23.07.2024 · IWW-Abrufnummer 242823
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 12.06.2024 – XII ZB 197/24
a) Zieht das Beschwerdegericht in einer Unterbringungssache für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage - etwa ein neues Sachverständigengutachten - heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, gebietet dies eine neue persönliche Anhörung des Betroffenen nach § 319 FamFG (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 6. April 2022 - XII ZB 451/21 -FamRZ 2022, 1130).
b) Ist der Sachverständige nicht Arzt für Psychiatrie, muss das Gericht prüfen und in der Entscheidung darlegen, ob er als Arzt über Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie im Sinne von § 321 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 FamFG verfügt. Wenn der Sachverständige insoweit nicht hinreichend qualifiziert ist, darf das von ihm erstattete Gutachten nicht verwertet werden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 15. September 2010 - XII ZB 383/10 FamRZ 2010, 1726).
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juni 2024 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Recknagel
beschlossen:
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Marsberg vom 8. Februar 2024 und der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg vom 6. März 2024 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt ( § 337 Abs. 1 FamFG ).
Eine Wertfestsetzung ( § 36 Abs. 3 GNotKG ) ist nicht veranlasst.
Der Antrag des Betroffenen auf Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts wird abgelehnt.
Gründe
I.
1
Der Betroffene wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte gerichtliche Genehmigung seiner Zwangsbehandlung.
2
Der im Jahr 1996 geborene Betroffene leidet unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Im Januar 2023 wurde eine Betreuung für ihn eingerichtet, wobei der Aufgabenkreis der Betreuerin (Beteiligte zu 1) auch die Aufenthaltsbestimmung, die Gesundheitssorge sowie die Entscheidung über eine freiheitsentziehende Unterbringung umfasst. Von Januar bis April 2023 war der Betroffene untergebracht. Im Oktober 2023 sprang er aus dem Küchenfenster seines Elternhauses und zog sich dabei Frakturen beider Fersenbeine zu. In der Folgezeit wurde er mehrfach untergebracht; in der aktuellen Unterbringungseinrichtung befindet er sich seit dem 17. November 2023. Nachdem der Betroffene sein Einverständnis mit einer medikamentösen Behandlung zurückzog, genehmigte das Amtsgericht durch Beschlüsse vom 7. Dezember 2023 und 5. Januar 2024 dessen Zwangsbehandlung.
3
Im vorliegenden Verfahren hat die Betreuerin beantragt, die Zwangsbehandlung des Betroffenen auch über den 10. Februar 2024 hinaus zu genehmigen. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und persönlicher Anhörung des Betroffenen hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 8. Februar 2024 die Zwangsbehandlung mit den Medikamenten Zypadhera 405 mg alle vier Wochen intramuskulär und Clexane 4.000 I.E. (40 mg)/0,4 ml subkutan täglich bis zum 21. März 2024 genehmigt. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen.
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Mit seiner Rechtsbeschwerde erstrebt der Betroffene die Feststellung, dass der Beschluss des Amtsgerichts und der Beschluss des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.
II.
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Die auch im Falle der hier aufgrund Zeitablaufs eingetretenen Erledigung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG statthafte Rechtsbeschwerde (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 -FamRZ 2020, 1305Rn. 8 mwN) ist zulässig und begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der Vorinstanzen nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (st. Rspr., vgl. etwa Senatsbeschluss vom 20. November 2019 - XII ZB 222/19 - juris Rn. 4 mwN).
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1. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass das landgerichtliche Verfahren schon deshalb unter einem durchgreifenden Verfahrensmangel leidet, weil das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht erneut angehört hat.
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a) Zwar eröffnet § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit, von der Durchführung der gemäß § 319 FamFG vorgesehenen persönlichen Anhörung des Betroffenen abzusehen. Doch scheidet dies aus, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Dies ist dann der Fall, wenn das Beschwerdegericht für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heranzieht, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2022 - XII ZB 451/21 -FamRZ 2022, 1130Rn. 16 mwN).
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b) Gemessen hieran hätte das Beschwerdegericht den Betroffenen persönlich anhören müssen, weil es seine Entscheidung ausdrücklich auch auf das Gutachten des Sachverständigen Sch. gestützt hat. Dieses Gutachten, das dem Betroffenen - anders als die Rechtsbeschwerde meint - ausweislich der gerichtlichen Verfügung vom 6. März 2024 zur Kenntnis gegeben wurde, ist vom Amtsgericht erst nach Erlass seines Beschlusses vom 8. Februar 2024 eingeholt und vom Beschwerdegericht als neue Tatsachengrundlage berücksichtigt worden.
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2. Ebenfalls zutreffend macht die Rechtsbeschwerde geltend, dass das von beiden Vorinstanzen verwertete Gutachten des Sachverständigen Dr. P. verfahrensfehlerhaft erstellt worden ist.
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a) In einem Verfahren, das die Genehmigung oder Anordnung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme betrifft, soll der Sachverständige nach § 321 Abs. 1 Satz 4 FamFG Arzt für Psychiatrie sein; jedenfalls muss er Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein. Ergibt sich die Qualifikation nicht ohne Weiteres aus seiner Facharztbezeichnung, ist seine Sachkunde vom Gericht zu prüfen und in der Entscheidung darzulegen (Senatsbeschluss vom 15. September 2010 - XII ZB 383/10 -FamRZ 2010, 1726Rn. 13). Ist der Sachverständige im Sinne von § 321 Abs. 1 Satz 4 FamFG nicht hinreichend qualifiziert, darf das von ihm erstattete Gutachten nicht verwertet werden (Senatsbeschluss vom 15. September 2010 - XII ZB 383/10 -FamRZ 2010, 1726Rn. 16).
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b) Aus dem schriftlichen Gutachten vom 19. Januar 2024 ergibt sich lediglich, dass der Sachverständige Dr. P. Facharzt für Neurologie ist und sich in Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie befindet. Indes haben weder die Vorinstanzen - auch unter Berücksichtigung der Ausführungen im amtsgerichtlichen Nichtabhilfebeschluss - in der gebotenen Weise festgestellt, dass er tatsächlich bereits über Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie verfügt, noch ist dies sonst ersichtlich.
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3. Die instanzgerichtlichen Entscheidungen sind demnach verfahrensfehlerhaft ergangen. Auf den Antrag des Betroffenen ist entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG durch den Senat auszusprechen, dass die durch Zeitablauf erledigten Beschlüsse der beiden Vorinstanzen den Betroffenen in seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Integrität und in seinem vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mitumfassten Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich seiner körperlichen Integrität (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 -FamRZ 2020, 1305Rn. 18 mwN) verletzt haben.
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Die Feststellung nach § 62 FamFG , dass ein Betroffener durch eine Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Sie ist jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel eines rechtswidrigen Eingriffs in eine grundrechtlich geschützte Position des Betroffenen hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist. Die persönliche Anhörung eines Betroffenen nach § 319 FamFG gehört zu den grundlegenden Verfahrensgarantien in Unterbringungssachen. Die - hier vorliegende - Nichtbeachtung dieser Vorschrift bedeutet daher regelmäßig einen gravierenden Verfahrensfehler im vorgenannten Sinne (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 -FamRZ 2020, 1305Rn. 19 mwN). Gleiches gilt für den - hier ebenfalls gegebenen - Fall, dass das Gutachten eines im Sinne von § 321 Abs. 1 Satz 4 FamFG nicht hinreichend qualifizierten Sachverständigen verwertet worden ist. Denn eine erheblich in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Zwangsbehandlung lässt sich nur rechtfertigen, wenn ihre Voraussetzungen verlässlich festgestellt sind.
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Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Genehmigung der Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Denn diese Genehmigung bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (Senatsbeschluss vom 13. Mai 2020 - XII ZB 541/19 -FamRZ 2020, 1305Rn. 20 mwN).
III.
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Der Antrag des Betroffenen auf Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts hat schon deshalb keinen Erfolg, weil der Betroffene bereits durch einen am Bundesgerichtshof zugelassenen, ihm nach § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 121 ZPO beigeordneten Rechtsanwalt vertreten ist und die Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts mit dem Ziel, ein vom bisherigen Verfahrensbevollmächtigten eingelegtes Rechtsmittel nach den Vorstellungen des Beteiligten zu begründen, von vornherein ausscheidet (vgl. BGH Beschluss vom 29. Juni 2021 - VIII ZR 280/19 - juris Rn. 1 mwN). Ein solches Ziel hat der Betroffene verfolgt, indem er dem ihm beigeordneten Rechtsanwalt die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtsbeschwerdebegründung vorgeben wollte. Es liefe jedoch dem Zweck der Zulassungsbeschränkung für Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof ( § 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG ) zuwider, wenn ein Beteiligter einen Anspruch darauf hätte, seine Rechtsansicht gegen die des - auf das Rechtsbeschwerderecht spezialisierten - Rechtsanwalts durchzusetzen (vgl. BGH Beschluss vom 29. Juni 2021 - VIII ZR 280/19 - juris Rn. 1 mwN zu § 78 Abs. 1 Satz 3 ZPO ).
Guhling Nedden-Boeger BoturKrüger Recknagel