07.03.2025 · IWW-Abrufnummer 246955
Oberlandesgericht Hamm: Urteil vom 04.02.2025 – 4 UF 164/24
1.
Fehlt die eine korrigierende Operation befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission, und damit eine entsprechende Vermutung nach § 1631e Abs. 3 S. 3 BGB, ist die Prüfung der Kindeswohldienlichkeit nach einer umfassenden Interessenabwägung vorzunehmen.
2.
In diese sind insbesondere einzubeziehen die Auswirkungen des geplanten Eingriffs, die Frage des Vorhandenseins möglicher alternativer Eingriffe und Behandlungen, die Reichweite der Veränderungen am Körper des Kindes, die Frage der künftigen Reversibilität sowie die Erforderlichkeit einer dauerhaften Nachbehandlung.
3.
Nach der Gesetzesbegründung zu § 1631e BGB können unter anderem auch solche Eingriffe genehmigt werden, die "zur Heilung oder Beseitigung einer Funktionsstörung (…) erforderlich sind, ohne dass eine konkrete Gesundheitsgefahr vorliegt." Erst Recht kann die Genehmigung dann zu erteilen sein, wenn es wie hier um eine konkrete Funktionsstörung geht, die bereits zu Gesundheitsgefahren führt.
4.
Zwar hat der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 1631e BGB der umfassenden Beratung und Aufklärung (auch) der Eltern eine große Bedeutung beigemessen. Dennoch ist stets im Einzelfall zu prüfen, welches Gewicht einer solchen Aufklärung der Eltern zukommt. Je weniger gewichtig die konkrete medizinische Indikation ist, um so mehr Gewicht hat eine umfassende Aufklärung der Eltern. Je stärker eine Operation aus medizinischen Gründen indiziert ist, umso weniger kann es darauf ankommen, ob die Eltern sich über alle Facetten der Varianten der Geschlechtsentwicklung informiert haben.
5.
Sofern die Eltern (möglicherweise) in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, die aufgrund der Operation erforderliche Nachsorge zu leisten, rechtfertigt dies nicht die Versagung der familiengerichtlichen Genehmigung, wenn das Kind durch ein Zuwarten mit der Operation gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt ist. Auf eine solche Einschränkung der Eltern muss dann vielmehr mit (ambulanten Unterstützungs- oder notfalls in das Sorgerecht eingreifenden) Maßnahmen reagiert werden.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Kindeseltern vom 05.09.2024 wird der Beschluss des Amtsgerichts ‒ Familiengericht ‒ Schwerte vom 02.08.2024 abgeändert. Die familiengerichtliche Genehmigung der Vornahme einer operativen Korrektur des virilisierten äußeren Genitals bei A., geboren am 00.00.2021, wird erteilt.
Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000,- € festgesetzt.
1
G r ü n d e
2
I.
3
Die Kindeseltern wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen die Versagung einer Genehmigung für eine Operation ihrer Tochter A. an deren Genital.
4
Das Mädchen leidet ‒ wie auch ihr am 00.00.2018 geborener älterer Bruder E. ‒ an einer Störung der Hormonbildung in der Nebennierenrinde in Form eines androgenitalen Syndroms vom 21-Hyroxylase-Typ (kurz: AGS). Diese Erkrankung führt dazu, dass vermehrt männliche Hormone gebildet werden. Das äußert sich bei E. unter anderem in einem übermäßigen Wachstum, insbesondere auch in einem gegenüber Gleichaltrigen erheblich vergrößerten Penis. Bei A. bewirkt die Erkrankung Missbildungen an der Vagina des Kindes, die „vermännlicht“ (virilisiert) und also einem männlichen Geschlechtsteil angenähert ist. Die Klitoris ist erheblich vergrößert, so dass es an einem Vaginaleingang fehlt. Urin kann das Kind aber ausscheiden. Die Einflüsse der Hormone auf die äußere Form des Genitals sind inzwischen abgeschlossen. Davon unabhängig benötigen beide Kinder aber eine regelmäßige medikamentöse Versorgung mit Kortison, um das hormonelle Gleichgewicht zu gewährleisten und weitere gesundheitliche Probleme zu verhindern.
5
Die Kindeseltern möchten die Fehlbildung am Genital des Kindes operativ versorgen lassen. Deshalb begehren sie im vorliegenden Verfahren die Erteilung der familiengerichtlichen Genehmigung für eine solche Operation.
6
Die Familie ist dem Jugendamt seit dem Jahr 2019 bekannt. Anfang 2021 ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass die gesundheitliche Versorgung der beiden Kinder im Hinblick auf das bei ihnen jeweils vorliegende androgenitale Syndrom unzureichend war. So informierte im März 2021 der Kinderarzt V. das Jugendamt darüber, dass die Kindeseltern seiner Empfehlung, E. in der endokrinologischen Ambulanz vorzustellen, über längere Zeit nicht gefolgt seien. Im Oktober 2021 teilte die Kinderklinik S. mit, dass dort der Eindruck bestehe, bei A. sei die durchgehende Versorgung mit den notwendigen Medikamenten nicht gewährleistet. Gegen Ende 2021 teilte die zuständige Ärztin mit, dass ein Kontrolltermin durch die Eltern nicht wahrgenommen worden sei. Schließlich übermittelte sie am 16.12.2021 die Ergebnisse einer aktuellen Blutuntersuchung der Kinder. Danach sei jedenfalls bei E. der Cortisolspiegel massiv erhöht.
7
Dies war der Anlass für das Jugendamt, noch am selben Tage gemäß § 8a SGB VIII eine Kindeswohlgefährdung mitzuteilen, die zur Einleitung des vom Senat beigezogenen Verfahrens AG Schwerte 12 F 1/22 führte. Beide Kinder wurden vom Jugendamt in Obhut genommen.
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Das Amtsgericht verhandelte jene Sache am 22.12.2021 und protokollierte dort eine Vereinbarung, derzufolge das Jugendamt die Kinder an die Eltern herausgebe und sicherstelle, dass die regelmäßige Medikamentengabe ‒ gegebenenfalls durch Einschaltung eines Pflegedienstes ‒ gewährleistet werde. Durch Beschluss vom 23.12.2021 stellte das Amtsgericht fest, dass familiengerichtliche Maßnahmen wegen dieser Vereinbarung einstweilen nicht erforderlich seien.
9
Ein Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Z. vom 17.01.2022 bestätigte, dass sich die Laborwerte von E. gebessert hätten und ein „positiver Trend“ zu verzeichnen sei. In einem späteren Bericht derselben Klinik vom 02.03.2023 ist niedergelegt, dass sich bei E. „eine gute medikamentöse Einstellung gezeigt“ habe. Es sei deshalb „weiterhin von einer guten Compliance mit zuverlässiger Verabreichung der notwendigen Medikamente auszugehen“.
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Am 14.06.2023 verhandelte das Amtsgericht Schwerte sowohl das beigezogene Verfahren 12 F 1/22 als auch das vorliegende Verfahren, nachdem es hier ein Sachverständigengutachten des Herrn P. eingeholt hatte. Das Verfahren 12 F 1/22 beendete es mit einem Beschluss, wonach familiengerichtliche Maßnahmen nicht veranlasst seien.
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In der vorliegenden Sache hat es den Kindeseltern mit Beschluss vom 15.06.2023 aufgegeben, sich gemäß § 167b Abs. 2 S. 3 FamFG „über den Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung beraten zu lassen“ und dem Gericht hierüber eine Bestätigung vorzulegen. Die Beratung habe „durch eine Beratungsstelle oder einen Beratungsdienst der Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu erfolgen“. Daneben wurde den Kindeseltern in dem Beschluss „empfohlen“, sich zu Fragen des Umgangs mit der Erkrankung AGS zu informieren.
12
Im Februar hat der Verfahrensbevollmächtigte der Kindeseltern eine Bescheinigung vorgelegt, wonach die Eltern sich im Klinikum Z. beraten lassen haben. In dieser Bescheinigung vom 22.01.2024 ist zunächst niedergelegt, dass bezüglich A. an diesem Tag „die erste Vorstellung nach 10 Monaten“ erfolgt sei, da ein zwischenzeitlich anberaumter Termin verpasst worden sei. Weiter wird ausgeführt, dass es A. klinisch gut gehe. Sie zeige eine „schöne Gewichtszunahme und Längenwachstum“. Laborchemisch zeige sich „ein deutlich rückläufiges 17OHP mit nun normwertigem ACTH.“ Empfohlen werde deshalb „die unveränderte Fortführung der Therapie mit Hydrocortison […] und Fludrocortison […].“ Sodann wird ausgeführt:
13
„Des Weiteren verstehen wir den dringenden elterlichen Wunsch einer operativen Korrektur des Genitals und es erfolgte heute erneut eine umfassende Beratung der Eltern hinsichtlich Therapie und Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung.“
14
Die übrigen Verfahrensbeteiligten vertraten die Auffassung, dass dadurch der gerichtlichen Auflage nicht genügt sei, weil diese die Beratung durch eine besondere Beratungsstelle vorsehe. Der Verfahrensbevollmächtigte der Kindeseltern wiederum teilte mit, dass die Kindeseltern „über Monate“ versucht hätten, einen Termin in einer Beratungsstelle zu finden. Es gebe aber keine qualifizierte Beratung durch einen öffentlichen Träger zu diesem speziellen Thema.
15
Im Juni 2014 ließen sich die Eltern nochmals beraten bei der D. e.V..
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Am 02.08.2024 hat das Amtsgericht sodann durch den angefochtenen Beschluss ‒ ohne nochmalige mündliche Verhandlung ‒ die Erteilung der Genehmigung abgelehnt.
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Zur Begründung hat es ausgeführt:
18
Zwar habe der Sachverständige erläutert, dass eine Operation letztlich unausweichlich sei. Denn spätestens mit Einsetzen der Menstruation werde es zu einem Stau von Flüssigkeiten in der Scheide und in der Gebärmutter kommen, was erhebliche (Infektions-)Risiken mit sich bringen würde. Was den Zeitpunkt angeht, habe der Sachverständige sich letztlich so positioniert, dass eine operative Korrektur zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen solle. Dennoch sei die Genehmigung jedenfalls derzeit zu verweigern. Denn die Eltern böten nicht die Gewähr dafür, dass sie die nach einer solchen Operation erforderliche Nachsorge und Betreuung des Kindes hinreichend gewissenhaft leisten würden. Sie hätten sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr als unfähig erwiesen, die Auflagen aus dem Beschluss aus Juni 2023 zu erfüllen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen (GA 150 ff.).
20
Gegen diese Entscheidung wenden sich die Kindeseltern mit ihrer Beschwerde.
21
Sie verweisen auf die vom Sachverständigen bestätigte medizinische Indikation. Die Annahme des Amtsgerichts, eine vermeintliche Unzuverlässigkeit der Eltern schließe eine Genehmigung aus, trage aber nicht.
22
Wegen der Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf den Schriftsatz vom 16.05.2024 (GA 209 ff.) verwiesen.
23
II.
24
Die gemäß § 58 Abs. 1 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Abänderung der amtsgerichtlichen Entscheidung und zur Erteilung der familiengerichtlichen Genehmigung in die beabsichtigte Operation.
25
Der beabsichtigte Eingriff zur operativen Korrektur des vermännlichten („virilisierten“) äußeren Geschlechtsteils von A. ist gemäß § 1631e Abs. 2 und 3 BGB genehmigungsfähig und ‒bedürftig (unten 1.). Die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung liegen vor (unten 2.).
26
1.
27
Die Eltern können nach Maßgabe von § 1631 Abs. 1 und 2 BGB in die beabsichtigte Operation einwilligen, bedürfen dafür aber gemäß Abs. 3 dieser Vorschrift der Genehmigung des Familiengerichts.
28
a)
29
Bei A. handelt es sich im Sinne von § 1631e Abs. 2 BGB um ein Kind mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung.
30
Dieses Tatbestandsmerkmal stellt eine Sammelbezeichnung dar, die verschiedene Erscheinungsformen und ärztliche Diagnosen umfasst (Huber, im: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2024, § 1631e Rn. 5). Der Gesetzgeber ging davon aus, dass eine solche Variante vorliegt, wenn „bei dem Kind eine Inkongruenz bezüglich der geschlechtlichen Einordnung des chromosomalen, gonadalen, hormonellen oder genitalen Status“ vorliegt ‒ letztlich also, wenn eine eindeutige Einstufung in männlich oder weiblich nicht möglich ist (Huber, a.a.O.).
31
Das ist hier der Fall. Unstreitig handelt es sich bei A. um ein Mädchen, dessen primäres Geschlechtsteil wegen der hormonellen Störung an dasjenige eines Jungen angenähert ist.
32
b)
33
Es geht zudem um einen operativen Eingriff an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen im Sinne von § 1631e Abs. 2 BGB. Die beabsichtigte Operation soll gerade das äußere Genital von A., das „vermännlicht“ ist, operativ korrigieren.
34
c)
35
A. ist nicht fähig, selbst in die Operation einzuwilligen.
36
Ab wann genau die Einwilligungsfähigkeit vorliegt, lässt sich nicht abstrakt bestimmen. Neben dem Alter spielen auch die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des konkreten Kindes eine Rolle. Auf die Einzelheiten hierzu kommt es aber vorliegend nicht an. Denn dass A. mit gerade einmal drei Jahren nicht in der Lage ist, in einen Eingriff der hier in Rede stehenden Art einzuwilligen, bedarf keiner näheren Begründung.
37
d)
38
Eine Einwilligung der Eltern ist vorliegend weder gemäß § 1631e Abs. 1 BGB noch gemäß § 1631e Abs. 2 S. 1 BGB ausgeschlossen.
39
aa)
40
§ 1631e Abs. 1 BGB steht der elterlichen Einwilligung nicht entgegen.
41
Nach dieser Vorschrift umfasst die Personensorge der Kindeseltern nicht das Recht, in eine Behandlung einzuwilligen, die allein in der Absicht erfolgt, das Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzugleichen, ohne dass ein anderer Grund vorliegt.
42
Um einen solchen Fall geht es hier aber nicht.
43
Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass die Angleichung medizinisch indiziert ist unabhängig davon, dass die Beteiligten jedenfalls zunächst unterschiedlicher Auffassung darüber waren, ob sie in zeitlicher Hinsicht noch aufgeschoben werden kann. Der Sachverständige hat für den Senat nachvollziehbar und in jeder Hinsicht überzeugend ausgeführt, dass aufgrund des Fehlens eines vaginalen Ausgangs und der damit verbundenen Notwendigkeit, Körperflüssigkeiten über den engen Harnleiter abzuleiten, die normalerweise aus der Scheide fließen können, für A. schon gegenwärtig eine Gesundheitsgefahr besteht. Denn es könne durch einen möglichen Rückstau von Sekreten, die durch den dünnen Harnleiter nicht abfließen können, ohne Weiteres beispielsweise zu Blasenentzündungen kommen. Spätestens mit Einsetzen der Menstruation sind gravierende körperliche Nachteile zu befürchten, weil wiederum die entsprechenden Körperflüssigkeiten nicht abfließen können. Deshalb besteht, was auch das Amtsgericht erkannt hat, keinerlei Zweifel an der medizinischen Indikation der beabsichtigten Operation.
44
Um eine Behandlung, die im Sinne von § 1631e Abs. 1 BGB allein in der Absicht erfolgen würde, das körperliche Erscheinungsbild von A. an das weibliche Geschlecht anzugleichen, handelt es sich damit ersichtlich nicht.
45
bb)
46
Auch § 1631e Abs. 2 BGB schließt die Einwilligung der Eltern in die beabsichtigte Operation nicht aus.
47
Der Eingriff kann nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung von A. hinausgeschoben werden.
48
Insofern kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Unabhängig von der Frage, wann genau A. die Reife zur eigenen Beurteilung erlangt haben wird, wird dies angesichts ihres Alters von gegenwärtig gerade einmal drei Jahren noch etliche Jahre dauern. Wegen der schon derzeit bestehenden Gefahr des Auftretens von Entzündungen kann mit dem Eingriff nicht für einen derart langen Zeitraum abgewartet werden. Ein solches Zuwarten würde bedeuten, A. für mehrere Jahre gesundheitlichen Gefahren auszusetzen.
49
Im Übrigen hat der Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt, dass auch psychische Aspekte dafür sprechen, den Eingriff so früh wie möglich durchzuführen. Nicht nur wird A. in absehbarer Zeit beginnen, sich für das eigene Geschlecht und überhaupt für die beiderseitigen körperlichen geschlechtlichen Merkmale zu interessieren, und dann die eigene „Andersartigkeit“ bewusster wahrnehmen und darunter womöglich stärker zu leiden beginnen. Überzeugend waren für den Senat vielmehr auch die daran anknüpfenden Ausführungen des Sachverständigen, wonach sich gezeigt habe, dass die psychische Verarbeitung des in Rede stehenden Eingriffs für Kinder umso besser gelingt, je jünger sie sind und je weniger Bedeutung sie dem beimessen.
50
e)
51
Für die danach mögliche Einwilligung der Eltern benötigen diese gemäß § 1631e Abs. 3 BGB die Genehmigung des Familiengerichts.
52
Eine solche familiengerichtliche Genehmigung wäre nur ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn der operative Eingriff zur Abwendung einer Gefahr für Leben oder Gesundheit des Kindes erforderlich wäre und nicht bis zur Erteilung der Genehmigung aufgeschoben werden könnte.
53
Diese Voraussetzungen sind hier ersichtlich nicht erfüllt.
54
Auch wenn der Eingriff dem Sachverständigen zufolge „so früh wie möglich“ erfolgen sollte und auch wenn schon derzeit die Gefahr etwa des Auftretens von Blasenentzündungen besteht, begründet ein Zuwarten bis zur Entscheidung über die Genehmigung derzeit noch keine konkrete Gefahr für die Gesundheit des Kindes, die derart akut wäre, dass die Operation zwingend noch vor einer Entscheidung des Familiengerichts durchgeführt werden müsste.
55
2.
56
Die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung liegen ‒ abweichend von der Entscheidung des Amtsgerichts ‒ hier vor.
57
Der geplante Eingriff entspricht im Sinne von § 1631e Abs. 3 S. 2 BGB dem Wohl des Kindes am besten.
58
a)
59
Da vorliegend eine befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission fehlt und damit eine entsprechende Vermutung nach § 1631e Abs. 3 S. 3 BGB nicht besteht, ist die Prüfung der Kindeswohldienlichkeit nach einer umfassenden Interessenabwägung vorzunehmen. In diese sind insbesondere einzubeziehen die Auswirkungen des geplanten Eingriffs, die Frage des Vorhandenseins möglicher alternativer Eingriffe und Behandlungen, die Reichweite der Veränderungen am Körper des Kindes, die Frage der künftigen Reversibilität sowie die Erforderlichkeit einer dauerhaften Nachbehandlung (Huber, a.a.O., § 1631e Rn. 27).
60
b)
61
Eine umfassende Interessenabwägung nach diesen Kriterien führt vorliegend zu dem Ergebnis, dass die Genehmigung der Operation dem Wohl von A. am besten entspricht.
62
Nach der Gesetzesbegründung zu § 1631e BGB können gemäß dieser Vorschrift unter anderem auch solche Eingriffe genehmigt werden, die „zur Heilung oder Beseitigung einer Funktionsstörung […] erforderlich sind, ohne dass eine konkrete Gesundheitsgefahr vorliegt“ (BT-Drs. 19/24686, S. 29). Erst Recht muss dann die Genehmigung erteilt werden können, wenn es wie hier um eine konkrete Funktionsstörung geht, die bereits zu Gesundheitsgefahren führt.
63
aa)
64
Gesundheitliche Aspekte sprechen, was auch keiner der Verfahrensbeteiligten in Abrede stellt und was auch das Amtsgericht zutreffend erkannt hat, eindeutig für eine möglichst frühzeitige operative Versorgung von A..
65
Die Veränderungen an ihrem Genital sind ohne eine solche Operation dauerhaft und endgültig. Auch wenn die notwendige lebenslange Behandlung mit Medikamenten durchgängig erfolgt, werden sich die Veränderungen am Genital von A. nicht von allein zurückbilden. Sie sind vielmehr, wie der Sachverständige auch noch einmal bei seiner Anhörung durch den Senat bekräftigt hat, abgeschlossen. Eben wegen dieser Dauerhaftigkeit besteht eindeutig eine medizinische Indikation, die Operation durchzuführen, weil ‒ wie ausgeführt ‒ bereits gegenwärtig Gesundheitsgefahren für A. bestehen und sich diese spätestens mit Einsetzen der Menstruation massiv verstärken werden. Insofern kann es ‒ wie auch die übrigen Verfahrensbeteiligten und das Amtsgericht gar nicht in Abrede stellen ‒ ohnehin nicht um das „Ob“ der geplanten Operation gehen, sondern nur um das „Wann“.
66
bb)
67
Der Umstand, dass sich die Eltern bislang nicht durch eine anerkannte Beratungsstelle oder einen Beratungsdienst der Träger der Kinder- und Jugendhilfe beraten lassen haben, rechtfertigt die Versagung der Genehmigung nicht.
68
Es trifft zwar zu, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 1631e BGB der umfassenden Beratung und Aufklärung (auch) der Eltern eine große Bedeutung beigemessen hat. Das betrifft aber vor allem die Frage, ob überhaupt ein bestimmter Eingriff vorgenommen werden soll. Bei der Vielzahl möglicher Sachverhaltskonstellationen, die eine Operation am Genital erforderlich oder zweckmäßig erscheinen lassen können, ist stets im Einzelfall zu prüfen, welches Gewicht einer Aufklärung der Eltern zukommt. Je weniger gewichtig die konkrete medizinische Indikation ist, umso mehr Gewicht hat eine umfassende Aufklärung der Eltern, damit diese vollständig informiert zum Wohle des Kindes entscheiden können, ob eine Operation durchgeführt werden soll oder nicht. Das gilt aber auch umgekehrt. Je stärker eine Operation medizinisch indiziert ist, umso weniger kann es für deren Genehmigung darauf ankommen, ob die Eltern sich über alle Facetten der Varianten der Geschlechtsentwicklung haben informieren lassen. Hier ist wie ausgeführt eine Operation aus medizinischen Gründen ohnehin letztlich unausweichlich. Spätestens mit Einsetzen der Pubertät müsste sie zwingend durchgeführt werden, um gravierende gesundheitliche Schäden von A. abzuwenden. Wenn darüber hinaus ‒ wie es auch hier der Fall ist ‒ gewichtige Gründe dafür sprechen, die ‒ unausweichliche ‒ Operation zeitnah durchzuführen, geht es nicht an, A. diese Behandlungsmaßnahme nur deshalb zu versagen, weil die Beratung der Eltern nicht in einer bestimmten Einrichtung stattgefunden hat. Ohnehin bleibt das Amtsgericht eine Erklärung schuldig, welche Bedenken es konkret im Hinblick auf die Aufklärung der Eltern hat.
69
cc)
70
Schließlich stellt auch die vom Jugendamt und der Verfahrensbeiständin angeführte vermeintliche Unzuverlässigkeit der Eltern und daraus resultierende Bedenken, ob sie die Nachsorge nach einer Operation zuverlässig leisten werden, keinen Grund dar, die Erteilung der Genehmigung zu versagen.
71
Erstens bestehen schon erhebliche Zweifel, ob eine solche Unzuverlässigkeit hier überhaupt (noch) gegeben ist. Sämtliche zur Akte gelangten ärztlichen Berichte belegen, dass jedenfalls ab Anfang 2022 offenbar die durchgängige medikamentöse Versorgung der Kinder durch die Eltern erfolgt. Einziger Hinweis auf eine mögliche Nachlässigkeit der Eltern ist der Umstand, dass ausweislich des Berichts des Klinikums Z. vom 22.01.2024 seinerzeit die erste Vorstellung nach 10 Monaten erfolgte und ein (!) zwischenzeitlich angesetzter Termin durch die Eltern versäumt worden sei. Das ändert aber nichts daran, dass auch in jenem Bericht gute Laborwerte von A. bescheinigt werden und die Klinik eine „unveränderte Fortführung“ der Therapie empfiehlt.
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Zweitens ‒ und insoweit liegt in der fehlenden Aufklärung des Sachverhaltes durch das Amtsgericht ein deutlicher Mangel der erstinstanzlichen Entscheidung ‒ hat die Anhörung des Sachverständigen P. durch den Senat ergeben, dass eine spezielle Nachsorge gerade wegen der Operation überhaupt nicht erforderlich ist. Vielmehr, so der Sachverständige überzeugend, müsse A. zwar dauerhaft medikamentös versorgt werden, was aber völlig unabhängig von der Frage der Operation zur Aufrechterhaltung des hormonellen Gleichgewichts erforderlich sei. Die Operation selbst wiederum bedinge, von der üblichen Kontrolle der Wundheilung abgesehen, keinerlei spezifische Nachsorge. Ob aus der seit Anfang 2022 einmaligen Versäumung eines Termins in der Klink Z., für den noch dazu der Grund nicht aufgeklärt worden ist, darauf geschlossen werden kann, die Kindeseltern würden die gewöhnliche Wundheilungs-Nachsorge nach einer Operation nicht zuverlässig gewährleisten, erscheint dem Senat überaus zweifelhaft.
73
Letztlich kommt es darauf aber nicht einmal an.
74
Denn ohnehin würde eine mögliche Unzuverlässigkeit der Eltern, die gewöhnliche Wundheilung zu begleiten, selbst wenn man sie annehmen wollte, keinen Grund dafür darstellen, A. den weitaus größeren gesundheitlichen Gefahren auszusetzen, die durch eine Verweigerung der Operation entstehen.
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Auf etwaige Probleme der Kindeseltern, die (allgemeine und nach jeglichen Operationen übliche) Nachsorge zu leisten, könnte mit (ambulanten Unterstützungs- oder notfalls in das Sorgerecht eingreifenden) Maßnahmen gegen die Eltern reagiert werden.
76
Das Vorstehende gilt hier umso mehr, als die Eltern im Senatstermin durch ihre Erklärungen über die Entbindung der beteiligten Ärzte von der Schweigepflicht die Gewähr dafür geboten haben, dass das Jugendamt nicht nur zuverlässig von der anstehenden Operation Kenntnis erlangen wird, sondern dann auch im Nachgang der Operation engmaschig kontrollieren kann, ob die (gewöhnliche Operations-)Nachsorge durch die Eltern zuverlässig wahrgenommen wird. Der Senat ist aber zuversichtlich, dass ein Eingreifen des Jugendamtes ohnehin nicht erforderlich werden wird.
77
III.
78
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1 S. 1 und 2 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes hat ihre Grundlage in § 45 Abs. 1 Nr. 5 FamGKG.
79
Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, da die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 70 Abs. 2 FamFG). Zwar mag die Frage, ob und wann bei einer Erkrankung in Form des androgenitalen Syndroms eine familiengerichtliche Genehmigung nach § 1631e BGB zu erteilen ist, sich auch in anderen Fällen in ähnlicher Weise stellen. Das allein bedeutet aber nicht, dass die Sache grundsätzliche Bedeutung hätte. Dazu müsste hinzukommen, dass die Frage auch klärungsbedürftig in der Weise ist, dass zu ihr unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Die Maßstäbe, anhand derer die Erteilung der Genehmigung zu prüfen ist, sind aber geklärt. Alles andere ist ohnehin eine Frage des Kindeswohls im Einzelfall.