05.03.2020 · IWW-Abrufnummer 214595
Finanzgericht Münster: Urteil vom 27.11.2019 – 13 K 2902/19 Kap
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster
13 K 2902/19 Kap
Tenor:
Der Nachforderungsbescheid vom 9.4.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.9.2019 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
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Tatbestand
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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin verpflichtet war, auf eine von ihr vorgenommene Gewinnausschüttung Kapitalertragsteuer einzubehalten und an den Beklagten abzuführen.
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Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die im Handelsregister des Amtsgerichts B. unter dem Registerblatt HRB 0001 eingetragen ist. Ihr Unternehmensgegenstand ist ... . Alleinige Gesellschafterin der Klägerin ist die X. GmbH & Co. KG (im Folgenden: X. KG), die im Handelsregister des Amtsgerichts B. unter dem Registerblatt HRA 0002 eingetragen ist. An der X. KG sind wiederum die Y. Familienstiftung (im Folgenden: Y.) zu 70 % und die Z. Familienstiftung (im Folgenden: Z.) zu 30 % beteiligt.
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Die Z. und die Y. führten bereits im Juli 2018 Klageverfahren vor dem Finanzgericht Münster, in welchen sie zunächst die Erteilung einer Dauerüberzahlerbescheinigung i.S.v. § 44a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) begehrten (Az 13 K 2267/18 E und Az. 13 K 2268/18 E). In diesen Verfahren teilte der Beklagte nach Klageerhebung mit, dass er nunmehr beabsichtige, die begehrten Bescheinigungen jeweils zu erteilen. Zugleich wies er darauf hin, dass die Klägerin trotz der Bescheinigungen weiterhin bei Ausschüttungen an die X. KG Kapitalertragsteuer einbehalten müsse, da die Z. und die Y. lediglich mittelbar an der Klägerin über die X. KG beteiligt seien.
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Die Z. und die Y. begehrten im damaligen Verfahren daraufhin im Wege eines Feststellungsantrags die Klärung der Rechtsfrage, ob die Klägerin auf künftige Ausschüttungen an die X. KG Kapitalertragsteuer einbehalten müsse. Nachdem der Beklagte der Z. und der Y. jeweils eine Dauerüberzahlerbescheinigung mit Gültigkeit ab dem 01.02.2019 erteilt und die Berichterstatterin auf die Unzulässigkeit des von der Z. und der Y. gestellten Feststellungsantrages hingewiesen hatte, nahmen diese ihren Feststellungsantrag zurück und erklärten den Rechtsstreit für erledigt. Schon in diesem Verfahren erklärte der Prozessbevollmächtigte der Z. und der Y., der zugleich auch der jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin ist, dass die Klägerin zur Klärung der Rechtsfrage eine Ausschüttung in geringer Höhe vornehmen werde, bei der sie keine Kapitalertragsteuer einbehalten und sich dann gegen den voraussichtlich ergehenden Nachforderungsbescheid wenden werde.
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Die Klägerin schüttete daher am 1.3.2019 einen Gewinn in Höhe von 10.000 € an die X. KG aus, ohne auf diese Gewinnausschüttung Kapitalertragsteuer einzubehalten und abzuführen. Dabei lag ihr für alle an der X. KG beteiligten Gesellschafterinnen eine Dauerüberzahlerbescheinigung vor. Die Z. und die Y. erzielten aufgrund dieser Ausschüttung aus ihrer Beteiligung an der X. KG einen Gewinnanteil i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Die Klägerin reichte beim Beklagten keine Kapitalertragsteueranmeldung für März 2019 ein. Diesen Sachverhalt zeigte sie gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 1.4.2019 an.
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Der Beklagte erließ daraufhin am 9.4.2019 gegenüber der Klägerin einen Nachforderungsbescheid, in dem er eine Kapitalertragsteuer in Höhe von 2.500 € und einen Solidaritätszuschlag zur Kapitalertragsteuer in Höhe von 137,50 € gegenüber der Klägerin festsetzte. Den Nachforderungsbescheid begründete der Beklagte im Wesentlichen damit, dass im Rahmen des § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG unter das Tatbestandsmerkmal „Gläubiger der Kapitalerträge“ der zivilrechtliche Gläubiger zu subsumieren sei.
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Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein, zu welchem der Beklagte mit Schreiben vom 5.6.2019 Stellung nahm und neben materiell-rechtlichen Ausführungen erstmals umfangreich seine Ermessensentscheidung begründete, die Klägerin im Wege eines Nachforderungsbescheides in Anspruch zu nehmen. Die Klägerin habe die ihr auferlegte Pflicht zum Einbehalt und zur Abführung von Kapitalertragsteuer zumindest grob fahrlässig verletzt. Ihr sei die Rechtsauffassung des Beklagten und die umstrittene Rechtslage im Hinblick auf das eine andere Auffassung als die Finanzverwaltung vertretende Finanzgericht Hamburg (Urteil vom 19.10.2017 2 K 57/17, EFG 2018, 130) bekannt gewesen. Bei umstrittener Rechtslage habe der zum Kapitalertragsteuereinbehalt Verpflichtete seinen gegenteiligen rechtlichen Standpunkt durch Anfechtung der Kapitalertragsteuerfestsetzung geltend zu machen. Das vereinfachte Verfahren der Kapitalertragsteuererhebung an der Quelle würde erheblich beeinträchtigt, wenn der Abzugsverpflichtete bei jeder strittigen Rechtsfrage vom Steuerabzug absehen und das Finanzamt auf die Zahlungsgläubiger verweisen könnte. Es seien ferner keine Gründe ersichtlich, aufgrund derer eine Inanspruchnahme der Klägerin im Wege der Haftung ausscheide. Schließlich sei es ermessensgerecht, die Klägerin als Schuldnerin der Kapitalerträge in Anspruch zu nehmen. Aufgrund der ausgestellten Dauerüberzahlerbescheinigungen seien die Gesellschafterinnen der Gläubigerin der Gewinnausschüttung (X. KG), die Z. und die Y., nicht zur Körperschaftsteuer zu veranlagen. Daher erscheine es zweckmäßig, die Klägerin als Schuldnerin der Kapitalertragsteuer in Anspruch zu nehmen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 5.6.2019 Bezug genommen. Der Beklagte wies den Einspruch schließlich als unbegründet zurück.
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Gegen die Einspruchsentscheidung vom 11.9.2019 hat die Klägerin am 26.9.2019 die vorliegende Klage erhoben.
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Sie ist der Auffassung, der Nachforderungsbescheid des Beklagten sei bereits deshalb rechtswidrig, weil die Klägerin nicht verpflichtet gewesen sei, auf die Gewinnausschüttung an die X. KG Kapitalertragsteuer einzubehalten, weil ihr im Zeitpunkt der Gewinnausschüttung am 1.3.2019 Dauerüberzahlerbescheinigungen i.S.v. § 44a Abs. 5 Satz 4 EStG von allen am Ergebnis der X. KG beteiligten Gesellschafterinnen vorgelegen hätten.
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Gläubiger der Kapitalerträge im Sinne von § 44a Abs. 5 Satz und 4 EStG seien die am Ergebnis der X. KG beteiligten Gesellschafterinnen, denen das Einkommen der X. KG einkommen- bzw. körperschaftsteuerrechtlich zuzurechnen sei. Nach ganz herrschender Meinung in der Rechtsprechung und Literatur sei Gläubiger der Kapitalerträge auch im Sinne von § 44a Abs. 5 EStG derjenige, der die Kapitalertragsteuer schulde, also im steuerrechtlichen Sinne durch den Kapitalertrag Einkünfte erziele und zu dessen Lasten daher die Kapitalertragsteuer einzubehalten sei. Diesbezüglich verweist die Klägerin auf ein Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15.3.1995 I R 82/93, BFHE 177, 257 und auf eine Kommentierung von Levedag in Schmidt, EStG, 38. Aufl. 2019, § 43 EStG Rn. 13. Im einkommensteuerrechtlichen Sinne sei Gläubiger der von einer Personengesellschaft bezogenen Kapitalerträge nicht die Personengesellschaft, sondern die Gesellschafterinnen, denen die Kapitalerträge steuerrechtlich als Einkünfte zugerechnet würden (BFH-Urteil vom 9.11.1994 I R 5/94, BStBl II 1995, 255; so im Ergebnis auch BMF v. 18.1.2016, BMF IV C I ‒ S 2252/08/10004:017, Tz. 305). Dies gelte auch für die Regelung in § 44a Abs. 5 EStG (Urteil des FG Hamburg vom 19.10.2017 2 K 57/17, EFG 2018, 130; rkr.; Urteil des FG Sachsen-Anhalt vom 30.5.2013 6 K 1103/12, juris, rkr.; Levedag, a.a.O., § 44a EStG Rz. 25).
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Eine andere Auslegung, wonach mit dem Begriff des Gläubigers der Kapitalerträge i.S.v. § 44a Abs. 5 EStG der zivilrechtliche Gläubiger der Gewinnausschüttungen bezeichnet werde, führe zu offensichtlichen Ungleichbehandlungen steuerlich gleicher Sachverhaltskonstellationen. Denn nach dieser Auffassung wären die Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 Satz 1 EStG erfüllt, wenn die Anteile an der Klägerin nicht im Gesamthandsvermögen der X. KG, sondern durch deren Gesellschafterinnen im Sonderbetriebsvermögen bei der X. KG gehalten würden, die Gesellschafterinnen der X. KG mithin auch zivilrechtlich Gläubigerinnen der Kapitalerträge wären. Wieso ein Sachverhalt, der steuerrechtlich mit dem vorliegenden Sachverhalt völlig identisch sei ‒ in beiden Varianten gehörten die Geschäftsanteile an der Klägerin zum ertragsteuerlichen Betriebsvermögen der KG ‒ unterschiedlich behandelt werden solle, sei in keiner Weise zu begründen und verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz.
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Der Nachforderungsbescheid sei ferner deswegen rechtswidrig, weil die Klägerin ihre Verpflichtung zur Einbehaltung und Abführung von Kapitalertragsteuer weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt habe. Die Klägerin habe sich in ihrem Verhalten an rechtskräftigen einschlägigen Urteilen zweier Finanzgerichte sowie an der wissenschaftlichen Kommentierung eines BFH-Richters orientiert.
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Die Klägerin beantragt,
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den Nachforderungsbescheid vom 9.4.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.9.2019 aufzuheben,
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hilfsweise,
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die Revision zuzulassen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er ist der Auffassung, die Klägerin sei zum Einbehalt und zur Abführung von Kapitalertragsteuer auf die Gewinnausschüttung gem. §§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 44 Abs. 1 Satz 3 EStG verpflichtet gewesen. Die Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 Satz 1 EStG lägen nicht vor, da Gläubigerin der Kapitalerträge die X. KG gewesen sei und nicht deren Gesellschafterinnen. Hieran ändere die steuerliche Zurechnung der Einkünfte aus der KG bei den Gesellschafterinnen nichts.
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Der Gesetzgeber habe bei der Abstandnahme vom Steuerabzug grundsätzlich nicht auf den Steuergläubiger, sondern auf den zivilrechtlichen Gläubiger der Wertpapiere und Kapitalanlagen abgestellt. Maßgeblich sei somit das Rechtsverhältnis zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger der Kapitalerträge, in dessen Folge der Schuldner der Kapitalerträge die Kapitalertragsteuer für Rechnung des Gläubigers der Kapitalerträge einzubehalten und abzuführen habe. Ob der Gläubiger der Kapitalerträge zugleich auch der Steuerpflichtige sei, dem die Kapitalerträge mit steuerlicher Wirkung zuzurechnen seien, sei für die Steuereinbehaltungs- und -abführungspflicht des Schuldners unbeachtlich. Dem ordnungsgemäßen Einbehalt und der Abführung der Kapitalertragsteuer werde insoweit als Allgemeininteresse der Vorrang eingeräumt vor dem Individualinteresse des Kapitalertragsgläubigers. Die Kapitalertragsteuer habe vielmehr den Charakter einer Quellenbesteuerung, die zur Beschleunigung der Steuererhebung beitragen solle, vor allem aber habe sie Kontroll- und Sicherungsfunktion im Hinblick auf die Erhebung der Einkommen- und Körperschaftsteuer des Kapitalertragsgläubigers.
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Von diesem Grundsatz werde nur in bestimmten Fällen ausnahmsweise abgewichen, so z.B. bei der Abstandnahme vom Steuerabzug in den Fällen des § 44a Abs. 4a EStG oder bei der Erstattung von Kapitalertragsteuer in den Fällen des § 44b Abs. 7 EStG für bestimmte steuerbegünstigte Mitglieder von Gesamthandsgemeinschaften. Dies mache die nachfolgend zitierte Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/2249, S. 60) zur Regelung des § 44a Abs. 4a EStG deutlich: „Da die Konten und Depots banktechnisch für die BGB-Gesellschaft geführt werden, bedarf es einer Sonderregelung, um für die Gesellschaft eine Abstandnahme zu ermöglichen, obwohl nicht sie, sondern ihre Gesellschafter steuerrechtlich Gläubigerin der Kapitalerträge sind. Dies geschieht durch den neuen § 44a Abs. 4a EStG, der die Regelung des § 44a Abs. 4 EStG zur Abstandnahme für entsprechend anwendbar erklärt. § 44a Abs. 4a Satz 2 EStG stellt ausdrücklich klar, dass die fehlende Gläubigerstellung im steuerrechtlichen Sinne unschädlich ist.“
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Hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit des Nachforderungsbescheides vom 9.4.2019 wiederholt der Beklagte im Wesentlichen seine Ausführungen aus dem Schreiben vom 5.6.2019.
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Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 6.11.2019 bzw. vom 12.11.2019 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).
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II. Der Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer nebst Solidaritätszuschlag vom 9.4.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.9.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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1. Die Rechtmäßigkeit des Nachforderungsbescheides vom 9.4.2019 kann vom Senat in vollem Umfang überprüft werden. Dem steht nicht entgegen, dass der BFH in ständiger Rechtsprechung für Klagen betreffend die Drittanfechtung von Steueranmeldungen in der Weise von einem nur eingeschränkten Prüfungsumfang ausgeht, dass lediglich geprüft werden kann, ob der Entrichtungspflichtige den Steuerabzug vornehmen durfte (vgl. BFH-Beschluss vom 13.8.1997 I B 30/97, BStBl II 1997, 700; BFH-Urteile vom 12.12.2012 I R 27/12, BStBl II 2013, 682; vom 20.11.2018 VIII R 45/15, BStBl II 2019, 306). Der Entrichtungspflichtige sei zum Steuerabzug grundsätzlich auch dann berechtigt, wenn die Rechtslage nicht eindeutig geklärt sei (vgl. BFH-Beschlüsse vom 13.8.1997 I B 30/97, BStBl II 1997, 700; vom 25.11.2002 I B 69/02, BStBl II 2003, 189; vom 7.11.2007 I R 19/04, BStBl II 2008, 228; vom 8.4.2009 I B 78/08, juris; BFH-Urteil vom 12.12.2012 I R 27/12, BStBl II 2013, 682). Eine Klärung der Rechtsmäßigkeit des Steuerabzugs könne erst im Rahmen der Veranlagung oder einem eigenständigen Freistellungs- oder Erstattungsverfahren des Gläubigers der Erträge erfolgen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 7.11.2007 I R 19/04, BStBl II 2008, 228; vom 8.4.2009 I B 78/08, juris.).
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Die für den Fall der Drittanfechtung der Steueranmeldung entwickelten Grundsätze zum Prüfungsmaßstab gelten indes nicht, soweit es um die gerichtliche Überprüfung von Haftungs- oder ‒ wie im Streitfall ‒ von Nachforderungsbescheiden betreffend Kapitalertragsteuer geht. Dies folgt daraus, dass die vorgenannten Rechtsprechungsgrundsätze der besonderen verfahrensrechtlichen Situation einer Drittanfechtungsklage des Gläubigers der Erträge gegen den Entrichtungspflichtigen Rechnung tragen (vgl. BFH-Urteil vom 12.12.2012 I R 27/12, BStBl II 2013, 682). Denn der Entrichtungspflichtige ist als Beliehener der Finanzverwaltung zum Steuerabzug verpflichtet; für ihn besteht bei einer unklaren Rechtslage im Verfahren des Steuerabzugs die Zwangslage, dass ihm einerseits eine Haftung im Fall der Nichtabführung der Kapitalertragsteuer droht, er andererseits im Fall der Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer ggf. mit eine Klage des Gläubigers der Kapitalerträge rechnen muss. Diesen Interessenskonflikt löst der BFH in der Weise, dass er dem Entrichtungspflichtigen die Berechtigung zum Steuerabzug in Zweifelsfällen zuspricht, damit dieser das ihm ansonsten drohende Haftungsrisiko ausschließen kann (vgl. BFH-Beschlüsse vom 13.8.1997 I B 30/97, BStBl II 1997, 700; vom 25.11.2002 I B 69/02, BStBl II 2003, 189).
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Hat der Entrichtungspflichtige sich ‒ wie vorliegend ‒ hingegen dafür entschieden, keine Kapitalertragsteuer einzubehalten, anzumelden und abzuführen und geht das Finanzamt aufgrund dessen gegen ihn im Wege eines Haftungs- oder Nachforderungsbescheides vor, so besteht kein Grund mehr für eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabs, da der Entrichtungspflichtige das Haftungsrisiko bereits eingegangen ist. Während bei einer Drittanfechtung lediglich geprüft werden kann, ob der Entrichtungspflichtige zum Kapitalertragsteuerabzug berechtigt war, muss im Rahmen des Haftungs- oder Nachforderungsbescheides zum Schutz des Entrichtungspflichtigen geprüft werden, ob er auch verpflichtet war, Kapitalertragsteuer einzubehalten, anzumelden und abzuführen (vgl. BFH-Urteil vom 17.2.2010 I R 85/08, BStBl II 2011, 758; BFH-Beschluss vom 7.9.2011 I B 157/10, BStBl II 2012, 590). Denn zum einen muss der Entrichtungspflichtige, soweit er im Wege der Haftung durch das Finanzamt für Kapitalertragsteuer in Anspruch genommen wird, für eine fremde Schuld in Anspruch genommen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 EStG). Zum anderen kann er die Rechtsfrage, ob er zum Kapitalertragsteuerabzug verpflichtet war, gerade nicht im Rahmen einer späteren Veranlagung klären lassen; dies kann nur der Gläubiger der Kapitalerträge.
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2. Der Beklagte hat die Klägerin mit dem Nachforderungsbescheid vom 9.4.2019 zu Unrecht für nicht einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer in Anspruch genommen.
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Gemäß § 44 Abs. 5 EStG haftet der Entrichtungspflichtige für die Kapitalertragsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat, es sei denn, er weist nach, dass er die ihm auferlegten Pflichten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt hat. Verletzt der Entrichtungspflichtige diese Pflicht, kann das zuständige Finanzamt ihn u.a. durch Erlass eines Nachforderungsbescheides gem. §§ 167 Abs. 1 Satz 1, 155 der Abgabenordnung (AO) in Anspruch nehmen.
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Die Klägerin war als Entrichtungspflichtige i.S.v. § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG grundsätzlich zum Einbehalt und zur Abführung von Kapitalertragsteuer auf die von ihr ausgeschütteten Gewinne verpflichtet. Denn die Gewinnausschüttung zählt zu den Einkünften aus Kapitalvermögen i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG und fällt nicht unter § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a EStG. Die Klägerin durfte jedoch gem. § 44a Abs. 5 EStG vom Steuerabzug Abstand nehmen (dazu a.). Dem steht auch nicht die Regelung in § 44 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 EStG entgegen (dazu b.).
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a. Nach § 44a Abs. 5 EStG ist der Steuerabzug bei Kapitalerträgen im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2, 5 bis und 8 bis 12 sowie Satz 2 EStG, die einem unbeschränkt oder beschränkt einkommensteuerpflichtigen Gläubiger zufließen, dann nicht vorzunehmen, wenn die Kapitalerträge Betriebseinnahmen des Gläubigers sind und die Kapitalertragsteuer bei ihm auf Grund der Art seiner Geschäfte auf Dauer höher wäre als die gesamte festzusetzende Einkommensteuer oder Körperschaftsteuer. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist gem. § 44a Abs. 5 Satz 4 EStG durch eine Bescheinigung des für den Gläubiger zuständigen Finanzamtes nachzuweisen (sog. Dauerüberzahlerbescheinigung). Weitere Voraussetzung für die Abstandnahme vom Steuerabzug nach § 44a Abs. 5 EStG ist für Kapitalerträge im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, 7 und 8 bis 12 sowie Satz 2, dass die Anteile im Zeitpunkt des Zuflusses der Einnahmen unter dem Namen des Gläubigers der Kapitalerträge bei der die Kapitalerträge auszahlenden Stelle verwahrt oder verwaltet werden (§ 44a Abs. 6 Satz 1 EStG). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor.
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aa. Gläubiger der von der Klägerin vorgenommenen Ausschüttung im Sinne des § 44a Abs. 5 EStG waren die Z. und die Y..
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Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist der im VI. Teil des EStG verwendete Begriff des Gläubigers der Kapitalerträge nicht zivilrechtlich zu verstehen, sondern es handelt sich um einen spezifisch steuerrechtlichen Begriff (vgl. BFH-Urteile vom 22.8.1990 I R 69/89, BFHE 162, 263; vom 9.11.1994 I R 5/94, BStBl II 1995, 255; vom 15.3.1995 I R 82/93, BFHE 177, 257; FG-Hamburg, Urteil vom 19.10.2017 2 K 57/17, EFG 2018, 130; FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.5.2013 6 K 1103/12, juris). Es kommt nicht darauf an, wem zivilrechtlich der Kapitalertrag zusteht, sondern wer im steuerrechtlichen Sinne durch den Kapitalertrag Einkünfte erzielt und zu wessen Lasten daher die Kapitalertragsteuer einzubehalten und abzuführen ist (vgl. BFH-Urteile vom 22.8.1990 I R 69/89, BFHE 162, 263; vom 9.11.1994 I R 5/94, BStBl II 1995, 255; vom 15.3.1995 I R 82/93, BFHE 177, 257; FG-Hamburg, Urteil vom 19.10.2017 2 K 57/17, EFG 2018, 130). Bei Personengesellschaften sind daher die Mitunternehmer Gläubiger der Kapitalerträge, da ihnen die von der Gesellschaft erzielten Einkünfte gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG steuerrechtlich zugerechnet werden (vgl. BFH-Urteil vom 9.11.1994 I R 5/94, BStBl II 1995, 255; FG-Hamburg, Urteil vom 19.10.2017 2 K 57/17, EFG 2018, 130; FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.5.2013 6 K 1103/12, juris; Hamacher/Dahm, in Korn, EStG, § 44 EStG, Rn. 4; a.A. Jesse, FR 2015, 249).
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Dieser Auslegung des Begriffs des Gläubigers der Kapitalerträge schließt sich der Senat an. Für eine solche Auslegung spricht zunächst die systematische Stellung des § 44a Abs. 5 EStG im VI. Teil des EStG, der die Erhebung der Einkommensteuer, der Lohnsteuer und der Kapitalertragsteuer regelt (vgl. BFH-Urteil vom 22.8.1990 I R 69/89, BFHE 162, 263; vom 9.11.1994 I R 5/94, BStBl II 1995, 255). Der Gläubigerbegriff in den Vorschriften dieses Teils des EStG dient dazu, die Person zu umschreiben, die den maßgeblichen Besteuerungstatbestand im Sinne des I. und II. Teils des EStG verwirklicht hat und deshalb Steuerschuldner ist. Hinsichtlich der Kapitalertragsteuer umschreibt er, wer ihr Schuldner ist (§ 44 Abs. 1 Satz 1 EStG). Er hat insoweit die gleiche Funktion wie der Arbeitnehmerbegriff im Lohnsteuerabzugsverfahren und der Begriff des beschränkt steuerpflichtigen Gläubigers im Sinne des § 50a EStG (vgl. BFH-Urteile vom 22.8.1990 I R 69/89, BFHE 162, 263; vom 9.11.1994 I R 5/94, BStBl II 1995, 255).
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Zudem spricht für eine solche Auslegung, dass sich die Regelung des § 44a Abs. 5 EStG selbst auf die gesamte festzusetzende Einkommen- oder Körperschaftsteuer bezieht, welche auf Dauer niedriger sein muss als die einzubehaltende und abzuführende Kapitalertragsteuer auf die dem Gläubiger zufließenden Kapitalerträge (vgl. FG-Hamburg, Urteil vom 19.10.2017 2 K 57/17, EFG 2018, 130). Verstünde man den Begriff des Gläubigers zivilrechtlich, ergäben sich ‒ wie im Streitfall ‒ Konstellationen, in denen ein solcher Vergleich zwischen der einzubehaltenden Kapitalertragsteuer und der zu zahlenden Einkommen- oder Körperschaftsteuer nicht möglich wäre, da Personengesellschaften nicht einkommensteuerpflichtig sind (vgl. FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.5.2013 6 K 1103/12, juris).
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Schließlich sprechen der nach dem Willen des Gesetzgebers mit der Reglung in § 44a Abs. 5 EStG verfolgte Sinn und Zweck für diese Auslegung. Denn der Gesetzgeber wollte einen dauernden Zinsnachteil von Unternehmen vermeiden, die aufgrund der Art ihrer Geschäfte auf Dauer weniger Einkommensteuer/ Körperschaftsteuer zu zahlen haben als ihnen in Gestalt des Zinsabschlags auf die Wertpapiererträge als Vorauszahlungen abgezogen wird (vgl. BT-Drucks. 12/2501, S. 20). Ein solcher dauerhafter und erheblicher Zinsnachteil ergäbe sich für die Z. und die Y..
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Dieser Auslegung steht die ausdrücklich in § 44a Abs. 4a und Abs. 8a EStG vom Gesetzgeber später aufgenommene Regelung für Personengesellschaften nicht entgegen. Die Sondervorschriften in § 44a Abs. 4a und Abs. 8a EStG regeln eine entsprechende Anwendung von § 44a Abs. 4 bzw. Abs. 8 EStG auf Personengesellschaften und daneben zusätzlich (als Fiktion) den Eintritt der Personengesellschaft in die Position des Gläubigers der Kapitalerträge. Die zusätzliche Anordnung einer solchen Fiktion wäre nicht erforderlich gewesen, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass die Personengesellschaft im Rahmen des § 44a EStG ohnehin die Gläubigerin der Kapitalerträge sei. Anders als es der Beklagte meint, macht die Auslegung des Senats die Vorschriften des § 44a Abs. 4a und Abs. 8a EStG auch nicht überflüssig. Denn die Regelungen verhindern nicht deshalb ein Leerlaufen der Regelungen zur Abstandnahme vom Steuerabzug in den Fällen des § 44a Abs. 4 bzw. Abs. 8 EStG, soweit die dort genannten Körperschaften Kapitalerträge mittelbar über eine Personengesellschaft beziehen, weil die Personengesellschaften als Gläubiger der Kapitalerträge anzusehen sind. Sie dienen vielmehr der Überwindung der zusätzlichen Anforderungen des § 44a Abs. 6 Satz 1 EStG für Kapitalerträge im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, 7 und 8 bis 12 sowie Satz 2, welche im Streitfall nicht vorliegen. In diesen Fällen könnten die Gesellschafter als Gläubiger der Kapitalerträge die Abstandnahme vom Steuerabzug nicht durchsetzen, weil die in § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG benannten Wirtschaftsgüter im Regelfall unter dem Namen der Personengesellschaft verwahrt oder verwaltet werden. Statt von diesem Erfordernis für Personengesellschaften abzusehen, hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des § 44a Abs. 4 bzw. Abs. 8 EStG auf Personengesellschaften erweitert und zugleich fingiert, dass diese Gläubiger der Kapitalerträge sind. Hintergrund der Vorschrift waren Umwandlungen von inländischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts in die Rechtsform einer Personengesellschaft, auf die die Vorschriften der Abstandnahme vom Steuerabzug nun unmittelbar Anwendung finden sollten (vgl. BT-Drucks. 17/2249, S. 60 und 17/6263, S. 74).
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bb. Die Z. und die Y. haben der Klägerin vor der Ausschüttung auch eine Dauerüberzahlerbescheinigung vorgelegt, mit welcher sie ihr gegenüber das Vorliegen der Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 EStG nachgewiesen haben.
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cc. Die Ausschüttung zählte zu den Kapitalerträgen im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und führte bei der Z. und der Y. gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu Betriebseinnahmen, da sie diese als Mitunternehmerinnen über die X. KG bezogen.
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dd. Ob die Kapitalanteile an der Klägerin unter dem Namen der Gesellschafterinnen Z. und Y. oder unter dem Namen der X. KG verwahrt worden sind, kann dahinstehen. Denn die zusätzlichen Voraussetzungen des § 44a Abs. 6 EStG gelten nicht für Ausschüttungen im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, wie sie im Streitfall vorliegt.
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b. Eine Verpflichtung der Klägerin zum Einbehalt, zur Anmeldung und zur Abführung von Kapitalertragsteuer ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Regelung in § 44 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 EStG, wonach der Entrichtungspflichtige den Kapitalertragsteuerabzug unter Beachtung der im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung für Rechnung des Gläubigers vorzunehmen hat. Ob und inwieweit diese Regelung den Entrichtungspflichtigen bindet und zu einem Ausschluss der Überprüfung dieser Rechtsfrage in einem Verfahren zur Nachforderung von Kapitalertragsteuerabzug führen kann, kann offen bleiben, denn die Nichtabführung der Kapitalertragsteuer im Streitfall widersprach nicht den im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften.
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aa. Die zum Kapitalertragsteuerabzug bisher veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung äußern sich nicht zur Frage, wer Gläubiger der Kapitalerträge im Sinne von § 44a Abs. 5 Satz 1 EStG ist. Im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 18.1.2016, BStBl I 2016, 85, sind keine Regelungen zur Abstandnahme vom Steuerabzug nach § 44a Abs. 5 EStG getroffen worden. In diesem Schreiben finden sich für Personengesellschaften lediglich Ausführungen zum Freistellungsauftrag im Sinne von § 44a Abs. 1 bis 3(Rn. 286). Zudem regelt das BMF-Schreiben, dass von der Erhebung der Kapitalertragsteuer dann abgesehen werden kann, wenn es sich bei allen Gesellschaftern einer Personengesellschaft um Steuerausländer handelt, da Gläubiger der Kapitalerträge bei einem auf den Namen der Personengesellschaft geführten Konto die Gesellschafter seien (Rn. 305). Ob die Gesellschafter einer Personengesellschaft auch Gläubiger der Kapitalerträge im Rahmen der Regelung des § 44a Abs. 5 Satz 1 EStG sind, lässt das BMF-Schreiben offen.
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bb. Soweit sich aus der Verfügung der Oberfinanzdirektion Nordrhein-Westfalen (OFD NRW) vom 21.9.2018 S 2404a-2018/0001-St 224, FMNR3d2380018, EStG-Kartei NW §§ 43-45e EStG Nr 3001, ergeben sollte, dass Gläubigerin der Kapitalerträge im Sinne von § 44a Abs. 5 Satz 1 EStG Personengesellschaften als zivilrechtliche Gläubiger der Kapitalerträge sein sollen, so zählt diese Verfügung jedenfalls nicht zu den nach § 44 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 EStG bindenden Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung, da diese Verfügung nicht im Bundessteuerblatt veröffentlicht worden ist.
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