06.12.2023 · IWW-Abrufnummer 238608
Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 17.10.2023 – 4 UF 89/23
Die unterbliebene Einholung eines von Amts wegen einzuholenden Sachverständigengutachtens stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG dar und begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG.
Auf die Beschwerde der Kindesmutter wird ‒ unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen ‒ der Beschluss des Amtsgerichts ‑ Familiengericht ‒ Bochum vom 22.05.2023 und das zugrunde liegende Verfahren aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht ‒ Familiengericht ‒ Bochum zurückverwiesen.
Gründe:
2I.
3Die beteiligten Kindeseltern streiten um die Ausweitung der bestehenden Umgangskontakte des Kindesvaters mit dem gemeinsamen Sohn A., geb. am 00.00.2008. Die vom Kindesvater im vorliegenden Verfahren begehrten 14-tägigen Übernachtungskontakte werden von der Kindesmutter abgelehnt, da diese Kontakte dem Kindeswohl des schwerstbehinderten A. und seiner Gesundheit nicht entsprechen würden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sachverhaltsdarstellung im angegriffenen Beschluss Bezug genommen.
4Das Familiengericht hat unter dem 01.03.2022 zur Klärung der Umgangsfrage einen Beweisbeschluss erlassen. Danach sollte ein noch zu bestimmender Sachverständiger klären, ob anlässlich der Durchführung von Umgangskontakten eine Gefahr von körperlichen oder seelischen Schäden für das Kind bestehe, ob es bei Durchführung von Umgangskontakten zu einer Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens des Kindes komme, welche pflegerischen Maßnahmen im Hinblick auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Kindes bei Umgängen getroffen werden müssten und ob der Kindesvater diese leisten könne sowie welche Beziehung das Kind zum Kindesvater habe.
5Mit Beschluss vom 17.06.2022 hat das Familiengericht letztlich den Sachverständigen F. von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in L. mit der Gutachtenerstattung beauftragt und ergänzend dem Sachverständigen aufgegeben, im Hinblick auf die Frage nach möglichen seelischen Beeinträchtigungen seine Erkenntnisse anlässlich Kontakten zwischen A. und dem Kindesvater, die er beobachtet hat, mitzuteilen.
6In dem Gutachten vom 05.07.2022 nahm der Sachverständige zu der Frage, ob eine Entfernung des Tracheostomas bzw. der Trachealkanüle möglich ist. Zu dem Verhalten des Kindes bei Kontakten mit dem Kindesvater konnte der Sachverständige nichts sagen.
7Zuvor, nämlich am 16.05.2022 nahm die zuständige Richterin telefonischen Kontakt zur behandelnden Kinderärztin von A., Frau C. auf und fertigte hierzu im einstweiligen Anordnungsverfahren 86 F 34/22 AG Bochum einen entsprechenden Vermerk. Dieser Vermerk ist dann ohne einen entsprechenden Hinweis zum vorliegenden Verfahren genommen worden.
8Ferner hat die zuständige Familienrichterin am 15.04.2023 einen Umgangskontakt A.s mit dem Kindesvater in dessen Haushalt begleitet und im Anschluss daran den Haushalt der Kindesmutter aufgesucht, in den A. gerade zurückgekehrt war. Dabei hat sie versucht über ein von A. genutztes Kommunikationsgerät Ja / Nein - Antworten auf Fragen von A. zu erhalten. Da A. nach Einschätzung der zuständigen Richterin an diesem Abend ermüdet und nicht in Stimmung war, sollte eine erneute Befragung am 27.04.2023 im Haushalt der Kindesmutter erfolgen. Ob es hierzu gekommen ist, lässt sich der Akte nicht entnehmen, insbesondere findet sich in der Akte kein entsprechender Vermerk.
9Nach erneuter Anhörung der Beteiligten hat das Familiengericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 22.05.2023 ein 14-tägiges Umgangsrecht des Kindesvaters mit A. von samstags 10:00 Uhr bis sonntags 18:00 Uhr für die Zeit bis Ende Oktober sowie ab November 2023 einen entsprechenden Umgang von freitags 17:00 Uhr bis sonntags 17:00 Uhr bestimmt.
10Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Familiengericht auf das eingeholte Gutachten, das mit der Kinderärztin geführte Telefonat sowie die eigenen Beobachtungen bei dem Umgangskontakt abgestellt.
11Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des angegriffenen Beschlusses Bezug genommen.
12Gegen den am 15.06.2023 zugestellten Beschluss hat die Kindesmutter mit am 16.06.2023 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt und begründet. Zur Begründung führt sie unter näherer Erläuterung aus, dass die Entscheidung dem Kindeswohl widerspreche.
13Sie beantragt,
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den angegriffenen Beschluss abzuändern und die Anträge abzuweisen;
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hilfsweise den Beschluss aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Bochum zurückzuverweisen.
Der Kindesvater beantragt,
18die Beschwerde zurückzuweisen.
19Er ist der Ansicht, dass die angeordneten Übernachtungskontakte dem Kindeswohl entsprechen würden.
20Der Senat hat auf Antrag der Kindesmutter und mit Zustimmung des Kindesvaters mit am 17.07.2023 erlassenen Beschluss die Vollstreckung aus dem angegriffenen Beschluss eingestellt.
21Er hat ferner die Beteiligten darauf hingewiesen, dass er beabsichtigt, gem. § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG im schriftlichen Verfahren zu entscheiden und den Beteiligten insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
22Der Kindesvater hat insoweit lediglich erklärt, die Zurückweisung sei nicht erforderlich, da er A. mit Hilfe des Pflegedienstes auch nachts betreuen könne und für psychische Beeinträchtigungen durch den Umgang nichts ersichtlich sei.
23II.
24Die zulässige Beschwerde der Kindesmutter hat in der Sache zumindest vorläufig Erfolg.
251.
26Die Beschwerde ist nach den §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
272.
28In der Sache hat die Beschwerde der Kindesmutter zumindest vorläufig Erfolg. Die Sache ist auf den gestellten Hilfsantrag unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 S. 2, 3 FamFG an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückzuverweisen.
29Nach dieser Vorschrift darf das Beschwerdegericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens auf Antrag an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, soweit das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. So liegt der Fall hier:
30a)
31Der amtsgerichtliche Beschluss leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, da das Familiengericht die Frage, ob die angestrebte Ausweitung des Umgangs mit dem Kindeswohl vereinbar ist, nicht durch Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgeklärt hat.
32aa)
33Ein Verfahrensmangel, also der Verstoß gegen eine Verfahrensnorm, ist wesentlich, wenn das Verfahren des ersten Rechtszugs an einem so erheblichen Mangel leidet, dass es keine ordnungsgemäße Grundlage für eine die Instanz beendende Entscheidung sein kann (BGH NJW-RR 2015, 323 Rn. 17; NZI 2010, 449 Rn. 11; NJW 2001, 1500, 1501).
34Dabei stellt die unterbliebene Einholung eines von Amts wegen einzuholenden Sachverständigengutachtens einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG dar und begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG (OLG Naumburg FamRZ 2014, 1884, 1885; BeckOK FamFG/Obermann, Stand: 01.08.2023, § 69 Rn. 9).
35bb)
36So liegt der Fall hier, da das Familiengericht zur Frage, ob die angestrebte Ausweitung des Umgangs des Kindesvaters mit dem Kindeswohl vereinbar ist, keinen Beweis erhoben hat. Eine solche Beweisaufnahme ist unzweifelhaft erforderlich, was auch das Familiengericht ausweislich seines Beweisbeschlusses vom 01.03.2022 so gesehen hat. Tatsächlich ist zu dieser Frage aber keine Beweisaufnahme erfolgt.
37Das eingeholte Gutachten des Sachverständigen F. von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in L. vom 05.07.2022 äußert sich zu dieser Frage überhaupt nicht, was das Familiengericht im angegriffenen Beschluss auch so ausdrücklich klarstellt. Entsprechendes gilt hinsichtlich der vom Kindesvater vorgelegten Email des F. vom 13.07.2023.
38Soweit die zuständige Richterin am 16.05.2022 telefonischen Kontakt zur behandelnden Kinderärztin Frau C. aufgenommen hat, stellt dies bereits deshalb keine ordnungsgemäße Beweisaufnahme dar, da die Fragestellung durch einen Kinder- und Jugendpsychologen zu klären wäre, Frau C. folglich nicht über die notwendige Qualifikation verfügte.
39Auch die Begleitung des Umgangskontakts am 15.04.2023 durch die erkennende Richterin kann die sachverständige Klärung der Beweisfrage nicht ersetzen. Denn die erkennende Richterin verfügt bereits nach ihrer eigenen Einschätzung selbst nicht über die notwendige psychologische Vorbildung, was sich bereits aus ihrem Beweisbeschluss ergibt.
40b)
41Aufgrund dieses Mangels ist zudem eine umfangreiche Beweisaufnahme durch das Beschwerdegericht erforderlich. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens geboten ist (vgl. auch OLG Hamm FamRZ 2016, 1289). Bei der Prüfung, ob eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist, ist dem Beschwerdegericht ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen (Sternal/Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 69 Rn. 25).
42Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ‒ wie das Familiengericht in seinem Beweisbeschluss bereits zum Ausdruck gebracht hat ‒ die die Einholung sowohl medizinischer als auch psychiatrischer Gutachten erforderlich ist. Denn bei der Frage, ob die angestrebten Umgangskontakte mit dem Kindeswohl vereinbar sind, wird gegebenenfalls auch zu prüfen sein, wie die pflegerische Versorgung durch den Kindesvater sich auf A. sowohl psychisch als auch gesundheitlich auswirkt.
43c)
44Der Senat erachtet es nicht für sachdienlich, selbst in der Sache zu entscheiden. Insbesondere die Beauftragung geeigneter Sachverständiger, die gegebenenfalls über deren Fachverbände vor Ort vom Familiengericht zu ermitteln sind, muss aus Sicht des Senats ortsnah erfolgen. Aufgrund dessen kam die Abänderung der Entscheidung durch den Senat derzeit nicht in Betracht. Die Aufhebung und Zurückverweisung entspricht zudem dem Interesse der Beteiligten, den Rechtsstreit über zwei volle Tatsacheninstanzen führen zu können. Der Gesichtspunkt der Verzögerung der Entscheidung tritt vor diesem Gesichtspunkt ebenso zurück wie der Verteuerung des Rechtsstreits.