der fünfseitige, unfrankierte Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 wurde auf drei Blättern gedruckt. Letzterer wies eine Zahllast von X €, zahlbar bis zum 09.09.2019 aus.

    14
    Der Beklagte verwarf den Einspruch der Kläger hinsichtlich der Einkommensteuer 2016 mit Einspruchsentscheidung vom 29.09.2021 als unzulässig. Der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 sei den Klägern persönlich am 08.08.2019 bekanntgegeben worden. Die Einspruchsfrist habe am 09.09.2019 geendet, sodass der am 10.03.2021 eingelegte Einspruch verfristet sei. Unter Berufung auf die vom Rechenzentrum mitgeteilten Informationen führte der Beklagte aus, dass der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 zusammen mit dem Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 in einem Umschlag gewesen sei und (in Ermangelung einer Zustellungsvollmacht des Steuerberaters) an die Kläger persönlich übersandt worden sei. Die geschätzte Einkommensteuer 2017 sei -was unstreitig ist- fristgerecht gezahlt worden. Hieraus folge, dass auch der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 zugegangen sei. Im Übrigen wird auf die Einspruchsentscheidung vom 29.09.2021 Bezug genommen.

    15
    Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer am 04.11.2021 erhobenen Klage. Im Rahmen dieser Klage begehren die Kläger die erklärungsgemäße Veranlagung und tragen vor, dass der Zugang des Einkommensteuerbescheids 2016 vom 05.08.2019 bestritten werde. Der postalische Versand des Einkommensteuerbescheids 2016 werde mit Nichtwissen bestritten. Der Vortrag des Beklagten, andere, ebenfalls am selben Tag versandte Bescheide, seien den Klägern zugegangen, sei nicht geeignet den Nachweis über den Zugang des Bescheids zu erbringen. Der Fehler in der Zustellung liege aller Voraussicht nach beim beauftragten Postdienstleister. Nur weil hier nicht sämtliche Zustellungen verloren gegangen seien, bedeute dies nicht, dass nicht dennoch einzelne Sendungen nicht zugestellt wurden. Der Umstand, dass der Bescheid, der nach den Unterlagen des Rechenzentrums abgesandt worden und nicht zum Beklagten „zurückgelaufen" sei, lasse nicht auf einen tatsächlichen Zugang bei den Klägern schließen. Die Aufhebung des VdN sei auch nicht durch die Mitteilung über eine ergebnislose BP erfolgt. Die Aufhebung des VdN sei erstmalig mit der Bekanntgabe der Bescheide vom 09.02.2021 am 12.02.2021 erfolgt. Der Einspruch vom 10.03.2021 habe die Einspruchsfrist daher gewahrt.

    16
    Soweit der Beklagte behaupte, der Bescheid zur Einkommensteuer 2016 sei zusammen mit weiteren Bescheiden versandt worden, könne dies nur mit Nichtwissen bestritten werden. Der Beklagte möge hier einen entsprechenden Nachweis erbringen.

    17
    Die Kläger beantragen,

    18
    den Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.03.2021 aufzuheben und die Einkommensteuer für das Streitjahr entsprechend der mit Datum vom 10.06.2020 eingereichten Steuererklärung festzusetzen.

    19
    Der Beklagte beantragt,

    20
    die Klage abzuweisen.

    21
    Der Beklagte wiederholt demgegenüber seinen Vortrag aus der Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass der Bescheid über die Aufhebung des VdN zur Einkommensteuer 2016 in demselben Kuvert wie der erstmalige Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 versandt worden sei. Der Einkommensteuerbescheid 2017 habe eine Zahllast i. H. v. X € ausgewiesen. Am Fälligkeitstag, dem 09.09.2019, sei beim Beklagten eine Zahlung i. H. v X € zur Steuernummer der Kläger von einem Konto eingegangen, das nicht in den Grunddaten zu Personensteuern gespeichert war. Diese Zahlung könne nur erfolgt sein, wenn die Kläger von der Höhe der Zahllast und dessen Fälligkeitsdatum Kenntnis hatten. Da fristgerecht gezahlt worden sei, könne auch nicht aufgrund einer Mahnung gezahlt worden sein. Die Zahlung beweise den Zugang des erstmaligen Einkommensteuerbescheids 2017.

    22
    Ebenso beweise die Zahlung aber auch den Zugang des Bescheids über die Aufhebung des VdN zur Einkommensteuer 2016, da sich dieser nachweislich in demselben Kuvert befunden habe.

    23
    Die Kläger haben mit Schreiben vom 12.07.2022 (Bl. 95 d. GA) und der Beklagte hat mit Schreiben vom 14.07.2022 (Bl. 98 d. GA) auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet.

    24
    Im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten Bezug genommen.

    25
    E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

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    A. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

    27
    B. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Zutreffend hat der Beklagte den Einspruch der Kläger vom 29.09.2021 gegen den Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 als unzulässig verworfen und eine erklärungsgemäße Veranlagung der Kläger abgelehnt.

    28
    I. Die Einspruchsfrist war zum Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs abgelaufen.

    29
    1. Der Einspruch ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen.

    30
    Gemäß § 122 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, demjenigen Beteiligten, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist, bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

    31
    Vorliegend haben die Kläger den Zugang des Einkommensteuerbescheids 2016 vom 05.08.2019 für die Zeit vor dem Erhalt der Kopie am 12.02.2021 bestritten. Ein einfaches Bestreiten genügt in diesem Fall; eine weitergehende Substantiierung ist nicht erforderlich, zumal diese den Klägern auch objektiv unmöglich wäre. Vielmehr ist die Finanzbehörde in dieser Konstellation gehalten, den Zugang des Steuerbescheids nachzuweisen. Der Nachweis des Zugangs eines schriftlichen Verwaltungsaktes nach § 122 Abs. 2 AO kann nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises geführt werden. Es gelten vielmehr die allgemeinen Beweisregeln, insbesondere die des Indizienbeweises. Die den Verwaltungsakt absendende Behörde trägt dabei die Beweislast für den Zugang (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH vom 14.03.1989 ‒ VII R 75/85, BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534; BFH-Urteil vom 12.03.2003 ‒ X R 17/99, BFH/NV 2003, 1031).

    32
    Der Beweis des Zugangs des Bescheids kann jedoch auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden (vgl. BFH-Beschluss vom 31.07.2000 - VII B 86/00, BFH/NV 2001, 145).

    33
    a. Unter Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist davon auszugehen, dass den Klägern der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 05.08.2019 gemeinsam mit dem Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 im Original spätestens im September 2019 zugegangen ist und damit wirksam bekanntgegeben wurde.

    34
    Denn nach den internen Ermittlungen des Beklagten zum Postversand des Einkommensteuerbescheids für 2016 vom 05.08.2019 durch das Rechenzentrum der Finanzverwaltung NRW wurde der Bescheid am 05.08.2019 zur Post aufgegeben. Ausweislich der Mitteilung des Rechenzentrums der Finanzverwaltung NRW vom 15.09.2021 waren der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 sowie der Einkommensteuerbescheid für 2017 vom 05.08.2019 Inhalt einer Druckdatei mit der Kennung Inhalt Nr. 1 und trugen die Sendungsnummer XXXXX. Die Bescheide wurden am 30.07.2019 um 10:57 Uhr mit dem Status „maschinell gut erfasst“ kuvertiert und ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am Absendetag (05.08.2019 ‒ 11:00 Uhr) zur Post eingeliefert worden. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Mitteilung des Rechenzentrums der Finanzverwaltung NRW. Zudem liegen Hinweise darauf, dass es am Tag des Drucks und der Kuvertierung zu einem Fehler gekommen wäre, nicht vor. Dies gilt insbesondere, da dem Dateiausdruck zu entnehmen ist, dass die vorangehenden und nachfolgenden Ausdrucke im Sekundentakt erfolgt sind. Wäre es hier zu einem Fehler gekommen, hätte sich der zeitliche Abstand vergrößert.

    35
    Weiterhin hat der Senat auch keine Zweifel daran, dass sich der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 gemeinsam mit dem ebenfalls an die Eheleute adressierten Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 in einem Umschlag befand. Beide Bescheide waren Inhalt derselben Druckdatei, trugen dasselbe Datum und waren übereinstimmend an die Kläger persönlich adressiert. Der Inhalt dieser Druckdatei Inhalt Nr. 1, der in einem C6 Umschlag kuvertiert wurde, umfasste fünf Blätter. Ausweislich der vorliegenden Nachdrucke der Bescheide waren der vierseitige Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 auf zwei Blättern und der fünfseitige Einkommensteuerbescheid 2017 05.08.2019 auf drei Blättern gedruckt. Während der zuerst ausgedruckte (und damit oben liegende) Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 den für den Postversandt notwendigen Aufdruck des QR-Codes (Ersatz für eine klassische Briefmarke) und die Daten der Frankierung (0,95 Deutsche Post) trug, fehlten diese Angaben auf dem nachfolgend gedruckten und damit im Umschlag unten liegenden Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019.

    36
    Dieser Umstand belegt unzweifelhaft, dass der Versand beider Bescheide gemeinsam erfolgte, da ein separater Versand, bzw. eine Beförderung des Einkommensteuerbescheids 2017 vom 05.08.2019 durch die Post ohne Aufdruck eines entsprechenden QR-Codes (Briefmarke) nicht möglich gewesen wäre.

    37
    Eben dieser (unfrankierte) Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 ist den Klägern jedoch zugegangen. Den Zugang haben die Kläger nicht bestritten. Darüber hinaus haben sie nach den unbestrittenen Angaben des Beklagten den im Einkommensteuerbescheid 2017 ausgewiesenen Zahlbetrag i. H. v. X € innerhalb der im Bescheid angegebenen Frist (09.09.2019) durch Überweisung ausgeglichen. Eine derartige Zahlung durch Überweisung war aber nur möglich, wenn die Kläger Kenntnis von dem die Steuerschuld festsetzenden Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 hatten.

    38
    b. Da den Klägern der Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 somit nachweislich zugegangen ist, muss dies zwangsläufig auch für den im selben Umschlag befindlichen Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 gelten. Nicht erheblich für den Zugang ist, ob die Kläger den maßgeblichen Bescheid zur Kenntnis genommen haben, ob dieser Bescheid auffindbar ist (vgl. FG Köln-Beschluss vom 08.11.2011 ‒ 11 V 1709/21, EFG 2022, 457) oder ob der Bescheid an den steuerlichen Berater weitergeleitet wurde.

    39
    Aufgrund der Zahlung der Einkommensteuerschuld 2017 im September 2019 steht zur Überzeugung des Senats fest, dass auch der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 den Klägern spätestens im September 2019 zugegangen und damit bekanntgeben worden ist (§ 122 AO). Damit lief die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO spätestens im Oktober 2019 ab und der am 10.03.2021 eingelegte Einspruch wahrt die Frist nicht.

    40
    Die von den Klägern vorgetragenen Argumente, der Fehler in der Zustellung liege aller Voraussicht nach beim beauftragten Postdienstleister, nur weil hier nicht sämtliche Zustellungen verloren gegangen seien, bedeute dies nicht, dass nicht dennoch einzelne Sendungen nicht zugestellt wurden, spricht nicht gegen den Zugang des Bescheids. Denn wie oben ausgeführt, ist der Senat davon überzeugt, dass der Einkommensteuerbescheid 2017 vom 05.08.2019 und der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 in einem Umschlag waren. Inwiefern ein einzelner Bescheid, der zudem die Frankierung trägt, aus einem Umschlag bei der Zustellung durch den Postdienstleiter verloren gegangen sein soll, erschließt sich dem Senat nicht. Gleiches gilt, sofern die Kläger mit „Nichtwissen“ bestreiten, dass der Einkommensteuerbescheid 2016 vom 05.08.2019 mit einem anderen Bescheid versandt worden sei. Denn wie der Einkommensteuerbescheid 2017 (ohne Briefmarke) allein oder in einem geöffneten Umschlag bei den Klägern angekommen ist, müsste sehr wohl in ihrem Wissensbereich liegen.

    41
    2. Durch die Übersendung der Kopie des Einkommensteuerbescheids für 2016 vom 05.08.2019 am 02.09.2021 erfolgte keine (erneute oder erstmalige) Bekanntgabe mit der Eröffnung einer Anfechtungsmöglichkeit.

    42
    Denn bei der Übergabe der Kopie fehlte es jedenfalls an einem Bekanntgabewillen. Die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes erfordert nach § 124 Abs. 1 AO dessen Bekanntgabe. Eine Bekanntgabe setzt begrifflich den Willen der den Verwaltungsakt erlassenden Behörde voraus, diesen Verwaltungsakt dem jeweils Betroffenen zur Kenntnis zu bringen. Ein ohne Bekanntgabewillen der Behörde bekanntgewordener Verwaltungsakt erlangt daher keine Wirksamkeit (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 04.10.1989 - V R 39/84, BFH/NV 1990, 409).

    43
    Ob ein Bekanntgabewille vorliegt, ist aufgrund einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Zwar kann die Übermittlung oder Übergabe einer Kopie die Voraussetzungen einer wirksamen Bekanntgabe auch dann erfüllen, wenn der Beamte bei der Übermittlung der Kopie in der Annahme, die Urschrift sei bereits bekanntgegeben, nicht die Vorstellung hatte, dadurch eine Bekanntgabe zu bewirken (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23.8.2017 ‒ I R 52/15, BFH/NV 2018, 401; BFH-Beschluss vom 18.3.2015 ‒ I B 47/14, BFH/NV 2015, 808). Der Bekanntgabewille fehlt allerdings, wenn die Übersendung oder Übergabe eines Schriftstücks bzw. der Kopie nicht zu dem Zweck erfolgt, die an eine Bekanntgabe geknüpften Rechtsfolgen herbeizuführen, sondern etwa nur der Information des Empfängers über den Inhalt eines bei den Akten befindlichen Schriftstücks dienen soll (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23.08.2017 ‒ I R 52/15, BFH/NV 2018, 401; BFH-Urteil vom 04.10.1989 ‒ V R 39/84, BFH/NV 1990, 409).

    44
    Ausweislich des Vermerks der Betriebsprüferin über die Vorbereitung der Betriebsprüfung war dem Beklagten die Aufhebung des VdN bereits bei Prüfungsbeginn bekannt. Weiterhin informierte der Beklagte den Steuerberater der Kläger am 09.02.2021 telefonisch, dass eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2016 nicht mehr möglich sei, da die Erklärung erst eingereicht worden sei, nachdem der VdN bereits aufgehoben wurde. Mit Schreiben vom selben Tag übersandte die Betriebsprüferin den Klägern einen mit „Kopie“ beschrifteten Ausdruck des Einkommensteuerbescheids 2016 vom 05.08.2019. Diese Umstände machen deutlich, dass dem Kläger die Kopie am 02.09.2021 lediglich zu Informationszwecken und ohne Bekanntgabewillen übersandt wurde. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Betriebsprüferin die Kläger während der Betriebsprüfung zur Abgabe der Steuererklärungen aufforderte. Denn der Steuerpflichtige bleibt auch nach Erlass eines Schätzungsbescheids zur Abgabe seiner Steuererklärung verpflichtet, wobei die Möglichkeit besteht, dass höhere als die geschätzten Einkünfte erklärt werden. In diesem Fall kommt auch nach Aufhebung des VdN eine Änderung nach § 173 AO in Betracht. Soweit der Beklagte nach Abschluss der Außenprüfung mitgeteilt hat, dass VdNs aufgehoben würden, enthält das Schreiben keine Aussage dazu, welche Bescheide gemeint waren. Insofern ist dem Schreiben auch nicht zu entnehmen, dass der Beklagte davon ausging, dass vorherige Bescheide über die Aufhebung des VdN nicht bekanntgegeben worden seien.

    45
    II. Auch eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2016 nach § 164 Abs. 2 AO kommt nicht in Betracht, da der VdN mit Bescheid vom 05.08.2019 aufgehoben wurde. Zudem sind weitere Änderungsvorschriften im Streitfall nicht anwendbar.

    46
    C. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.