02.03.2023 · IWW-Abrufnummer 234009
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 18.01.2023 – VII ZB 35/20
§ 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags die laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners gegenüber den dem Gläubiger vorgehenden oder gleichstehenden Unterhaltsberechtigten nur in dem Umfang zu berücksichtigen sind, in dem der Schuldner seine gesetzlichen Unterhaltspflichten den weiteren Unterhaltsberechtigten gegenüber erfüllt oder in dem er von den weiteren Unterhaltsberechtigten im Wege der Zwangsvollstreckung in Anspruch genommen wird (Aufgabe von BGH, Beschluss vom 5. August 2010 - VII ZB 101/09 , MDR 2010, 1214).
Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. Januar 2023 durch den Vorsitzenden Richter Pamp, die Richter Dr. Kartzke und Prof. Dr. Jurgeleit sowie die Richterinnen Graßnack und Sacher
beschlossen:
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde des Schuldners gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 8. Oktober 2020 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Gründe
I.
1
Der Gläubiger betreibt wegen seiner Unterhaltsansprüche gegen den Schuldner, seinen Vater, die Zwangsvollstreckung aus der Urkunde des Kreisjugendamts M. vom 10. August 2015 (Urk. ). Die mit der Urkunde titulierten Forderungen umfassen einen - inzwischen unstreitig beglichenen - Unterhaltsrückstand von 638 € sowie laufenden Unterhalt für die Zeit vom 1. März 2020 bis 30. September 2020 in Höhe von 100 % des Mindestunterhalts der ersten Altersstufe abzüglich hälftigen Kindergeldes für ein erstes oder zweites Kind, zur Zeit der Titulierung 267 € monatlich, und für die Zeit vom 1. Oktober 2020 bis 30. September 2026 in Höhe von 100 % des Mindestunterhalts der zweiten Altersstufe abzüglich hälftigen Kindergeldes für ein erstes oder zweites Kind, zur Zeit der Titulierung 322 € monatlich.
2
Der Schuldner ist ferner seinem weiteren Kind E. kraft Gesetzes zum Unterhalt verpflichtet, und zwar nach dem unbeanstandet gebliebenen Vortrag des Schuldners in Höhe von 322 € monatlich. Für dieses Kind zahlt er unstreitig einen Unterhaltsbetrag in Höhe von 117 € monatlich an das Jugendamt und einen weiteren Unterhaltsbetrag in Höhe von 131,34 € monatlich an die Mutter des Kindes (insgesamt 248,34 €).
3
In dem am 11. Februar 2020 erlassenen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss hat das Amtsgericht - Vollstreckungsgericht - festgesetzt, dass dem Schuldner für seinen eigenen notwendigen Unterhalt ein Betrag von 960,13 € pfandfrei zu belassen sei. Im Hinblick auf den tatsächlich geleisteten Unterhalt in Höhe von 117 € monatlich für das weitere unterhaltsberechtigte Kind hat es ferner festgesetzt, dass ihm darüber hinaus bis zu einem Betrag von 1.194,13 € (960,13 € + 2 x 117 €) weitere 50 % zu belassen seien.
4
Mit Beschluss vom 15. Mai 2020 hat das Amtsgericht - Vollstreckungsgericht - die hiergegen gerichtete Vollstreckungserinnerung des Schuldners zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen diesen Beschluss hat das Beschwerdegericht den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss dahingehend abgeändert, dass es den dem Schuldner verbleibenden pfandfreien Betrag zur Erfüllung seiner laufenden gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind E. auf monatlich 248,34 € heraufgesetzt hat. Es hat insoweit die weitere Unterhaltspflicht des Schuldners nicht in der sich aus dem Gesetz ergebenden Höhe, sondern nur in Höhe des tatsächlich geleisteten - geringeren - Unterhalts für dieses Kind anerkannt. Im Übrigen ist die sofortige Beschwerde ohne Erfolg geblieben.
5
Das Beschwerdegericht hat die Rechtsbeschwerde zugelassen. Es hat hierzu in den Gründen der Entscheidung ausgeführt, dass die Zulassung wegen Grundsatzbedeutung und zur Fortbildung des Rechts erforderlich sei im Hinblick auf die entscheidungserhebliche Frage, ob die Unterhaltszahlungen bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags nach § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO nur in Höhe der tatsächlichen Unterhaltszahlungen oder in Höhe des gesetzlichen Anspruchs zu berücksichtigen seien.
6
Der Schuldner begehrt mit der Rechtsbeschwerde, den ihm verbleibenden pfandfreien Betrag zur Erfüllung seiner laufenden gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind E. von 248,34 € auf die Höhe der gesetzlichen Unterhaltspflicht heraufzusetzen.
II.
7
Das Beschwerdegericht hat die Rechtsbeschwerde nur beschränkt zugelassen. Zwar ist die Zulassung im Tenor der angefochtenen Entscheidung ohne Beschränkung ausgesprochen. Wie bei der Revision kann aber auch bei der Rechtsbeschwerde die Beschränkung der Zulassung in den Gründen der Entscheidung erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2010 - VII ZB 101/09 Rn. 5, MDR 2010, 1214 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier vor. Aus den Gründen der Entscheidung geht mit ausreichender Klarheit hervor, dass die Zulassung der Rechtsbeschwerde nur im Hinblick auf die Frage, ob im Rahmen von § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO der gesetzliche Umfang der Unterhaltspflicht oder der tatsächlich geleistete Betrag maßgeblich ist, erfolgt ist. Das Beschwerdegericht hat damit die Zulassung der Rechtsbeschwerde auf diesen Teil des Streitstoffs beschränkt. Die Beschränkung ist wirksam; sie bezieht sich auf einen tatsächlich und rechtlich selbständigen abtrennbaren Teil des Gesamtstreitstoffs (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2010 - VII ZB 101/09 Rn. 6, MDR 2010, 1214).
III.
8
Die im Umfang der Zulassung eingelegte zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
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1. Das Beschwerdegericht hat, soweit für die Rechtsbeschwerde von Bedeutung, Folgendes ausgeführt:
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Die sofortige Beschwerde sei unbegründet, soweit der Schuldner begehre, bei der Bestimmung des ihm pfandfrei zu belassenden Betrags den gesetzlichen Unterhaltsanspruch des Kindes E. in Höhe von 322 € zu berücksichtigen. Sie habe nur insoweit Erfolg, als das Amtsgericht den an das Kind E. tatsächlich geleisteten - geringeren - Unterhalt in Höhe von insgesamt 248,34 € nicht in vollem Umfang berücksichtigt habe.
11
In Rechtsprechung und Literatur sei streitig, ob Unterhaltszahlungen bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags nach § 850d Abs. 1 ZPO nur in Höhe der tatsächlichen Unterhaltszahlungen oder in Höhe des gesetzlichen Anspruchs zu berücksichtigen seien. Zwar habe der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 5. August 2010 (VII ZB 101/09 , MDR 2010, 1214) auf die Höhe des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs abgestellt, dies in einer nachfolgenden Entscheidung ( BGH, Beschluss vom 17. September 2014 - VII ZB 22/13 , Rn. 17 NZFam 2015, 23) jedoch wieder in Zweifel gezogen. Zutreffend sei die Auffassung, dass allein der tatsächlich geleistete - geringere - Unterhalt maßgeblich sei. Dies sei zur effektiven Durchsetzung eines vollstreckungsfähigen Titels und zum Schutz der Gläubigerinteressen geboten. Eine Benachteiligung der gegenüber dem vollstreckenden Unterhaltsgläubiger vorrangigen oder gleichstehenden Unterhaltsberechtigten liege insoweit nicht vor. Insbesondere werde ihnen nicht die Möglichkeit genommen, ihren Unterhaltsanspruch in größtmöglichen Umfang realisieren zu können. Sowohl die weiteren Unterhaltsberechtigten als auch der Schuldner könnten jederzeit eine Änderung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses gemäß § 850g ZPO erwirken. Dementsprechend könnten beide erreichen, dass der auf den tatsächlich geleisteten Unterhalt begrenzte Freibetrag erhöht werde, wenn der Schuldner mehr zu zahlen bereit sei oder der Unterhaltsberechtigte nach § 7 Abs. 3 Satz 2 UVG Unterhalt verlange. Diese Handhabung sei auch praxisgerecht.
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2. Das hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
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a) Betreibt der Gläubiger gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung wegen Unterhaltsansprüchen im Sinne des § 850d ZPO , ist dem Schuldner gemäß § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO so viel zu belassen, als er für seinen notwendigen Unterhalt und zur Erfüllung seiner laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten gegenüber den dem Gläubiger vorgehenden Berechtigten oder zur gleichmäßigen Befriedigung der dem Gläubiger gleichstehenden Berechtigten bedarf.
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§ 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags die laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners gegenüber den dem Gläubiger vorgehenden oder gleichstehenden Unterhaltsberechtigten nur in dem Umfang zu berücksichtigen sind, in dem der Schuldner seine gesetzlichen Unterhaltspflichten den weiteren Unterhaltsberechtigten gegenüber erfüllt oder in dem er von den weiteren Unterhaltsberechtigten im Wege der Zwangsvollstreckung in Anspruch genommen wird.
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An der mit Beschluss vom 5. August 2010 (VII ZB 101/09 , MDR 2010, 1214) vertretenen gegenteiligen Auffassung, wonach die gesetzlichen Unterhaltspflichten gegenüber den weiteren Unterhaltsberechtigten bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags auch dann in vollem Umfang zu berücksichtigen sind, wenn der Schuldner ihnen nur teilweise nachkommt, hält der Senat aus nachfolgenden Gründen nicht fest.
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Der Wortlaut des § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist insoweit nicht eindeutig. Er kann zwar dahin verstanden werden, dass auf den Betrag abzustellen ist, der zur Erfüllung der laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten potentiell erforderlich wäre. Es kommt jedoch auch ein Verständnis in Betracht, wonach ein Bedarf des Schuldners zur Erfüllung der laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten nur in dem Umfang anzunehmen ist, in dem er tatsächlich - sei es freiwillig oder im Wege der Zwangsvollstreckung - leistet (vgl. LG Leipzig, Beschluss vom 22. April 2020 - 3 T 669/19, NZFam 2020, 536, juris Rn. 36; Völzmann-Stickelbrock, LMK 2010, 310072).
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Nach Sinn und Zweck des Gesetzes ist indes die letztgenannte Auslegung des § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO zutreffend.
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Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Interessen der Unterhaltsgläubiger im Vollstreckungsrecht einen hohen Schutz genießen. Dies kommt in § 850d Abs. 1 ZPO zum Ausdruck, der die dort bezeichneten Unterhaltsgläubiger vollstreckungsrechtlich privilegiert. So ist das Einkommen des Schuldners gemäß § 850d Abs. 1 Satz 1 ZPO ohne die Beschränkungen des § 850c ZPO pfändbar und gemäß § 850d Abs. 1 Satz 2 Fall 1 ZPO ist dem Schuldner für den eigenen Bedarf ein Betrag nur insoweit pfandfrei zu belassen, als es sich um notwendigen Unterhalt handelt.
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§ 850d Abs. 1 Satz 2 Fall 2 ZPO regelt dagegen die Frage, wie der pfandfreie Betrag zu bestimmen ist, wenn der Schuldner neben dem vollstreckenden Unterhaltsgläubiger auch weiteren Unterhaltsberechtigten zum Unterhalt verpflichtet ist. Zweck dieser Regelung ist es, sicherzustellen, dass die dem vollstreckenden Unterhaltsgläubiger vorrangigen oder gleichstehenden Unterhaltsberechtigten durch die Vollstreckung nicht benachteiligt werden. Diese weiteren Unterhaltsberechtigten sollen durch die Berücksichtigung der ihnen gegenüber bestehenden gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags ihre Unterhaltsansprüche in größtmöglichem Umfang gegenüber dem Schuldner realisieren können (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2010 - VII ZB 101/09 Rn. 15, MDR 2010, 1214). Dieser Zweck erfordert es indes nicht, bei der Bestimmung des pfandfreien Betrags auf den Betrag abzustellen, der zur Erfüllung der laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten potentiell erforderlich wäre.
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Solange der Schuldner seinen laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten gegenüber den weiteren Unterhaltsberechtigten nur teilweise - freiwillig oder im Wege der Zwangsvollstreckung - nachkommt, werden diese durch die Vollstreckung des Unterhaltsgläubigers nicht benachteiligt. Ihnen wird, wie das Beschwerdegericht zu Recht ausführt, insbesondere auch nicht die Möglichkeit genommen, ihre Unterhaltsansprüche in größtmöglichem Umfang gegenüber dem Schuldner zu realisieren. Sie können vielmehr eine Erhöhung des pfandfreien Betrags dadurch erreichen, dass sie ihrerseits wegen ihres (teilweise) nicht erfüllten Unterhaltsanspruchs Vollstreckungsantrag stellen und gemäß § 850g Satz 2 ZPO eine Änderung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses erwirken (vgl. LG Leipzig, Beschluss vom 22. April 2020 - 3 T 669/19, NZFam 2020, 536, juris Rn. 39; Benner, NZFam 2019, 845). Auch die Möglichkeit, dass der Schuldner künftig durch freiwillige Leistungen seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber den weiteren Unterhaltsberechtigten in größerem Umfang nachkommen könnte, wird hierdurch nicht ausgeschlossen. Der Schuldner, der dies beabsichtigt, kann ebenfalls gemäß § 850g Satz 1 ZPO eine Änderung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses erwirken. Dem praktischen Problem, dass ihm vor einer Erhöhung des pfandfreien Betrags noch keine Mittel zur Verfügung stehen, um seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht in größerem Umfang nachzukommen, kann gegebenenfalls durch eine befristete Erhöhung Rechnung getragen werden (vgl. dazu Benner, NZFam 2019, 845).
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Würde man dagegen dem Schuldner - unabhängig davon, in welchem Umfang er seinen Unterhaltspflichten freiwillig oder im Wege der Zwangsvollstreckung nachkommt - stets den pfandfreien Betrag in Höhe der laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten belassen, wäre gerade nicht sichergestellt, dass dieser Betrag den weiteren Unterhaltsberechtigten zufließt (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2014 - VII ZB 22/13 Rn. 16, NZFam 2015, 23). Hat der Schuldner bislang seine Unterhaltspflichten nicht oder nicht in vollem Umfang erfüllt, liegt vielmehr die Prognose nahe, dass der pfandfreie Betrag nicht zur Erfüllung der laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten verwendet wird, sondern ganz oder teilweise bei ihm verbleibt. In diesem Fall läge allein eine Benachteiligung des vollstreckenden Unterhaltsgläubigers zum Vorteil des Schuldners vor, ohne dass den weiteren Unterhaltsberechtigten hiermit gedient wäre (vgl. LG Leipzig, Beschluss vom 22. April 2020 - 3 T 669/19, NZFam 2020, 536, juris Rn. 40; Völzmann-Stickelbrock, LMK 2010, 310072). Ein solches Ergebnis würde indes dem im Vollstreckungsrecht bezweckten Schutz der Unterhaltsgläubiger zuwiderlaufen und wäre mit deren in § 850d ZPO vorgesehenen Privilegierung nicht zu vereinbaren.
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b) Danach hat das Beschwerdegericht den pfandfreien Betrag in Bezug auf die laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners gegenüber dem Kind E. mit 248,34 € zutreffend bestimmt. Denn nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts zahlt der Schuldner insgesamt einen Unterhaltsbetrag in dieser Höhe, nämlich 117 € monatlich an das Jugendamt und 131,34 € monatlich an die Mutter des Kindes.
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Soweit sich die Rechtsbeschwerde dagegen wendet, dass das Beschwerdegericht für die Bestimmung des pfandfreien Betrags auf den bislang im Jahresdurchschnitt geleisteten monatlichen Unterhalt abgestellt hat, bleibt dies ohne Erfolg. Bei nicht regelmäßigen Unterhaltszahlungen ist dies vielmehr als praxisgerecht nicht zu beanstanden.
IV.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO .
Pamp
Kartzke
Jurgeleit
Graßnack
Sacher