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  • · Fachbeitrag · Kindesunterhalt

    Verwirkung: neue BGH-Rechtsprechung zum Vorliegen des Umstandsmoments

    von VRiOLG a.D. Dr. Jürgen Soyka, Meerbusch

    | Der BGH hat seine Rechtsprechung zum Umstandsmoment geändert. |

     

    Sachverhalt

    Die Beteiligten streiten um rückständigen Kindesunterhalt. Der Antragsteller ist der volljährige Sohn (S) des Antragsgegners (V). Er lebte bei seiner Mutter (M) und befand sich in der allgemeinen Schulausbildung. Mit Schreiben vom 14.7.11 forderte er den V auf, Auskunft über dessen Einkommen- und Vermögensverhältnisse zu erteilen und Unterhalt zu zahlen. Mit Schreiben vom 26.7.11 erteilte der V die Auskunft. V errechnete im Oktober 11 seine Unterhaltsquote und zahlte 3 x einen Betrag. Mit Schreiben vom 19.8.13 bezifferte der S seinen Unterhaltsanspruch, den der V mit Schreiben vom 27.8.13 zurückwies. Gegen ein im Dezember 14 beantragten und im Januar 15 erlassenen Mahnbescheid hat der V Widerspruch eingelegt. Die im Januar 15 angeforderte zweite Gebührenhälfte hat der S im Juli 15 eingezahlt, worauf das Verfahren an das AG abgegeben worden ist. Die im Juli 15 angeforderte Anspruchsbegründung hat der S im Januar 16 eingereicht. Das AG hat den V antragsgemäß verpflichtet. Das OLG hat die Beschwerde abgewiesen. Seine Rechtsbeschwerde ist im Wesentlichen erfolgreich.

     

     

    • a) Ein nicht geltend gemachter Unterhaltsanspruch kann grundsätzlich schon vor Eintritt der Verjährung und auch während der Hemmung nach § 207 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB verwirkt sein (Fortführung von BGHZ 103, 62 = FamRZ 88, 370 und FamRZ 99, 1422).
    • b) Das bloße Unterlassen der Geltendmachung des Unterhalts oder der Fort-setzung einer begonnenen Geltendmachung kann das Umstandsmoment der Verwirkung nicht begründen (Anschluss an BGH NJW-RR 14, 195).
     

    Entscheidungsgründe

    Die Verwirkung nach § 242 BGB kommt in Betracht, wenn ein Recht längere Zeit nicht geltend gemacht worden ist, obwohl der Berechtigte dazu in der Lage gewesen wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde.

     

    Im Hinblick auf Unterhaltsrückstände kann von einem Unterhaltsgläubiger, der lebensnotwendig auf Unterhaltsleistungen angewiesen ist, eher als von einem Gläubiger anderer Forderungen erwartet werden, dass er sich zeitnah darum bemüht, den Anspruch durchzusetzen. Dabei sind die Gründe, die eine mögliche zeitnahe Geltendmachung von Unterhalt nahelegen so gewichtig, dass das Zeitmoment der Verwirkung auch erfüllt sein kann, wenn die Rückstände Zeitabschnitte betreffen, die etwas mehr als 1 Jahr zurückliegen. Nach § 1585b Abs. 3, § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB findet der Gesichtspunkt des Schuldnerschutzes bei Unterhaltsrückständen für eine mehr als 1 Jahr zurückliegende Zeit besondere Beachtung. Daher kann das Verstreichenlassen einer Frist von mehr als 1 Jahr ausreichen.

     

    Allerdings müssen nach gefestigter Rechtsprechung zum reinen Zeitablauf besondere Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde seinen Anspruch nicht mehr geltend machen. Der Vertrauenstatbestand kann nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden, ein bloßes Unterlassen der Geltendmachung des Anspruchs für sich genommen löst kein berechtigtes Vertrauen des Schuldners aus. Das gilt nicht nur für eine bloße Untätigkeit des Gläubigers, sondern grundsätzlich auch für die von diesem unterlassene Fortsetzung einer bereits begonnenen Geltendmachung. Grund: Auch wenn der Gläubiger davon absieht, sein Recht weiter zu verfolgen, muss sein Verhalten Grund zu der Annahme geben, er werde den Unterhaltsanspruch nicht mehr geltend machen, insbesondere, weil er seinen Rechtsstandpunkt aufgegeben hat, damit der Schuldner in berechtigter Weise darauf vertrauen kann.

     

    Auch wenn dem Anspruchsgläubiger im Rahmen der Verjährung ein gesetzlicher Hemmungstatbestand zugutekommt (§ 207 BGB), steht dies einer Verwirkung des Unterhaltsanspruchs nicht entgegen. Die gesetzlichen Hemmungstatbestände beziehen sich auf das Verjährungsrecht und sind wie die Verjährung im Allgemeinen nur für die Frage bedeutsam, ob die Durchsetzbarkeit eines Anspruchs allein aus Zeitgründen scheitert. Die Hemmung schiebt ausschließlich den Ablauf der Verjährungsfrist hinaus.

     

    Bei der Verwirkung muss das Umstandsmoment hinzutreten. Dazu muss ein besonderer Vertrauenstatbestand vorliegen, der vom Schuldner konkret darzulegen und im Bestreitensfalle zu beweisen ist. Die Verjährung und Verwirkung beruhen auf unterschiedlichen Grundlagen, sodass der Verwirkung der Hemmungstatbestand des § 207 BGB nicht entgegensteht.

     

    Hier ist der Anspruch nicht verwirkt, weil es an einem Umstandsmoment fehlt. Dass der S den Anspruch entgegen seiner Ankündigung nach der Auskunftserteilung durch den V zunächst nicht beziffert hatte, ließ noch keine Rückschlüsse darauf zu, dass er den Anspruch künftig nicht geltend machen wird. So hätte es Anhaltspunkte für die Annahme bedurft, der S habe nach der Auskunftserteilung etwa seinen Rechtsstandpunkt aufgegeben oder sei selbst davon ausgegangen, dass kein Unterhaltsanspruch bestehe. Gegenteiliges ließe sich annehmen, wenn ausgehend von der Auskunft ein Einkommen des Unterhaltspflichtigen im Raum stände, dass unterhalb des Selbstbehalts liegt, sodass ersichtlich keine Leistungsfähigkeit gegeben wäre.

     

    Im vorliegenden Fall lag aber das Einkommen des V oberhalb des angemessenen Selbstbehalts. Auch der Hinweis auf die wesentlich bessere Einkommenssituation der Mutter würde nicht zu einer anderen Einschätzung führen, weil sich daraus nur eine Reduzierung, nicht aber ein vollständiger Ausschluss eines vom V geschuldeten Unterhalts ergeben könnte.

     

    Der V ist zudem selbst nicht davon ausgegangen, keinen Unterhalt zu schulden, weil er seinen Unterhaltsanteil errechnet und 3 Zahlungen geleistet hat.

     

    Die Unterhaltsberechnung war teilweise zu korrigieren, weil das AG bei der Berechnung der Haftungsquoten den notwendigen Selbstbehalt und nicht den angemessenen Selbstbehalt zugrunde gelegt hat, der auch zunächst bei privilegierten volljährigen Kindern als Sockelbetrag anzusetzen ist.

     

    Relevanz für die Praxis

    Es war zwar immer schon erforderlich, dass besondere Umstände gegeben sein mussten, aufgrund derer sich der Unterhaltspflichtige nach Treu und Glauben darauf einrichten kann, dass der Berechtigte sein Recht nicht mehr geltend macht. Ausreichend war aber, dass

    • sich der Berechtigte 2 Jahre nach der letzten Mahnung untätig verhielt (BGH FamRZ 07, 453) oder
    • nach Erteilung der geforderten Auskunft durch den Pflichtigen 15 Monate nichts unternimmt (BGH FamRZ 02, 1698).

     

    Auf jeden Fall entfällt das Umstandsmoment, wenn der Gläubiger durch sein Verhalten deutlich zu erkennen gibt, dass er den Rückstand weiterhin geltend macht (BGH FamRZ 88, 478).

     

    Verwirkungsgrundsätze gelten ebenso für titulierte Unterhaltsansprüche.

     

    Zu beachten ist aber auch die Höhe des Einkommens des Unterhaltspflichtigen, aus der sich ergeben kann, dass er seine Lebensführung tatsächlich darauf ausgerichtet hat, von dem Berechtigten nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Es kommt also auch darauf an, ob der Verpflichtete sich mit seinem Ausgabeverhalten darauf eingerichtet hat, keinen Unterhalt mehr zahlen zu müssen.

     

    MERKE | Nach früherer Rechtsprechung waren besondere Umstände erforderlich, um das sich aus dem Zeitmoment ergebende Umstandsmoment zu erschüttern. Heute sind besondere Umstände erforderlich, um es überhaupt erst zu begründen, weil es sich nicht aus dem Zeitmoment ergibt.

     
    Quelle: Ausgabe 11 / 2018 | Seite 184 | ID 45283371