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  • 05.11.2015 · IWW-Abrufnummer 145700

    Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 10.09.2015 – II-4 UF 13/15

    Ein erwerbsunfähiges Kind ist verpflichtet, einen Antrag auf Grundsicherung zu stellen. Ein Verstoß gegen diese Obliegenheit führt zur Anrechnung fiktiver, bedarfsdeckender Einkünfte aus der Grundsicherung.

    Eine dauerhafte volle Erwerbsminderung ist gegeben, wenn zum einen auf nicht absehbare Zeit keine Tätigkeit von mindestens 3 Stunden täglich ausgeübt werden kann und wenn die Behebung der vollen Erwerbsminderung unwahrscheinlich ist. Unter „auf nicht absehbare Zeit“ wird in der gesetzlichen Rentenversicherung ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten verstanden. Für die prognostische Beurteilung der Dauerhaftigkeit ist ein Zeitrahmen von drei Jahren anzusetzen.


    Oberlandesgericht Hamm

    4 UF 13/15

    Tenor:

    Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Dortmund vom 21.11.2014 abgeändert und der Antrag der Antragstellerin zurückgewiesen.

    Die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz trägt die Antragstellerin.

    Der Verfahrenswert für die Beschwerde wird auf 6.048,- € festgesetzt.

    Gründe:

    2

    I.

    3

    Die am ##.##.1993 geborene Antragstellerin ist die Tochter des Antragsgegners. Sie lebt im Haushalt ihrer Mutter, der geschiedenen Ehefrau des Antragsgegners.

    4

    Durch Vergleich vom 27.11.2012 (AG Sulingen, Aktenzeichen 1 F 199/12 UK) war der Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin bis Juni 2013 monatlichen Kindesunterhalt in Höhe von 378,- € zu zahlen.

    5

    Im Juli 2012 erwarb die Antragstellerin ihren Hauptschulabschluss und war für das Schuljahr 2012/2013 an der Berufsfachschule Hauswirtschaft und Pflege mit dem Schwerpunkt Hauswirtschaft und der Zielsetzung des Erwerbs des Realschulabschlusses angemeldet. Tatsächlich nahm sie am Schulunterricht nicht teil. Die Antragstellerin erhält Kindergeld in Höhe von monatlich 184,- €.

    6

    Der Antragsgegner ist Schlosser. Er lebt und arbeitet in China. Dort erzielt er ein monatliches Nettoentgelt in Höhe von mind. 4.855,45 €, von dem diverse Abzüge vorzunehmen sind. Aus seiner neuen Ehe ist die weitere Tochter M, geboren am ##.##.2010, hervorgegangen.

    7

    Die Mutter der Antragstellerin ist wieder verheiratet und erzielt Renteneinkünfte in Höhe von monatlich ca. 1.000,- €. Auch ihr Ehemann erzielt Renteneinkünfte in Höhe von monatlich ca. 1.000,- €.

    8

    Die Antragstellerin hat behauptet, aufgrund schwerer Depressionen mit Angstattacken nicht arbeits-, schul- oder ausbildungsfähig zu sein. Sie sei während des Schuljahres 2012/2013 erkrankt.

    9

    Erstinstanzlich hat sie die Verpflichtung des Antragsgegners begehrt, an sie Kindesunterhalt für August 2013 bis November 2013 in Höhe von 1.512,- € nebst Zinsen sowie ab Dezember 2013 in Höhe von monatlich 378,- € zu zahlen.

    10

    Dem ist der Antragsgegner entgegengetreten und hat Antragszurückweisung beantragt.

    11

    Er ist der Ansicht, ein Unterhaltsanspruch der Antragstellerin sei jedenfalls verwirkt. Bei Abschluss des Vergleichs am 27.11.2012 habe die Antragstellerin getäuscht, da sie zu keinem Zeitpunkt gewillt oder in der Lage gewesen sei, die von ihr avisierte schulische Ausbildung aufzunehmen. Bereits im September 2012 sei sie attestiert nicht mehr schulfähig gewesen, habe ihn aber erst im März 2013 über die angebliche Schulunfähigkeit informiert.

    12

    Das Familiengericht hat nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens den Antragsgegner antragsgemäß verpflichtet, an die Antragstellerin Kindesunterhalt für August 2013 bis November 2013 in Höhe von 1.512,- € nebst Zinsen und ab Dezember 2013 in Höhe von monatlich 378,- € zu zahlen.

    13

    Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Antragstellerin nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens schul-, berufs- und arbeitsunfähig sei.

    14

    Die Kindesmutter sei zur Zahlung von Kindesunterhalt nicht leistungsfähig. Der Antragsgegner verfüge selbst nach Abzug aller von ihm vorgetragenen Belastungen über ein anrechenbares Nettoeinkommen in Höhe von mindestens 3.611,47 €. Nach der Einkommensgruppe vier der Düsseldorfer Tabelle belaufe sich der Bedarf der Antragstellerin auf 562,- € und nach Abzug des vollen Kindergeldes ergebe sich ein Unterhaltsanspruch in Höhe von monatlich 378,- €.

    15

    Der Anspruch sei nicht verwirkt, da die Antragstellerin zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses im Hinblick auf eine begonnene ambulante Behandlung hoffen durfte, das Schuljahr 2012/2013 erfolgreich zu absolvieren.

    16

    Hiergegen wendet sich der Antragsgegner mit der Beschwerde und begehrt weiterhin Antragszurückweisung, wobei er die vom Amtsgericht vorgenommene Berechnung seines Einkommens nicht mehr rügt und sich nicht gegen die Höhe des Unterhaltsanspruchs wendet.

    17

    Die Antragstellerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

    18

    Sie behauptet, sie habe im Mai 2013 und im Mai 2014 bei dem zuständigen Amt wegen Grundsicherung vorgesprochen. Dort habe man ihr mitgeteilt, dass kein Anspruch bestehe, da sie nicht dauerhaft voll erwerbsgemindert sei.

    19

    Im Schuljahr 2012/2013 habe sie bis September 2012 die Schule besucht und sich am 1.10.2012 in ambulante Behandlung begeben. Im November 2012 sei eine dauerhafte Schul-, Ausbildungs- und Arbeitsunfähigkeit nicht abzusehen gewesen. Im März 2013 habe sie den Antragsgegner informiert, dass sie seit September 2012 bis auf weiteres schulunfähig sei. In der Folgezeit habe der Antragsgegner den im Vergleich vereinbarten Kindesunterhalt weiter gezahlt. Damit sei dieser nicht verwirkt.

    20

    Der Senat hat die Antragstellerin und den Sachverständigen Dr. G in der mündlichen Verhandlung vom 20.8.2015 angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf den Berichterstattervermerk Bezug genommen.

    21

    II.

    22

    1.

    23

    Die Beschwerde ist zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt wurde.

    24

    2.

    25

    Sie ist auch begründet. Die Antragstellerin hat gegen den Antragsgegner ab August 2013 keinen Anspruch auf Kindesunterhalt gemäß §§ 1601 ff. BGB.

    26

    Die Antragstellerin hat keinen Unterhaltsanspruch gegen den Antragsgegner, da sie ihren Bedarf durch vorrangige Leistungen auf Grundsicherung gemäß SGB XII selbst decken kann.

    27

    a)

    28

    Der Bedarf der Antragstellerin beläuft sich nach dem alleinigen Einkommen des Antragsgegners mindestens auf die 4. Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle und damit nach Abzug des vollen Kindergeldes auf monatlich 378,- € bis Juli 2015 und auf monatlich 396,- € ab August 2015.

    29

    Der Antragsgegner lebt in China und erzielt dort ein Erwerbseinkommen, aus dem sich – auch unter Berücksichtigung von diversen Abzügen und vorrangigen Unterhaltspflichten gegenüber seinem weiteren Kind – ein Unterhaltsbedarf der Antragstellerin mindestens in der geltend gemachten Höhe ergibt. Der Antragsgegner ist in dieser Höhe leistungsfähig.

    30

    Die Mutter der Antragstellerin ist angesichts eines Selbstbehaltes in Höhe von 1.200,- € (ab Januar 2015 in Höhe von 1.300,- €) zur Zahlung von Kindesunterhalt nicht leistungsfähig. Sie verfügt selbst lediglich über Renteneinkünfte in Höhe von monatlich 1.000,- €. Einen Unterhaltsanspruch gegen ihren neuen Ehemann kann sie nicht realisieren, da dieser ebenfalls lediglich über Renteneinkünfte in Höhe von monatlich 1.000,- € verfügt.

    31

    b)

    32

    Die Antragstellerin ist jedoch nicht bedürftig.

    33

    aa)

    34

    Sie hat einen Anspruch auf Sozialhilfe gemäß §§ 42 ff. SGB XII, da sie dauerhaft voll erwerbsunfähig ist. Der Anspruch auf Sozialhilfe ist gegenüber dem Unterhaltsanspruch vorrangig (OLG Sachsen-Anhalt, FamRZ 2009, 701; OLG Hamm, FamRZ 2004, 1807); das Einkommen der Eltern bleibt bei einem Anspruch auf Sozialhilfe unberücksichtigt, solange dieses nicht über 100.000,- € jährlich liegt.

    35

    Dauerhaft voll erwerbsgemindert ist gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 Fall 2 SGB XII, 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein und bei dem die Behebung der vollen Erwerbsminderung unwahrscheinlich ist (§ 41 Abs. 3 SGB XII). Unter „auf nicht absehbare Zeit“ wird in der gesetzlichen Rentenversicherung ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten verstanden (Blüggel in jurisPK SGB XII 2. Auflage § 41 Rn. 41). Für die prognostische Beurteilung der Dauerhaftigkeit ist ein Zeitrahmen von drei Jahren anzusetzen (Blüggel in jurisPK SGB XII 2. Auflage § 41 Rn. 72).

    36

    Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens ist die Antragstellerin derzeit weder arbeits-, noch schul-, noch berufsausbildungsfähig. Zunächst sei eine Behandlung über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr erforderlich. Nach diesem Ergebnis des Sachverständigen ist die Antragstellerin auf nicht absehbare Zeit außer Stande, mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

    37

    Die Erwerbsunfähigkeit der Antragstellerin ist auch dauerhaft. Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens und insbesondere der mündlichen Anhörung des Sachverständigen Dr. G steht fest, dass die Erwerbsunfähigkeit der Antragstellerin voraussichtlich nicht vor Ablauf von drei Jahren behoben werden kann – es benötigt eine Wartezeit von mindestens einem Jahr sowie einer Behandlungszeit von ein bis zwei Jahren bevor die Antragstellerin wieder mindestens 3 Stunden täglich wird arbeiten können. Prognostisch ist nach den Ausführungen des Sachverständigen davon auszugehen, dass die Erwerbsunfähigkeit der Antragstellerin dauerhaft ist. Unter Einrechnung der Wartezeit auf einen Therapieplatz ist die vorzeitige Behebung der vollen Erwerbsminderung der Antragstellerin unwahrscheinlich und nur spekulativ.

    38

    Diesen Ausführungen des Sachverständigen schließt sich der Senat an. Es hat keinen Zweifel an der objektiven Richtigkeit des von dem Sachverständigen ermittelten Beweisergebnisses. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Grundsicherung nach SGB XII liegen vor.

    39

    bb)

    40

    Die Antragstellerin hätte einen Antrag auf Grundsicherung bereits vor dem im vorliegenden Verfahren streitigen Unterhaltszeitraum ab August 2013 stellen können und müssen.

    41

    Sie selbst sah sich bereits im Mai 2013 veranlasst, bei ihrer zuständigen Gemeinde zur Prüfung von Ansprüchen nach dem SGB XII vorzusprechen. Gegenüber dem Antragsgegner machte die Antragstellerin ihre Unterhaltsansprüche im August 2013 mit der Begründung geltend, sie sei erwerbsunfähig. Auch die behandelnde Ärztin Dr. C stellte bereits im September 2013 in einer Stellungnahme fest, dass die Antragstellerin bis auf weiteres nicht arbeits-, schul- oder ausbildungsfähig sei.

    42

    Bei dieser Sachlage durfte sich die Antragstellerin nicht mit der formlos mitgeteilten Auffassung ihrer Gemeinde, ein Anspruch auf Grundsicherung bestehe nicht, zufrieden geben. Vielmehr oblag es ihr, einen förmlichen Antrag auf Grundsicherung zu stellen und gegebenenfalls zu verfolgen.

    43

    cc)

    44

    Der Antragstellerin sind wegen der Obliegenheitsverletzung fiktive Einkünfte aus Grundsicherung anzurechnen. Für einen Unterhaltsberechtigten besteht die Obliegenheit zur Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen; eine Verletzung dieser Obliegenheit kann zur Anrechnung fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Grundsicherung führen (BGH, Beschluss vom 08. Juli 2015 – XII ZB 56/14 –, Rn. 11).

    45

    Mangels entgegenstehenden Vortrags ist davon auszugehen, dass der Anspruch der Antragstellerin auf Grundsicherung zu vollständig bedarfsdeckenden Einkünften führt, so dass kein weitergehender Unterhaltsanspruch gegenüber dem Antragsgegner verbleibt (ihr Regelbedarf dürfte sich gemäß Anlage zu § 28 SGB XII auf 320,- € zuzüglich Wohnkosten belaufen).

    46

    3.

    47

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 243 FamFG.

    48

    Rechtsbehelfsbelehrung:

    49

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

    50

    Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht erfordert (§ 70 Abs. 2 FamFG).

    RechtsgebietSGBVorschriften§§ 41 SGB XII, 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI