· Fachbeitrag · Bewertungsregeln
Grundsteuerwertfeststellung im „Bundesmodell“ problematisch: So reagieren Sie jetzt richtig!
von Steuerberater Hans Günter Christoffel, Bornheim
| In zwei inhaltsgleichen Aussetzungsbeschlüssen vom 27.5.24 (II B 78/23 und II B 79/23) hat der BFH brandaktuell zu der Grundsteuerwertfeststellung im sog. Bundesmodell Stellung genommen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Bewertungsvorschriften in § 218 ff. BewG i. d. F. des Grundsteuer-Reformgesetzes vom 26.11.19 bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung verfassungskonform dahin gehend auszulegen seien, dass auf der Ebene der Grundsteuerwertfeststellung im Einzelfall ein niedrigerer gemeiner Wert berücksichtigt werden könne. Hierfür sei regelmäßig der Nachweis erforderlich, dass der Wert der wirtschaftlichen Einheit den festgestellten Grundsteuerwert derart unterschreite, dass sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweise. |
1. Sachverhalt des Beschlusses ‒ II B 78/23
Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks. Die Grundstücksfläche beträgt 351 qm, und das Gebäude ist vor 1949 bezugsfertig gewesen. Es verfügt über eine Wohnfläche von 72 qm. Bei der Bestimmung des Bodenwertes legte das Finanzamt den Bodenrichtwert zum 1.1.22 von 125 EUR/qm zugrunde und erhöhte ihn um einen Umrechnungskoeffizienten von 1,10 für Grundstücke mit einer Größe von nicht mehr als 350 qm. Ausgehend von einem Liegenschaftszinssatz von 2,5 % für Einfamilienhäuser ermittelte es daraus den abgezinsten Bodenwert mit 26.684,34 EUR.
Bei der Ermittlung des kapitalisierten Reinertrags des Grundstücks setzte es als monatliche Nettokaltmiete gemäß Anlage 39 zum BewG einen Wert von 6,23 EUR/qm Wohnfläche an und nahm hiervon einen Abschlag von 10 % aufgrund der Mietniveaustufe 2 vor. Den Reinertrag ermittelte es unter Abzug von Bewirtschaftungskosten von 25 % mit 3.635,28 EUR und kapitalisierte diesen Reinertrag unter Ansatz eines Liegenschaftszinssatzes von 2,5 % und einer Mindestrestnutzungsdauer von 24 Jahren mit 17,88 zu einem Gebäude-wert von 64.998,81 EUR. Aus Boden- und Gebäudewert ergab sich ein Grundsteuerwert von abgerundet 91.600 EUR.
2. Erfreuliche Botschaft des FG Rheinland-Pfalz
Das FG Rheinland-Pfalz kam im Beschluss vom 23.11.23 (4 V 1295/23) zu dem Ergebnis, dass die Bewertungsregeln der §§ 218 ff. BewG verfassungskonform dahin gehend auszulegen seien, dass der Steuerpflichtige einen unter dem typisierten Grundsteuerwert liegenden niedrigeren Grundstückswert nachweisen könne, wobei für diesen Nachweis zwingend kein Wertgutachten erforderlich sei. Darüber hinaus weist das FG in seinem Beschluss insbesondere auf die Unzulänglichkeiten bei der Ermittlung der Bodenrichtwerte sowie auf eine unzureichende Differenzierung nach Lage des Gebäudes und der Größe des Grundstücks im Ertragswertverfahren hin.
3. Die Entscheidung des BFH
Ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit verfassungsrechtliche Zweifel an den der Ermittlung des Grundsteuerwertes zugrunde liegenden Bewertungsvorschriften bestehen, gewährt der BFH die Aussetzung der Vollziehung aufgrund einfachrechtlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Grundsteuerwertbescheids. Die Zweifel ergäben sich bereits dadurch, dass dem Steuerpflichtigen bei verfassungskonformer Auslegung der Bewertungsvorschriften die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, bei einer Verletzung des Übermaßverbots einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen. Dabei lässt sich der BFH von folgenden Grundsätzen leiten:
- Die vom Gesetzgeber zur Bewältigung der Neubewertung von über 36 Millionen wirtschaftlichen Einheiten gewählten Typisierungen und Pauschalierungen überschritten nicht den vom BVerfG zugestandenen Gestaltungsspielraum, solange die Bewertungsregelungen geeignet seien, den mit der Steuer verfolgten Belastungsgrund zu erfassen und dabei die Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitäts- und gleichheitsgerecht abzubilden.
- Der Gesetzgeber habe bei der Neuregelung der Grundsteuer allein an das Innehaben von Grundbesitz und an die damit verbundene (abstrakte) Leistungskraft angeknüpft, ohne dass es auf die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen als Ausdruck seiner Leistungsfähigkeit ankomme. Damit sei Belastungsgrund die durch den Grundbesitz vermittelte Möglichkeit einer ertragsbringenden Nutzung, die sich im Sollertrag widerspiegele und nur eine objektive Leistungsfähigkeit vermittele.
- Eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügende und das daraus folgende Übermaßverbot beachtende Besteuerung sei wegen der an die Leistungskraft des Grundstücks anknüpfenden Belastungsgrundentscheidung dann gewährleistet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiere und den Sollertrag mittels einer verkehrswertorientierten Bemessungsgrundlage bestimme. Dabei seien Abweichungen zwischen pauschaliert ermitteltem Wert und dessen gemeinem Wert grundsätzlich hinnehmbar, solange ein Verstoß gegen das Übermaßverbot im Einzelfall entweder durch verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes oder durch eine Billigkeitsmaßnahme abgewendet werden könne.
3.1 BFH geht detailliert auf mögliche Verletzung des Übermaßverbotes ein
Das Übermaßverbot kann laut BFH insbesondere dann verletzt sein, wenn sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist, wobei sich der BFH ‒ anknüpfend an seine bisherige Rechtsprechung ‒ dabei an einer Wertabweichung zwischen dem vom Finanzamt festgestellten Wert und dem gemeinen Wert von 40 % und mehr orientiert.
Bei Ausschluss von Billigkeitsmaßnahmen sei es daher bei verfassungskonformer Auslegung geboten, den Nachweis eines niedrigeren gemeinen Wertes zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot zuzulassen, auch wenn der Gesetzgeber einen solchen Nachweis nicht ausdrücklich geregelt habe. Bestehe eine solche Nachweismöglichkeit für den Steuerpflichtigen, seien die pauschalierenden und typisierenden Bewertungsvorschriften für sich gesehen nicht verfassungswidrig. Vielmehr habe der Steuerpflichtige die Möglichkeit, eine mögliche verfassungswidrige Überbewertung durch den Nachweis eines gemeinen Wertes zur vermeiden.
Der BFH weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es nicht ausgeschlossen sei, zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung im konkreten Einzelfall den Nachweis eines niedrigeren gemeinen Wertes zu führen. Dies genügt ihm, um eine Aussetzung des Feststellungsbescheids über den Grundsteuerwert zu gewähren. Dabei reicht dem BFH ein hinreichender Sachvortrag des Steuerpflichtigen aus.
3.2 Erfolgreiche Argumentation des Steuerpflichtigen
Im Streitfall ist dies dem Steuerpflichtigen durch folgende Hinweise gelungen:
- Das Gebäude sei 1880 erbaut worden und in einem schlechten Instandhaltungszustand infolge der unterbliebenen Renovierungen, sodass dem Gebäude gegenüber dem Bodenwert kein erheblicher Mehrwert beizumessen sei.
- Vielmehr sei der Bodenwert durch eventuelle Abbruchkosten des Gebäudes gemindert.
- Dies lasse eine Schätzung des typisierten Reinertrags von 3.635,28 EUR und dessen Kapitalisierung nicht ohne Weiteres zu.
Die vorstehend genannten Umstände lassen für den BFH den Schluss zu, dass es dem Steuerpflichtigen gelingen werde, im Hauptsacheverfahren durch ein Sachverständigengutachten einen unter dem vom Finanzamt festgestellten Grundstückswert anzusetzenden gemeinen Wert nachzuweisen.
4. Folgerungen für die Praxis
Wer im Einspruchsverfahren gegen den Grundsteuerwertbescheid auf Unzulänglichkeiten bei der Wertermittlung hinweist, der sollte sich von den Hinweisen des Finanzamts, der Bodenrichtwert sei ein objektiver Wert und ansonsten müssten wertmindernde Faktoren des Grundstücks im Rahmen der Pauschalierung hingenommen werden, nicht abschrecken lassen. Steuerpflichtige sollten ihren Einspruch in solchen Fällen aufrechterhalten und ihn nicht auf die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Grundstücksbewertung beschränken. Erfolg versprechende Hinweise könnten z. B. die unzutreffende Ermittlung des Bodenwertes anhand des Bodenrichtwertes oder ein zu hoher Mietansatz wegen der Lage des Objekts an der Peripherie einer Gemeinde in der Nachbarschaft einer Bahnlinie oder Autobahn sein. Auch hohe notwendige Instandhaltungsaufwendungen wegen eines Renovierungsstaus, Baumängel und Bauschäden wären hier zu nennen.
Für diese Steuerpflichtigen stellt sich die Frage, ob sie im Nachhinein einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids stellen sollen. Ich habe meinen Mandanten davon abgeraten, weil eine Aussetzung der Vollziehung eventuell bei abschlägiger Entscheidung im Hauptsacheverfahren mit Aussetzungszinsen verbunden ist. Denn im Hauptsacheverfahren reicht es nicht aus, wertmindernde Faktoren zu benennen, die bei der Grundstückswertermittlung nicht berücksichtigt wurden. Vielmehr verlangt der BFH von dem Steuerpflichtigen, ein Verkehrswertgutachten vorzulegen, aus dem sich ergibt, dass der gemeine Wert deutlich unter dem vom Finanzamt festgestellten Grundstückswert liegt. Denken Sie in diesem Zusammenhang an die 40 %-Grenze.
Beachten Sie | Es reicht aus, das Einspruchsverfahren gegen den Grundstückswertbescheid zu führen, wenn es allein um die Höhe des Grundstückswertes geht. Sollte daneben auch noch die Grundsteuermesszahl eine Rolle spielen, die auf den Grundstückswert anzuwenden ist, müsste auch der Grundsteuermessbescheid angefochten werden. Dies gilt z. B. in den Fällen, in denen im Grundsteuermessbetragsverfahren eine Wertminderung wegen Denkmalschutz zu berücksichtigen ist. Reicht hier der Abschlag von 10 % aus? Für diejenigen, die sich in der Praxis häufig über eine pauschalierte Wertermittlung nach dem BewG ärgern, z. B. für Erbschaft- und Schenkungsteuerzwecke, lohnt es sich, den sehr ausführlichen Beschluss des FG Rheinland-Pfalz vom 23.11.23 zu lesen, um aus diesem Beschluss „Honig zu saugen“ und Rückschlüsse für ihren Einzelfall zu ziehen.
5. Und wie geht es mit den Einsprüchen gegen die Grundstückswertbescheide weiter?
Hier wird die Finanzverwaltung weitere Verfahren vor dem BFH abwarten. In Kürze könnten dort zwei Verfahren aus Baden-Württemberg anhängig werden. Denn das FG Baden-Württemberg hat mit Urteilen vom 11.6.24 (8 K 2368/22 und 8 K 1582/23) entschieden, dass das Landesgrundsteuergesetz vom 4.11.20 verfassungsgemäß sei, jedoch die Revision gegen die Urteile an den BFH zugelassen (Pressemitteilung Nr. 1/2024 vom 11.6.24).
Weitere Verfahren dürften anhängig werden, wenn Grundstückseigentümer den Nachweis führen können, dass in ihrem Fall der gemeine Wert ihres Grundstücks um mehr als 40 % vom Grundstückswert im Feststellungsbescheid abweicht. Dann ist nach Auffassung des BFH im Aussetzungsbeschluss vom 27.5.24 (a. a. O.) die Grenze überschritten, die dem Gesetzgeber im Rahmen der Typisierung und Pauschalierung zusteht. Ein solcher Nachweis könnte z. B. dadurch erbracht werden, dass in Stichtagsnähe zum Hauptfeststellungszeitpunkt 1.1.22 ein Gutachten oder ein Kaufpreis über das zu bewertende Grundstück vorliegt. Hier dürften die Grundsätze des § 198 BewG anzuwenden sein. Danach ist stichtagsnah ein Kaufpreis, der innerhalb eines Jahres vor oder nach dem 1.1.22 zustande kommt. Diese zeitliche Grenze dürfte auch für ein Gutachten gelten, das aus anderen Gründen, z. B. zum Zwecke der Erbschaftsteuer oder zum Zwecke der Finanzierung, auf einen Stichtag erstellt wurde, der in der Nähe des Hauptfeststellungszeitpunkts 1.1.22 liegt.
Für diesen Fall empfiehlt es sich, im Einspruchsverfahren gegen den Feststellungsbescheid über den Grundstückswert den Kaufpreis oder den Gutachterwert geltend zu machen und unter Hinweis auf die BFH-Entscheidung vom 27.5.24 (a. a. O.) eine Berichtigung des Grundstückswertes zu beantragen. Hierzu könnte folgendes Musterschreiben verwandt werden:
Musterschreiben / Antrag auf Berichtigung des Grundstückswertes |
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit Beschlüssen vom 27.5.24 (II B 78/23 und II B 79/23) hat der BFH entschieden, dass die Bewertungsvorschriften der §§ 218 f. BewG i. d. F. des Grundsteuer-Reformgesetzes vom 26.11.19 (BGBl I 19, 1794) im Rahmen einer einfachrechtlichen Gesetzesauslegung es zulassen, dass zur Vermeidung des Übermaßverbots ein erheblich über den gemeinen Wert eines Grundstücks hinausgehender Grundstückswert zu ermäßigen ist.
Zwar hat das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Wahl der Bemessungsgrundlage und bei der Ausgestaltung der Bewertungsregelungen einen weiten Gestaltungsspielraum zugestanden, solange sie geeignet sind, den mit der Steuer verfolgten Belastungsgrund zu erfassen und dabei die Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitäts- und gleichheitsgerecht abzubilden. Gerade in Massenverfahren wie der Ermittlung der großen Anzahl von Grundstückswerten für die Festsetzung der Grundsteuer verfüge der Gesetzgeber über einen großen Typisierungs- und Pauschalierungsspielraum, sodass die damit notwendigerweise verbundenen Ungenauigkeiten grundsätzlich hinzunehmen seien.
Allerdings könne ein Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG geregelte Übermaßverbot vorliegen, wenn sich der festgestellte Grundstückswert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweise. Dies sei aufgrund der bisherigen BFH-Rechtsprechung regelmäßig dann der Fall, wenn der vom Finanzamt festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteige (vgl. z. B. BFH 16.11.22, II R 39/20, BStBl II 24, 246, Rz. 27). Dann sei es bei Ausschluss von Billigkeitsmaßnahmen in verfassungskonformer Auslegung der typisierenden Bewertungsnormen einfachrechtlich zulässig, den Nachweis eines niedrigeren gemeinen Wertes zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das grundgesetzliche Übermaßverbot zuzulassen, auch wenn der Gesetzgeber einen solchen Nachweis nicht ausdrücklich geregelt habe. Hierzu verweist der BFH in seinem Aussetzungsbeschluss vom 27.5.24 (a. a. O.) auf seine ausführliche Rechtsprechung zu verschiedenen typisierenden Bewertungsnormen.
Damit besteht die Möglichkeit, im Einspruchsverfahren gegen den Feststellungsbescheid über den Grundstückswert vom … einen deutlich niedrigeren gemeinen Wert des Grundstücks nachweisen zu können. Dieser Nachweis wird durch Vorlage des
erbracht.
Hier reicht es nach den Grundsätzen des § 198 BewG aus, dass der Kaufpreis bzw. das Gutachten stichtagsnah zum Kauffeststellungszeitpunkt 1.1.22 zustande gekommen ist, also innerhalb der Jahresfrist vor oder nach dem 1.1.22. Des Weiteren ist aus dem
ersichtlich, dass eine erhebliche Wertabweichung im Sinne der BFH-Rechtsprechung von 40 % und mehr vorliegt. Ich bitte daher, den von mir nachgewiesenen Grundstückswert anstelle des bisher festgestellten Grundstückswerts im Einspruchsverfahren anzusetzen und den Feststellungsbescheid dementsprechend zu berichtigen.
Mit freundlichen Grüßen StB Mustermann |