· Fachbeitrag · Wegzugsbesteuerung
BFH stellt klar: keine einschränkende Auslegung der Wegzugsbesteuerung nach dem AStG
von StB Dipl.-Kauffrau Dr. Katrin Dorn, Partnerin bei MÖHRLE HAPP LUTHER, und StB Frank Niesmann (M. I. Tax), München/Hamburg
| Eine Wegzugsbesteuerung kann nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG auch durch die unentgeltliche Übertragung einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG ausgelöst werden. Mit Urteil vom 8.12.21 (I R 30/19) hat der BFH nun entschieden, dass der Ausschluss oder die Beschränkung des nationalen Besteuerungsrechts kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a. F. (heutiger § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG) sind. Demzufolge kommt es auch dann zu einer Besteuerung der in den Anteilen an der Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG enthaltenen stillen Reserven, wenn das deutsche Besteuerungsrecht an diesen stillen Reserven infolge der Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird. |
1. Wegzugsbesteuerung auch bei „Wegzug der Beteiligung“
§ 6 AStG sieht eine sog. Wegzugsbesteuerung vor, wenn bei einer unbeschränkt steuerpflichtigen Person i. S. d. § 6 Abs. 2 AStG die unbeschränkte Steuerpflicht infolge der Aufgabe des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts endet. Hintergrund dieser Regelung ist, dass Deutschland als bisheriger Wohnsitzstaat des Anteilseigners infolge dieses Wegzugs i. d. R. das Besteuerungsrecht an den in den Anteilen enthaltenen stillen Reserven verliert. Denn i. d. R. weisen die maßgeblichen DBA das Besteuerungsrecht an diesen Veräußerungsgewinnen dem Wohnsitzstaat zu (vgl. Art. 13 Abs. 5 OECD-MA 2017). Daher sieht die Regelung vor, dass eine solche Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht der Veräußerung von Anteilen i. S. d. § 17 EStG gleichsteht. Damit erweitert die Regelung den Anwendungsbereich des § 17 EStG für bislang im Inland unbeschränkt steuerpflichtige Personen i. S. d. § 6 Abs. 2 AStG.
MERKE | Nach den Änderungen der Regelung durch das Gesetz zur Umsetzung der Anti-Steuervermeidungsrichtlinie vom 25.6.21 („ATAD-UmsG“) betrifft dies natürliche Personen, die innerhalb der zwölf Jahre vor ihrem Wegzug für mindestens sieben Jahre unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i. S. d. § 1 Abs. 1 EStG waren. Damit genügt nunmehr eine unbeschränkte Steuerpflicht von sieben Jahren, wohingegen bislang eine Steuerpflicht von zehn Jahren Voraussetzung war. |
Zu einem solchen Verlust des Besteuerungsrechts kann es auch kommen, wenn nicht der Anteilseigner, sondern die Anteile an der Kapitalgesellschaft „wegziehen“, indem die Anteile an der Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG unentgeltlich auf eine im Inland nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person übertragen werden. Denn auch in diesen Fällen verliert Deutschland das Besteuerungsrecht an den Anteilen, wenn das maßgebende DBA das Besteuerungsrecht an den Veräußerungsgewinnen dem Wohnsitzstaat des Anteilseigners zuweist und dieser nicht in Deutschland ansässig ist.
Da die unentgeltliche Übertragung der Anteile an der Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG keine Besteuerung der stillen Reserven nach § 17 EStG auslöst, könnte Deutschland nach der unentgeltlichen Übertragung diese stillen Reserven im Falle einer späteren Veräußerung oder eines der Veräußerung gleichgestellten Vorgangs nicht mehr besteuern. Daher wird auch der „Wegzug der Anteile“ nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG einer Veräußerung der Anteile gleichgestellt, sofern die Anteile von einer bislang i. S. d. § 6 Abs. 2 AStG unbeschränkt steuerpflichtigen Person unentgeltlich auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person übertragen werden. Dieser Ersatztatbestand erfasst dabei die unentgeltliche Übertragung durch Schenkung und durch Erwerb von Todes wegen. Liegen die Voraussetzungen vor, treffen die Besteuerungsfolgen den bisherigen Anteilseigner bzw. bei Erwerben von Todes wegen dessen Erben.
Beachten Sie | Eine Ratenzahlung der Steuer ist nach den ebenfalls durch das „ATAD-UmsG“ geänderten Regelungen des § 6 Abs. 4 AStG möglich (Stundung über sieben Jahre, i. d. R. nur gegen Sicherheitsleistung). Die nunmehr vorgesehene „One-fits-all Lösung“ wird in der Literatur kritisch betrachtet, weil nicht mehr zwischen EU/EWR- und Drittstaatensachverhalten unterschieden wird. Vielmehr gelten einheitliche Regelungen für alle Sachverhalte, das bislang geltende zweigeteilte Stundungsverfahren wurde aufgehoben.
Sollte der Erwerber innerhalb von sieben Jahren nach der Übertragung im Inland unbeschränkt steuerpflichtig werden, kann es nach § 6 Abs. 1 S. 5 AStG zu einem Entfallen des Steueranspruchs kommen, sofern die in § 6 Abs. 3 S. 1 bis 3 AStG genannten Voraussetzungen vorliegen. Dies setzt u. a. voraus, dass die Anteile in der Zwischenzeit weder veräußert, übertragen noch in ein Betriebsvermögen eingelegt wurden, keine Gewinnausschüttungen oder Einlagenrückgewähr erfolgt sind, deren gemeiner Wert insgesamt mehr als ein Viertel des Werts i. S. d. § 6 Abs. 1 AStG beträgt, und das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile mindestens in dem Umfang wieder begründet wird, wie es im Zeitpunkt der Beendigung der Steuerpflicht bestand.
Insoweit kam es durch das ATAD-UmsG zu einer Erweiterung der Rückkehrregelung auf bestimmte Fälle der unentgeltlichen Übertragung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG (vgl. BT-Drs. 19/28652, S. 50). Sofern nach dem Dargestellten eine Besteuerung erfolgt, kann die Erbschaftsteuer auf die Einkommensteuer nach § 35b EStG angerechnet werden, im Falle einer Schenkung ist dies nicht möglich.
2. Die Entscheidung des BFH vom 8.12.21 ‒ I R 30/19
Der BFH musste nun entscheiden, ob der Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG (bzw. vor der Änderung durch das ATAD-UmsG § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a. F.) auch dann zur Anwendung kommt, wenn Deutschland das Besteuerungsrecht an den in den Anteilen enthaltenen stillen Reserven im Falle einer Veräußerung dieser Anteile i. S. d. § 17 EStG ausnahmsweise nicht verliert. Der Kläger begehrte, dass die Regelung in diesem Ausnahmefall teleologisch zu reduzieren sei.
Konkret hatte dieser auf seine in Deutschland ansässige Ehefrau und seinen in den USA ansässigen Sohn Anteile an einer GmbH teilentgeltlich übertragen. Da das Gesellschaftsvermögen der GmbH im Wesentlichen aus im Inland belegenem Grundvermögen bestand, verlor Deutschland das Besteuerungsrecht an den in den Anteilen enthaltenen stillen Reserven trotz der unentgeltlichen Übertragung auf den nicht im Inland steuerpflichtigen Sohn nicht, weil das zwischen Deutschland und den USA abgeschlossene DBA eine sog. Immobilienklausel vorsah. Diese weist in diesem Fall Deutschland als Belegenheitsstaat der Immobilien und nicht dem Wohnsitzstaat des Anteilseigners das Besteuerungsrecht zu. Das zuständige Finanzamt behandelte die Übertragung auf den Sohn zutreffend als teilentgeltlichen Erwerb und setzte für den entgeltlichen Teil einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn nach § 17 EStG fest.
Für den unentgeltlichen Teil der Übertragung sah das Finanzamt § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a. F. (heutige § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG) als erfüllt an, weil die Anteile an einer Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 EStG, wie vom Wortlaut der Regelung vorgesehen, auf eine im Inland nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person übertragen wurden. Dagegen richtete sich der Einspruch des Klägers, der eine teleologische Reduktion des in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG enthaltenen Ersatztatbestandes begehrte, weil im vorliegenden Fall das deutsche Besteuerungsrecht aufgrund der Immobilienklausel in Art. 13 Abs. 2b DBA DEU-USA nicht ausgeschlossen oder beschränkt wurde. Nachdem auch die Klage beim zuständigen FG Köln erfolglos blieb, durfte nun der BFH entscheiden.
Der BFH folgte der Auffassung des Finanzamtes und des FG Köln (vgl. FG Köln 28.3.19, 15 K 2159/15) und wies die Revision des Klägers zurück. Nach Auffassung des BFH ist der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a. F. Dabei geht der BFH zwar kurz auf die in der Literatur vertretene Auffassung ein, dass bei alleiniger Betrachtung des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 3 AStG a. F. der Besteuerungstatbestand zu weit reiche, da die Besteuerung eines fiktiven Veräußerungsgewinns nicht davon abhängig gemacht wird, dass das deutsche Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder zumindest beschränkt wird.
Der BFH stellt allerdings ausdrücklich klar, dass sich der Gesetzgeber bewusst für die Einführung eines neuen Ersatztatbestandes in § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a. F. und damit bewusst gegen eine Erweiterung der bisher vorhandenen Ersatztatbestände entschieden hat. Dabei wird in diesem Auffangtatbestand der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Kapitalgesellschaftsanteile aufgrund anderer Gründe als in Nr. 1 bis 3 der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht gleichgestellt. Daraus sei erkennbar, dass der Gesetzgeber unverändert die Fälle der Wegzugsbesteuerung erfassen will, in denen es nicht auf den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts ankomme. Würde jedoch bereits in die anderen Ersatztatbestände der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal trotz der fehlenden Formulierung im Wortlaut hineingelesen, bliebe für den neuen Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG a. F. kaum noch ein Anwendungsbereich.
Da diese Regelung jedoch nur für unbeschränkt steuerpflichtige Personen gilt, würde durch die vom Kläger begehrte Auslegung die abstrakte Gefahr bestehen, dass Deutschland das Besteuerungsrecht an den in den Anteilen an der Kapitalgesellschaft enthaltenen stillen Reserven beispielsweise verliert, wenn die Gesellschaft ihr Vermögen umschichtet und daraus folgend nicht mehr unter den Anwendungsbereich der sog. Immobilienklausel fallen würde. Insoweit könne zwar angeführt werden, dass der sofortige Besteuerungszugriff nicht gerechtfertigt sei, weil das deutsche Besteuerungsrecht im vorliegenden Fall zwar aufgrund des nationalen Anknüpfungspunktes (inländische Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. e EStG) und der Einschlägigkeit der Immobilienklausel (Art. 13 Abs. 2b DBA DEU-USA) nicht verloren geht. Es bestünde jedoch eben die genannte Gefahr, dass die Gesellschaft ohne steuerliche Rechtsfolgen in Deutschland aus dem Anwendungsbereich der Immobilienklausel fallen könnte, da das deutsche Steuerrecht für diese Fälle keine Entstrickungsbesteuerung vorsieht. Darüber hinaus käme ohnehin eine verfassungsrechtliche Auslegung und somit eine teleologische Reduktion des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a. F. nicht infrage, wenn das Ergebnis der Auslegung im Widerspruch zum Wortlaut sowie zum erkennbaren Willen des Gesetzes steht.
3. Relevanz für die Praxis
Mit seiner Entscheidung vom 8.12.21 (I R 30/19) hat der BFH klargestellt, dass der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Ersatztatbestandes des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG ist und die Ersatztatbestände des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 AStG a. F. (heutige § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 4) AStG) einzeln zu prüfen sind. In der Praxis ist dabei weiterhin zu beachten, dass unentgeltliche Übertragungen von Anteilen an Kapitalgesellschaften, wie die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht des bisherigen Anteilseigners durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes, eine sog. Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG auslösen können. Diese führt zu einer fiktiven Veräußerung der erhaltenen Anteile zum gemeinen Wert in entsprechender Anwendung von § 17 EStG.
Erfreulich ist insoweit die Erweiterung der Rückkehroption auf bestimmte Fälle der unentgeltlichen Übertragung der Beteiligungen. Die Gefahr einer Wegzugsbesteuerung sollte dabei neben den erb- und schenkungsteuerlichen Folgen unentgeltlicher Übertragungen von Anteilen an Kapitalgesellschaften stets bedacht werden, und sofern möglich und notwendig, sollten durch entsprechende Gestaltungen die unerwünschten steuerlichen Folgen einer Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG bereits vorab verhindert werden.