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  • 05.04.2013

    Finanzgericht Köln: Urteil vom 23.01.2013 – 4 K 741/11

    Die Entscheidungen des BVerfG v. 7.7.2010 - 2 BvL14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BStBl. II 2011, 76; v. 7.7.2010 - 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BStBl. II 2011, 86 und v. 7.7.2010 - 2 BvL 1/03, 2 Bv 57/06, 2 Bv 58/06, DStR 2010, 1736 zum rückwirkenden Vertrauensschutz gegen Verschärfungen durch das StEntlG 1999/2000/2002 sind auch auf die rückwirkende Verlängerung der Spekulationsfrist für Wertpapiere anzuwenden. Daher dürfen Wertpapierverkäufe, bei denen die frühere 6monatige Veräußerungsfrist bereits abgelaufen war, bevor das Gesetz am 31.3.1999 verkündet worden ist, nicht rückwirkend von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erfasst werden.


    Im Namen des Volkes

    URTEIL

    In dem Rechtsstreit

    hat der 4. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … ehrenamtlicher Richter … ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 23.01.2013 für Recht erkannt:

    Tatbestand

    Die Beteiligten streiten über die Steuerpflicht eines Gewinns aus der Veräußerung von Wertpapieren.

    Die Kläger werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger bezog im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus Kapitalvermögen.

    Nach der Veranlagung (erstmaliger Einkommensteuerbescheid vom 02.05.2001) erlangte der Beklagte davon Kenntnis, dass der Kläger u.a. Wertpapiere aus dem Fidelity Capital Builder Fond innerhalb der einjährigen Spekulationsfrist des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG veräußert hatte. Der Kläger hatte die Papiere am 08.01.1998 zu einem Preis von 39.000 DM angeschafft und am 07.01.1999 zu einem Preis von 49.071,58 DM veräußert.

    Mit nach § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO geändertem Einkommensteuerbescheid 1999 vom 29.07.2003 erfasste der Beklagte einen Veräußerungserlös in Höhe von 10.071 DM.

    Hiergegen legten die Kläger form- und fristgerecht Einspruch ein. Zur Begründung führten sie an, dass die durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 verlängerte Spekulationsfrist des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG von bisher sechs auf zwölf Monate auf den vorliegenden Fall nicht angewendet werden dürfe. Die bisher geltende Frist von sechs Monaten sei am 08.07.1998 abgelaufen. Die Veräußerung sei am 07.01.1999 realisiert worden. Die neue Frist von 12 Monaten hätte am 08.01.1999 geendet. Diese Frist sei aber erst durch ein Gesetz eingeführt worden, das am 04.03.1999 vom Deutschen Bundestag beschlossen, am 24.03.1999 vom Bundespräsidenten ausgefertigt und am 31.03.1999 im Bundesgesetzblatt verkündet worden sei. Im Zeitpunkt der Veräußerung habe noch die alte Frist von sechs Monaten gegolten. Im vorliegenden Fall sei die Wertsteigerung daher bis zum 07.01.1999, also vor Verkündung des Gesetzes am 31.03.1999 entstanden. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 07.07.2010 (2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05 BVerfGE 127, 1) habe klargestellt, dass die Anwendung der verlängerten Frist gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoße und nichtig sei, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des Gesetzes am 31.3.1999 entstanden seien. Dass dem Beschluss Fälle von Grundstücksveräußerungen zugrunde gelegen hätten, stehe dem nicht entgegen. Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften seien sowohl Fälle von Grundstücksveräußerungen als auch Wertpapierveräußerungen innerhalb einer bestimmten Frist. Beide Veräußerungstatbestände seien im gleichen Gesetzeszusammenhang geregelt. Für beide Veräußerungen sei die bisherige Frist durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 verlängert worden. Auch in der Begründung des Beschlusses des BVerfG finde sich keine grundstückspezifische Argumentation, vielmehr betone der Beschluss in seiner Begründung unter Tz. C. II.2.B.bb die systematische Gleichheit der Besteuerung von Wertsteigerungen bei Grundstücken und Wertpapieren.

    Mit Einspruchsentscheidung vom 10.02.2011 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück und führte zur Begründung aus, dass die Erfassung des Veräußerungsgewinns geltendem Recht entspreche. Gemäß § 52 Abs. 39 S. 1 EStG sei die geänderte Vorschrift des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG – mit dem die Spekulationsfrist von 6 auf 12 Monate verlängert worden sei – auf alle Veräußerungsgeschäfte anzuwenden, bei denen die Veräußerung auf einem nach dem 31.12.1998 rechtswirksamen Vertrag oder gleichstehendem Rechtsakt beruhe. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Beibehaltung der 6-monatigen Spekulationsfrist in den Fällen, in denen die alte Spekulationsfrist bereits vor 1999 abgelaufen gewesen sei, bestehe nicht. Mit Urteil vom 09.03.2004 2 BvL 17/02 (BVerfGE 110, 94) habe das BVerfG entschieden, dass § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Fassung mit Artikel 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig sei, soweit die Vorschrift Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betreffe. Das BVerfG weise in seinen Urteilsgründen darauf hin, dass in den Fällen, in denen eine Norm für nichtig erklärt werde, diese Nichtigkeitserklärung grundsätzlich Wirkung für den ganzen Zeitraum entfalte, für den die betroffene Norm Gültigkeit beanspruche. Von einer Nichtigkeitserklärung für die Veranlagungszeiträume ab 1999 habe das BVerfG deshalb abgesehen, weil sich die einfachgesetzliche Lage mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1999 deutlich gewandelt habe (Verweis auf Rz. 134 der Urteilsgründe). Mit Beschluss vom 10.01.2008 2 BvR 294/06 (DStR 2008, 197) habe das BVerfG eine gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 29.11.2005 IX R 49/04 (BFHE 211, 330) gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung der im Veranlagungszeitraum 1999 erzielten Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S.d. § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG bestätigt. Das BVerfG habe sich demnach mit der Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.1999 bereits befasst und die Rückwirkung für zulässig erachtet. Demnach entspreche § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG geltendem Recht. Weitere Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit bzw. Rückwirkung seien nicht anhängig. Der von den Klägern angeführte Beschluss des BVerfG vom 07.07.2010 2 BvL 14/02 und 2 BvL 13/05 sei zur Veräußerungsfrist bei Spekulationsgeschäften im Rahmen von Grundstücksgeschäften ergangen (§ 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 39 S. 1 EStG) und sei auf Wertpapierveräußerungen i.S.v. § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 nicht anwendbar. Dies komme im Tenor der Entscheidung klar zum Ausdruck. Lediglich bei seinen allgemeinen Ausführungen zu privaten Wertpapierveräußerungen nehme das Gericht zum Umfang der Besteuerung Stellung, indem es Veräußerungsgeschäfte bei anderen Wirtschaftsgütern als Grundstücken, insbesondere bei Wertpapieren, in denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als ein Jahr betrage, zu den privaten Veräußerungsgeschäften gezählt habe (Nr. 24 und 27 der Entscheidung).

    Mit ihrer Klage verfolgen die Kläger ihr Einspruchsbegehren weiter.

    Die Kläger sind der Ansicht, dass die Beschlüsse des BVerfG vom 07.07.2010 auch auf ihren Fall anzuwenden seien und die Wertsteigerung bis zum 07.01.1999 – also vor der Verkündung des Gesetzes am 31.03.1999 – entstanden sei und der Erlös daher nicht steuerbar sei.

    Die Kläger beantragen (schriftsätzlich sinngemäß),

    den Einkommensteuerbescheid 1999 vom 29.07.2003 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.02.2011 dahingehend zu ändern, dass die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften des Ehemannes um 10.071 DM gemindert werden.

    Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen,

    hilfsweise die Revision zuzulassen.

    Zur Begründung verweist er auf die Einspruchsentscheidung.

    Die Kläger haben nach Erhalt der Ladung mit Schreiben vom 06.01.2013 mitgeteilt, dass sie am Tag der mündlichen Verhandlung verhindert seien, aber keine Bedenken hätten, wenn der Senat aufgrund der bisher von ihnen vorgetragenen Argumente entscheide. Der Senat hat daraufhin beim Beklagten angefragt, ob dieser ebenfalls auf eine mündliche Verhandlung verzichte. Dieser Verfahrensweise nach § 90 Abs. 2 FGO hat der Beklagte nicht zugestimmt. Der Senat hat daraufhin den Klägern mitgeteilt, dass ihr Erscheinen aus seiner Sicht nicht erforderlich sei.

    Entscheidungsgründe

    Die Klage ist begründet.

    Der angefochtene Einkommensteuerbescheid 1999 vom 29.07.2003 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.02.2011 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 S. 1 Finanzgerichtsordnung – FGO –). Der Beklagte hat zu Unrecht hinsichtlich der Wertpapiere aus dem Fidelity Capital Builder Fond (im Folgenden: Wertpapiere) steuerpflichtige Einkünfte aus Veräußerungsgeschäften nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG angenommen.

    Die Regelung in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG i.V.m. § 22 Nr. 2 EStG a.F. erfasst Veräußerungsgeschäfte bei Wirtschaftsgütern, insbesondere bei Wertpapieren, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als ein Jahr beträgt.

    Im Streitfall begann die Spekulationsfrist grundsätzlich am 08.01.1998. Sie beträgt nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in der Fassung des StEntlG 1999/2000/2002 ein Jahr. Diese Regelung ist nach § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 vom 22.12.1999 (BGBl I 1999, 2601) bereits im Streitjahr anzuwenden. Der Kläger hat seine Wertpapiere am 07.01.1999 und damit innerhalb der Jahresfrist veräußert.

    Im Streitfall ist jedoch im Zusammenhang mit der Veräußerung der Wertpapiere am 07.01.1999 aufgrund eines verfassungsrechtlichen Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes (hier: Fall der unzulässigen Rückwirkung) kein Gewinn aus privaten Veräußerungsgeschäften anzusetzen.

    Die Besteuerung nach § 23 EStG begegnet für den Veranlagungszeitraum 1999 zwar grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Beschluss des BVerfG vom 10.1.2008 2 BvR 294/06, DStR 2008, 197); die Rechtsanwendung im Streitfall führt aber zu einer verfassungsrechtlich problematischen Rückwirkung, weil der Kläger die Wertpapiere zu einer Zeit erworben hat, als noch die sechsmonatige Spekulationsfrist galt (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der Fassung bis Veranlagungszeitraum 1998), welche im Streitfall zum Zeitpunkt der Veräußerung der Wertpapiere am 07.01.1999 bereits abgelaufen war.

    Das BVerfG hat mit drei Beschlüssen vom 7.7.2010 mehrere durch das StEntlG 1999/2000/2002 rückwirkende Änderungen steuerrechtlicher Vorschriften, nämlich die Verlängerung der Spekulationsfrist bei Grundstücksveräußerungsgeschäften (2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BStBl II 2011, 76), die Absenkung der Beteiligungsquote bei der Besteuerung privater Veräußerungen von Kapitalanteilen (2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BStBl II 2011, 86) sowie die Kürzung der Entlastung von Entschädigungen für entgangene oder entgehende Einnahmen (2 BvL 1/03, 2 Bv 57/06, 2 Bv 58/06, DStR 2010, 1736) teilweise wegen Verstoßes gegen die Grundsätze des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes für nichtig erklärt. Danach dürfen Wertsteigerungen, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31.3.1999 entstanden sind und nach der zuvor geltenden Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Verkündung steuerfrei realisiert worden sind oder steuerfrei hätten realisiert werden können, steuerlich nicht erfasst werden.

    Der Senat sieht sich – wie auch bereits das FG München in seiner Entscheidung vom 14.10.2011 (8 K 103/11, EFG 2012, 409 mit Anmerkung Graw) – auch für den Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in der Fassung des StEntlG 1999/2000/2002 an die Entscheidungen des BVerfG gebunden. Denn die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG erstreckt sich in objektiver Hinsicht nicht nur auf die Entscheidungsformel, sondern auch auf die tragenden Entscheidungsgründe (Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Kommentar, § 31 Rn. 96). Zu den tragenden Entscheidungsgründen gehören insbesondere die vom BVerfG gesetzten Maßstäbe für die Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung. Übertragen auf den Streitfall führt dies nach Auffassung des Senats dazu, dass auch die bis zum 31.3.1999 realisierten Gewinne aus der Veräußerung der Wertpapiere aus dem Fidelity Capital Builder Fond steuerlich nicht erfasst werden dürfen. Denn die früher geltende 6-Monats-Frist (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der Fassung bis Veranlassungszeitraum 1998) war bereits im Juli 1998, also noch weit vor Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002, abgelaufen (ebenso Schmitz/Renger in DStR 2011, 693,697 unter 3.5).

    Die Übertragung der Berechnung der festzusetzenden Steuer ergibt sich aus § 100 Abs. 2 S. 2 FGO.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Frage, ob die Grundsätze aus den Beschlüssen des BVerfG vom 7.7.2010 auch für die Fälle des § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG, in denen ein anderes Wirtschaftgut (als Grundstücke oder grundstücksgleiche Rechte) vor dem 30.9.1998 angeschafft und nach Ablauf der halbjährigen Spekulationsfrist bis zum 31.3.1999 veräußert wurde, Anwendung finden, stellt sich in einer Vielzahl von Besteuerungsverfahren. Die Finanzverwaltung hat die Vorgaben des BVerfG noch nicht in vollem Umfang umgesetzt (vgl. BMF-Schreiben vom 20.12.2010 IV C 6-S 2244/19/10001 :006, 2010/1015920, BStBl I 2011, 14ff). Dies lässt eine klarstellende Entscheidung des Bundesfinanzhofs erforderlich erscheinen.

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    VorschriftenEStG § 52 Abs 39 Satz 1, EStG § 23 Abs 1 Satz 1 Nr 2

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