31.01.2025 · IWW-Abrufnummer 246141
Oberlandesgericht Frankfurt a. M.: Beschluss vom 06.01.2025 – 6 UF 239/24
1. Das elterliche Sorgerecht steht nicht zur Disposition der Eltern und eine erteilte Zustimmung der Eltern zum Entzug des Sorgerechts und der Bestellung eines Vormunds entbindet das Familiengericht weder von der amtswegigen Aufklärung der Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB noch von der Begründung seiner Entscheidung.
2. Auch die unterbliebene Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von einem gerade erst geborenen Kleinkind nach § 159 Abs. 2 S. 2 und 3 FamFG stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG dar und kann jedenfalls bei weiteren Verfahrensverstößen, wie der nicht hinreichenden Aufklärung des Sachverhalts und der Voraussetzungen von § 161 Abs. 2 FamFG sowie der fehlenden Begründung der Entscheidung (§ 38 Abs. 3 S. 1 FamFG), zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Erstgericht führen.
Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000,00 Euro festgesetzt.
Der Kindesmutter wird ratenfreie Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Z, Stadt1, bewilligt.
Die Beteiligten zu 4. (im Folgenden Kindesmutter) und zu 5. (im Folgenden Kindesvater) sind die Eltern des betroffenen Kindes. Beide Eltern haben einen gesetzlichen Betreuer. Die für die Kindesmutter angeordnete Betreuung wurde zuletzt durch Beschluss des Amtsgerichts Stadt2 vom 04.11.2024 bis 15.10.2027 verlängert. Der Einwilligungsvorbehalt für die Vermögenssorge wurde ebenfalls verlängert. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfasst die Sorge für die Gesundheit, die Vermögenssorge, die Regelung behördlicher Angelegenheiten, insbesondere die Vertretung gegenüber Sozialleistungsträgern, Wohnungsangelegenheiten, die Vertretung gegenüber der Krankenkasse W und Versicherungen sowie die Entgegennahme, das Öffnen und Anhalten der Post im Bereich der sonstigen Aufgaben. Im Betreuungsgutachten wurden die Diagnosen „Leichtgradige Intelligenzminderung, V. a. Anpassungsstörung mit Angst und Panikattacken und reaktive Bindungsstörung des Kindesalters“ gestellt. Die Kindeseltern haben sich zwischenzeitlich endgültig getrennt. Die Kindesmutter wohnt noch bei der Stiefmutter des Kindesvaters in Stadt2. Der Kindesvater hat eine neue Partnerin und ist zwischenzeitlich von Stadt3 nach Stadt4 umgezogen. In der Vergangenheit sind die Kindeseltern gemeinsam bzw. alleine mehrmals umgezogen. Der Kindesmutter drohte zeitweise die Obdachlosigkeit.
Das betroffene Kind und ihr am XX.XX.2023 geborener Bruder Y sind aus der nichtehelichen Beziehung der Kindeseltern hervorgegangen. Der Kindesvater hat die Vaterschaft für beide Kinder anerkannt. Für das Kind Y hatte er eine Sorgeerklärung abgegeben, für das betroffene Kind X nicht. Das Sorgerecht für Y wurde den Kindeseltern durch Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Stadt5 vom 24.11.2023 in dem Verfahren … gemäß §§ 1666, 1666a BGB entzogen und ein Amtsvormund bestellt. Ihre hiergegen eingelegte Beschwerde, die beim Senat unter dem Aktenzeichen … geführt wurde, hat die Kindesmutter vor der mündlichen Verhandlung zurückgenommen. Y lebt in einer Dauerpflegestelle. Die zuletzt monatlich vorgesehenen begleiteten Umgänge wurden von der Kindesmutter nur einmal wahrgenommen.
Nachdem die Kindesmutter keine der von dem Jugendamt für notwendig gehaltenen Maßnahmen umgesetzt hatte und im Vorfeld der Geburt Xs für das Jugendamt vorübergehend nicht mehr erreichbar war, wurde das betroffene Kind nach der Geburt in der Klinik in Stadt6 zunächst mit Zustimmung der Kindesmutter von dem Jugendamt in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. Am 30.09.2024 widerrief die Kindesmutter ihre Zustimmung. Am 09.10.2024 beantragte das Jugendamt beim Familiengericht den Entzug der elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung. Auf das Schreiben des Jugendamts vom 09.10.2024 wird wegen der Einzelheiten verwiesen.
Der Kindesmutter wurde durch Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Stadt2 vom 14.10.2024 (Az. …) im Wege einstweiliger Anordnung das Sorgerecht vorläufig gemäß §§ 1666, 1666a BGB entzogen und dem Jugendamt des Kreises A als Amtsvormund übertragen. Der Aufenthaltsort beider Eltern war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht der Beteiligten zu 4. nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Anhörung der Kindeseltern, des Verfahrensbeistands und des Jugendamts entsprechend der Empfehlung des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin das Sorgerecht für das betroffene Kind im Hauptsacheverfahren entzogen und die elterliche Sorge auf das Jugendamt des Kreises A als Amtsvormund übertragen. Die Kindesmutter hatte zunächst die Aufnahme in eine Mutter-Kind-Einrichtung oder die Betreuung des Kindes bei der Stiefmutter des Kindesvaters mit Unterstützung durch eine Familienhilfe angestrebt, stimmte zuletzt aber, ebenso wie der Kindesvater, der Übertragung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt des Kreises A zu. Wegen des Ergebnisses der Erörterung und der Anhörung im Einzelnen wird auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 19.11.2024 Bezug genommen. Das Amtsgericht hat seine noch in der mündlichen Verhandlung erlassene Entscheidung auf §§ 1666, 1666a BGB gestützt. Alle Beteiligten hätten der Übertragung der gesamten elterlichen Sorge auf das Jugendamt zugestimmt.
Mit ihrer am 28.11.2024 eingegangenen Beschwerde gegen den ihr am 19.11.2024 zugestellten Beschluss teilt die Kindesmutter mit, dass sie mit dem Entzug der elterlichen Sorge nicht einverstanden sei und widerruft ihre Zustimmung.
Nach Hinweis des Senats auf die fehlende rechtsstaatlich gebotene und tragfähige Begründung des angefochtenen Beschlusses hat die Kindesmutter beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Verfahren an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Die Verfahrensbeiständin hat mitgeteilt, dass X zwischenzeitlich in einer Dauerpflegefamilie lebt und ein weiterer Bindungsabbruch vermieden werden sollte. Der Entzug der elterlichen Sorge sei weiterhin erforderlich. Auf die Stellungnahme der Verfahrensbeiständin vom 02.01.2024 wird Bezug genommen.
Das Jugendamt hat im Beschwerdeverfahren keine Stellungnahme abgegeben.
II.
Die gemäß §§ 58 ff. FamFG statthafte und auch sonst zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg und führt gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Familiengericht. Das erstinstanzliche Verfahren leidet an einem schweren Verfahrensmangel im Sinne von § 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG in Gestalt einer fehlenden rechtsstaatlich gebotenen und tragfähigen Begründung sowie einer fehlenden Kindesanhörung. Das Amtsgericht hat seine Entscheidung mit Zustimmung aller Beteiligter auf §§ 1666, 1666a BGB gestützt, ohne erkennbare Prüfung der Voraussetzungen dieser Vorschriften. Es hat sich zudem keinen unmittelbaren Eindruck von dem betroffenen Kind verschafft (§ 159 FamFG) und auch nicht begründet, weshalb es von der Anhörung des Kindes abgesehen hat.
Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG darf das Beschwerdegericht die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückverweisen, soweit das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und zur Entscheidung eine umfangreiche oder aufwändige Beweiserhebung notwendig wäre und ein Beteiligter die Zurückverweisung beantragt.
Das Verfahren des Amtsgerichts leidet an wesentlichen Mängeln.
Das Amtsgericht hat gegen die in § 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG geregelte Begründungspflicht verstoßen. Zwar ist der Beschluss auch wirksam, wenn er die gesetzlich vorgeschriebene Begründung nicht enthält. Die fehlende Begründung stellt aber einen groben Verfahrensfehler dar, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann (vgl. OLG Saarbrücken, BeckRS 2015, 9066; OLG Schleswig, Beschluss vom 29.05.2019 - 13 UF 13/19 -, BeckRS 2019, 18674). Dem Beschluss des Amtsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass es das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB geprüft hat. Allein die Zustimmung aller Beteiligter zur Sorgerechtsentziehung trägt die Entscheidung nicht. In einem Amtsverfahren findet auch § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG keine Anwendung, wonach es einer Begründung bei Stattgabe gleichgerichteter Anträge der Beteiligten nicht bedarf. Denn die Kindeseltern, das Jugendamt und der Verfahrensbeistand können im Rahmen eines Verfahrens wegen einer Kindeswohlgefährdung, in dem in Ausprägung des staatlichen Wächteramtes der Grundsatz der Amtsermittlung uneingeschränkt gilt, nicht über die elterliche Sorge disponieren (OLG Schleswig, a. a. O.). Beschlüsse, die einen erheblichen Eingriff in Grundrechte eines Beteiligten zur Folge haben, bedürfen einer eingehenden Begründung (BeckOK FamFG/Obermann, Stand: 01.12.2024, § 38 FamFG, Rn. 59). Die durch den vorliegenden Beschluss erfolgte Sorgerechtsentziehung nach §§ 1666, 1666a BGB stellt einen solchen erheblichen Grundrechtseingriff dar.
Darüber hinaus hat das Amtsgericht § 159 FamFG nicht beachtet. Es hat sich von dem betroffenen Kind X keinen unmittelbaren Eindruck verschafft. Auch wenn das Kind angesichts seines Alters gemäß § 159 Abs. 2 Nr. 2 FamFG offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Neigungen und seinen Willen kundzutun, ist das Gericht in Kinderschutzverfahren nach §§ 1666, 1666a BGB verpflichtet, sich von dem Kind einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (§ 159 Abs. 2 Satz 3 FamFG). Die zwingende Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Kind, von der nur aus schwerwiegendem Grund abgesehen werden kann, soll die Subjektstellung des Kindes in den besonders grundrechtsrelevanten Kinderschutzverfahren stärken. Sie entspricht zudem dem Gebot der umfassenden Amtsermittlung, da bei der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Körper oder Verhalten des Kindes auch bei Säuglingen oder Kleinstkindern ggf. Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung sichtbar werden können (BT-Drs. 19/23707, 58). Gründe für ein Absehen von der Verschaffung eines unmittelbaren Eindrucks hat das Amtsgericht in seiner Entscheidung entgegen § 159 Abs. 3 FamFG nicht dargelegt. Solche sind aus dem Akteninhalt auch nicht erkennbar. Bereits der Verstoß gegen die Begründungspflicht aus § 159 Abs. 3 FamFG stellt einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar (OLG Brandenburg, Beschluss vom 04.10.2021 - 9 UF 167/21 -, NJW 2022, 1397).
Die Sache ist auch noch nicht entscheidungsreif. Es ist noch eine umfangreiche Beweiserhebung notwendig. Insbesondere wird noch eine Kindesanhörung gemäß § 159 FamFG durchzuführen sein. Im Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB sind gemäß § 161 FamFG zudem die Pflegepersonen anzuhören, wenn das Kind für längere Zeit in Familienpflege lebt. Eine Familienpflege für längere Zeit dürfte bei Kleinkindern bereits bei einem Zeitraum von drei Monaten anzunehmen sein (MüKo FamFG/Schumann, 4. Auflage 2025, § 161 FamFG Rn. 4). Wann das betroffene Kind konkret in die aktuelle Dauerpflegestelle gewechselt ist, ergibt sich aus der Akte nicht. Sollte hier bereits ein Zeitraum von ca. drei Monaten erreicht sein, müssten die Pflegeeltern angehört werden. Im Hinblick auf § 1680 Abs. 2 und 3 BGB sind im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes zudem noch Stellungnahmen zumindest des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin zur Eignung des Kindesvaters, die elterliche Sorge auszuüben, einzuholen. Denn nach § 1680 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 BGB hat das Familiengericht die elterliche Sorge dem anderen Elternteil zu übertragen, soweit einem Elternteil die elterliche Sorge entzogen wird und die Übertragung auf den anderen Elternteil dem Wohl des Kindes nicht widerspricht. Die fachlichen Einschätzungen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin befassen sich im vorliegenden Verfahren bisher ausschließlich mit der Eignung der Kindesmutter, das Sorgerecht auszuüben.
Die Kindesmutter hat auch die Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht beantragt.
Der Senat macht von dem ihm zustehenden Ermessen dahingehend Gebrauch, dass er das Verfahren an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückverweist, um den Beteiligten nicht eine Tatsacheninstanz zu nehmen. Erhebliche Bedenken gegen diese Vorgehensweise haben die Beteiligten nicht geäußert. Die Verfahrensbeiständin hat in ihrer Stellungnahme zwar mitgeteilt, dass X in der Dauerpflegestelle bleiben sollte, um weitere Bindungsabbrüche zu vermeiden. Der Senat geht aber davon aus, dass die Kindesmutter einem Verbleib des betroffenen Kindes für die Dauer des Hauptsachverfahrens beim Amtsgericht zustimmen wird, zumal sie gegenüber der Verfahrensbeiständin angegeben hat, zunächst ihre Angelegenheiten regeln zu wollen und es optimal wäre, wenn sie dafür 3 bis 4 Monate Zeit hätte. Sollte die Kindesmutter ihre Zustimmung nicht erteilen, wird das Amtsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §§ 1666, 1666a BGB zu prüfen haben.
Der Senat kann nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der Durchführung eines Termins absehen. § 68 Abs. 5 Nr. 1 FamFG ist nicht anzuwenden, wenn das Beschwerdegericht an das erstinstanzliche Gericht gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 FamFG zurückverweist und damit keine eigene Sachentscheidung trifft (BT-Drs. 19/23070, 52; OLG Brandenburg, FamRZ 2022, 806; Sternal FamFG/Sternal, 21. Auflage 2023, § 68 FamFG Rn. 84).
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird dem Amtsgericht vorbehalten bleiben.
Die Festsetzung des Verfahrenswerts für das Beschwerdeverfahren folgt aus §§ 40, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.
Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nicht veranlasst, § 70 Abs. 2 FamFG.