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  • · Fachbeitrag · Steuerhinterziehung

    Tatsächliche Verständigung im Steuerrecht und tatsächliche Verständigung im Strafverfahren

    von Dr. Alexander Retemeyer, Osnabrück und Dr. Thomas Möller, Osnabrück

    | Die steuerrechtliche und die strafrechtliche Aufarbeitung von Steuerstrafverfahren sind mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Dies gilt insbesondere für die gerichtsfeste Feststellung der zugrunde liegenden Tatsachen. Häufig ist es weder der Finanzbehörde und ihrer Straf- und Bußgeldsachenstelle, der Staatsanwaltschaft oder gar dem Strafgericht möglich, korrekte und vollständige Sachverhalte zu ermitteln. |

    1. Tatsächliche Verständigung im Steuerrecht

    In der Praxis hat sich vor vielen Jahren im materiellen Steuerrecht das Instrument der tatsächlichen Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt herausgebildet (Wegner, Die tatsächliche Verständigung - Ein Überblick, SteuK 11, 31 ff.; Dißars, Tatsächliche Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt, StC 09, 32 ff.). Die tatsächliche Verständigung ist von der Schätzung gemäß § 162 AO abzugrenzen (Mack, Strafschätzungen im Steuerverfahren akzeptieren, um Steuerstrafverfahren zu vermeiden, Stbg 12, 122 ff.).

     

    Die tatsächliche Verständigung im Steuerrecht ist in der AO nicht geregelt. Die Finanzbehörden haben den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 88 Abs. 1 S. 1 AO). Allerdings sind die Finanzbehörden in der Ausgestaltung und Umsetzung dieser Verpflichtung weitgehend frei. Vergleiche über Ansprüche sind nicht möglich, aber es ist seit Jahren in der steuerlichen Rechtsprechung anerkannt, dass in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung unter bestimmten Voraussetzungen zur Förderung der Effektivität der Besteuerung als auch zur Sicherung des Rechtsfriedens eine die Beteiligten bindende Einigung über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung herbeigeführt werden kann (BFH 6.2.91, I R 13/86, BStBl II 91, 673; BFH 31.7.96, XI R 78/95, BStBl II 96, 625; BFH 7.7.04, X R 24/03, BStBl II 04, 975; BFH 8.10.08, I R 63/07, BStBl II 09, 121).

     

    Im materiellen Steuerrecht werden derartige Vereinbarungen als „tatsächliche Verständigung“ bezeichnet. Sie sind in jedem Stadium des Veranlagungsverfahrens möglich. Sie ist auch möglich, wenn bereits ein Steuerstrafverfahren eingeleitet ist. Die wesentlichen Grundsätze (Zulässigkeit, Voraussetzungen, Anwendungsbereich, Durchführung, Rechtsfolgen, Unwirksamkeit) für die Verständigung über eine bestimmte Sachbehandlung hat das BMF geregelt - für den Bereich der Besitz- und Verkehrsteuern in der Zuständigkeit der Landesfinanzbehörden siehe BMF 30.7.08, IV A 3 - S 0223/07/10002, BStBl I 08, 831, Abruf-Nr. 082655), für den Bereich der Zollverwaltung siehe Anlage zu Nr. 2 zu § 88 der AO-DV Zoll. Im Bereich des Zollkodex, d.h. für Einfuhr- und Ausfuhrabgaben, kann eine tatsächliche Verständigung nicht getroffen werden.

     

    Eine Besonderheit der tatsächlichen Verständigung ist, dass sie ausschließlich im Bereich der Sachverhaltsermittlung zulässig ist. Rechtliche Fragen dürfen nicht Gegenstand einer derartigen Verständigung sein. Auf der Seite der Finanzbehörde muss mindestens der für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständige und damit für die abschließende Zeichnung berechtigte Amtsträger beteiligt sein - Äußerungen eines Außenprüfers des Hauptzollamts reichen nicht aus (FG Düsseldorf 5.3.08, 4 K 4486/06, CuR 08, S. 111 ff.; BFH 12.2.09, VII B 82/08, BFG/NV 09, 970 ff.). Der Inhalt ist in einfacher, aber beweissicherer Form schriftlich festzuhalten und von den Beteiligten aus Beweisgründen zu unterschreiben. Mit Abschluss der tatsächlichen Verständigung sind die Beteiligten an die vereinbarte Tatsachenbehandlung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, wenn sie wirksam und unanfechtbar zustande gekommen ist. Die tatsächliche Verständigung bindet nur die an ihrem Zustandekommen Beteiligten, nicht jedoch Dritte.

    2. Steuerrechtliche Verständigung und strafrechtlicher Aspekt

    Das Gegenstück zur tatsächlichen Verständigung im Steuerrecht ist die verfahrensverkürzende Absprache im Strafrecht. An einer tatsächlichen Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt sind häufig nicht nur der steuerlicher Berater sondern auch der Strafverteidiger beteiligt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob in einer derartigen tatsächlichen Verständigung auch eine Verständigung über den Ablauf und das Ergebnis des Strafverfahrens, insbesondere über die Frage einer möglichen Einstellung oder gar Nichteinleitung eines Strafverfahrens und im Ergebnis über die hinterher herauskommende Höhe der Kriminalstrafe verhandelt wird. Für den Steuerpflichtigen hängt seine Entscheidung, ob er überhaupt einer tatsächlichen Verständigung über dem der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt zustimmen kann und soll, auch davon ab, welche strafrechtlichen Folgen eine derartige Verständigung für ihn hat. Er kann diese Entscheidung nur treffen, wenn er im Rahmen eines Gesamtpakets weiß, welche Folgen seine Zustimmung für ihn hat.

    3. Tatsächliche Verständigung im Strafrecht

    In der Strafrechtswissenschaft hatte sich seit Jahren das Instrument der „Deals“ entwickelt (Fischer, StGB, 61. Aufl., § 46, Rn. 113). Der Deal war zunächst überhaupt nicht in der StPO geregelt und ist sind von der Ausgestaltung her auch ein Fremdkörper. Nach den Vorstellungen des § 46 StGB wird eine Strafe eben nicht als Folge eines Vergleichs festgesetzt, sondern sie ist der nach Ausschöpfung und Würdigung aller Strafzumessungskriterien gebildete gerechte Ausgleich für das strafrechtlich relevante Unrecht.

     

    In der Praxis hatten sich gerade im Wirtschaftsstrafrecht und insbesondere in steuerstrafrechtlichen Hauptverhandlungen jedoch andere Verhaltensweisen herausgebildet. Wirtschaftsstrafverfahren wurden regelmäßig auf der Basis von Absprachen geführt und beendet. Dies führte dazu, dass als Preis für die Verkürzung des Verfahrens die Strafen vergleichsweise gering waren. Die Bereitschaft, einen derartigen „Deal“ abzuschließen und dabei die Vorschriften der StPO zu missachten, wurde von der Rechtsprechung des BGH zunächst mit Argwohn betrachtet, dann aber unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärt (BGH 3.3.05, GSSt 1/04, PStR 05, 150 f., wistra 05, 261 ff.). Der BGH hat in dieser grundlegenden Entscheidung sehr strenge Vorgaben und Mindeststandards dafür erstellt, unter welchen Voraussetzungen überhaupt eine derartige Verständigung möglich sein kann. Im Gesetz zur Regelung der Verständigung in Strafsachen vom 28.5.09 (BGBl I 09, 2352) wurden die Vorgaben des BGH weitgehend übernommen.

     

    Kern einer Verständigung ist § 257c StPO. Weitere Regelungen finden sich auch in den §§ 160b, 202a, 212, 257b StPO. Dabei ist wichtig, dass die Regelungen nicht nur für das gerichtliche Verfahren, sondern genauso auch für das Ermittlungsverfahren gelten (§ 160b StPO). Sie sind damit also auch für das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren vollständig anzuwenden. Bei der Auslegung dieser Vorschriften ist insbesondere die grundlegende Entscheidung des BVerfG vom 19.3.13 (2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, NJW 13, 1058 ff.; wegen der Stärkung der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Aushandlung eines Deals, Wußler, DRiZ 13, 161 ff.) zu beachten. Das BVerfG hat klargestellt, dass

    • die Grundsätze des fairen rechtsstaatlichen Verfahrens,
    • die Unschuldsvermutung, die Neutralitätspflicht des Gerichts,
    • die Handhabung der Erforschung,
    • die rechtliche Subsumtion und auch
    • die Grundsätze zur Strafzumessung

     

    nicht zur freien Disposition der beteiligten Staatsanwälte, der Verteidiger, der Angeklagten und des Gerichts stehen. Vielmehr sind insbesondere die staatlichen Organe verpflichtet, unter Hintanstellung eigener Wünsche das Strafverfahren effektiv, gerecht und allein der Wahrheit verpflichtet abzuschließen. Dies bedeutet, dass eine tatsächliche Verständigung nur unter den im Gesetz genannten sehr eingeschränkten Möglichkeiten durchgeführt werden kann. Insbesondere darf eine Punktstrafe, d.h. eine ganz konkrete Strafe nicht vereinbart werden. Dem Beschuldigten darf höchstens ein Strafrahmen genannt werden, aus dem das Gericht die Strafe auswählen kann. Auch ein Rechtsmittelverzicht kann nicht Gegenstand einer derartigen Vereinbarung sein. Erklärt der Angeklagte oder Beschuldigte trotzdem einen Rechtsmittelverzicht, so ist dieser nicht gültig. Dem Angeklagten und Verurteilten ist, wenn er die Rechtsmittelfrist versäumt hat, weil er irrtümlich davon ausging, er könne kein Rechtsmittel einlegen, Wiedereinsetzung zu gewähren.

     

    Diese Regeln sind mit der tatsächlichen Praxis nur schwer vereinbar. Möglicherweise ist dies der Grund, warum trotz der strengen gesetzlichen Vorgaben auch unter Berücksichtigung der genannten Entscheidung des BVerfG, die Beteiligten sich offenbar häufig nicht an diese Vorschriften halten. So soll es häufig zu nicht protokollierten Gesprächen und Absprachen kommen, bei denen konkrete Strafen vereinbart werden. Nach Meinung von Fischer (StGB, 61. Aufl., § 46, Rn. 110) handelt es sich dabei um ein planmäßiges Vorgehen. Die Beteiligten finden ihre Ergebnisse aus einem Resultat von Intuition, Geschicklichkeit und praktischer Erfahrung und nicht aus dem gesetzlich geforderten gleichmäßigen formalisierten und daher überprüfbaren Verfahren.

     

    Das BVerfG hat eine deutliche Warnung dahingehend gegeben, dass zukünftig Missstände nicht mehr akzeptiert werden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass zunächst strafrechtliche Verurteilungen auf Basis einer unzulässigen tatsächlichen Verständigung im Wege der Revision aufgehoben werden. Die Ermittlungsbehörden und die Staatsanwaltschaften müssen ihrer Wächterfunktion nachkommen und penibel darauf achten, dass die Vorschriften zum Inhalt und der Ausgestaltung einer tatsächlichen Verständigung auch eingehalten werden: Die jeweiligen Sachverhalte müssen umfassend ausermittelt werden. Taktische Geständnisse sind nicht dazu geeignet, Grundlage eines Steuerstrafverfahrens zu sein. Die Angaben des Beschuldigten zum Umfang der Tat sind umfassend nachzuprüfen.

     

    Die Entscheidung des BVerfG ist ein deutlicher Warnschuss. Es kann nicht damit gerechnet werden, dass gesetzeswidrige Verständigungen, Kungeleien und informelle Absprachen folgenlos bleiben. Ein Blick in den ganz aktuell zu Anfang des Jahres 2014 erschienenen Standardkommentar zum StGB von Fischer zeigt, dass die Rechtsprechung die tatsächlich geübte tägliche Praxis für unzulässig und kriminell hält. Danach ist, aus der Abspracheperspektive gesehen, Gerechtigkeit nicht Ergebnis gleichmäßigen, formalisierten und daher überprüfbaren Verfahrens, sondern ein Resultat von Intuition, Geschicklichkeit und praktischer Erfahrung und damit das Gegenteil eines rechtsstaatlichen Verfahrens (Fischer, StGB, 61. Aufl., § 46, Rn. 110a).

     

    Darüber hinaus kann ein derartiges Verhalten bei beteiligten Richtern und Staatsanwälten dazu führen, dass ihr eigenes Verhalten als Strafvereitelung im Amt oder Rechtsbeugung strafbar sein kann. Offenkundige Rechtsbrüche führen zu einer Strafbarkeit der handelnden Staatsanwälte und Richter. Wenn insbesondere durch eine unzulässige Absprache der staatliche Strafanspruch verringert wird, liegt ein hinreichender Tatverdacht gegen den erkennenden Richter wegen Rechtsbeugung nahe (Erb, Zur Strafbarkeit von Grenzüberschreitungen bei Verfahrensabsprachen, StV 14, 105) Besonders gravierend sind Verstöße gegen die Protokollierungspflichten, da gerade dadurch die Überprüfung des Urteils durch die Revisionsinstanz vereitelt wird. Strafrechtlich ist auch an Korruptionsdelikte zu denken, wobei der Vorteil für die Richter und Staatsanwälte in einem Zeitgewinn liegen soll (Erb, a.a.O., 107). All dies sind Risiken, die Richter, Staatsanwälte, Ermittlungsbeamte und Verteidiger nicht in Kauf nehmen dürfen.

     

    PRAXISHINWEIS | Maßgeblicher Ansatzpunkt ist der Grundsatz der Klarheit, d.h. sämtliche Erörterungen der Verfahrensbeteiligten müssen sich aus den Akten (bei Erörterung im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren) oder aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergeben. Damit wird dem wesentlichen Kritikpunkt des BVerfG entsprochen, dass die Absprachen öffentlich und aktenkundig seien müssen und somit für das Revisionsgericht überprüfbar sind.

     

    Ferner muss der festgestellte Sachverhalt auch dem tatsächlichen Geschehen entsprechen. Es ist deshalb nicht zulässig, Phantasiesachverhalte festzulegen. Die Sachverhalte müssen sich im Wesentlichen durch den Akteninhalt, insbesondere auch durch ein glaubhaftes und umfassendes Geständnis belegen lassen. Die tatsächliche Verständigung dient nicht dazu, lückenhafte Beweise zu ersetzen oder gar bei sonst nicht möglichem Nachweis einen Täter zu überführen oder zu verurteilen. Es bestünde nämlich sonst die Gefahr, dass Angeklagte durch unzulässige Methoden wie Drohen mit hoher Strafe (Sanktionsschere) oder mit einem langen Verfahren zum Einlenken gezwungen werden. Die tatsächliche Verständigung dient einzig der Verfahrensökonomie. Dabei darf die Verkürzung des Strafverfahrens aber nicht durch die Verkürzung des staatlichen Strafanspruchs erkauft werden. Im Zweifel sind Gerichte und Staatsanwaltschaften verpflichtet, eine vollständige Beweisaufnahme mit der Gefahr eines offenen Ergebnisses durchzuführen.

    4. Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung

    Als Wirtschaftsstraftat erlangen Taten durch Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung zunehmend an strafrechtlicher Bedeutung. Der Missbrauch von Werkverträgen, die Scheinselbstständigkeit oder schlicht die Beschäftigung nicht zur Sozialversicherung gemeldeter Arbeitnehmer konfrontieren die Staatsanwaltschaften mit einem strafrechtlich relevanten Schaden, der sich zum einen aus einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO sowie zum anderen aus dem Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt gemäß § 266a StGB (Beitragshinterziehung) ergibt. In diesen Fällen ist der Schaden für die Schuld und Strafzumessung der bestimmende Faktor.

     

    Die Ermittlung des strafrechtlich relevanten Schadens stellt eines der Kernprobleme des § 266a StGB dar (Bader, Schadensermittlung im Beitragsstrafrecht (§ 266a StGB), wistra 10, 121). Die Höhe der geschuldeten Beiträge bestimmt sich auf der Grundlage des nach § 14 SGB IV zu berechnenden Arbeitsentgelts nach den gesetzlich oder durch Satzung der jeweiligen Krankenkasse festgelegten Beitragssätzen (§ 241 SGB V). § 14 SGB IV regelt das Arbeitsentgelt als Bemessungsgrundlage für den Beitrag zur Sozialversicherung. Deshalb sind grundsätzlich bei der Feststellung der monatlich vorenthaltenen Beiträge für jeden Fälligkeitszeitpunkt gesondert die genaue Anzahl der Arbeitnehmer, ihre Beschäftigungszeiten und Löhne sowie die Höhe des Beitragssatzes der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen. Der BGH hat entschieden, dass sich die Berechnung der nach § 266a StGB vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen nach § 14 Abs. 2 S. 2 SGB IV richtet (BGH 2.12.08, 1 StR 416/08, wistra 09, 107 ff.). Sind bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung und Arbeitsförderung nicht gezahlt worden, gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart (§ 14 Abs. 2 S. 2 SGB IV).

     

    Häufig führen die Täter bei Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung jedoch ganz bewusst keine Aufzeichnungen (Klemme/Schubert, § 266a StGB: Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Schadens ohne Buchführung - der juristische Ansatz aus betriebswirtschaftlicher Sicht, NStZ 10, 606 ff.). Der Tatrichter kann dann mangels Buchführung keine Berechnung vornehmen. Er muss dann auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der für § 266a StGB rechtlich erheblichen Umstände die Bemessungsgrundlage und die Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge schätzen. Die Verletzung von Buchführungs- und Aufbewahrungspflichten kann zudem ein Strafschärfungsgrund sein (BGH 10.11.09, 1 StR 283/09, wistra 10, 148 ff.).

     

    Eine Schätzung der Lohnsumme als Bemessungsgrundlage zur Berechnung hinterzogener Lohnsteuer und vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge unter Anwendung eines Prozentsatzes bezogen auf den Nettoumsatz eines Unternehmens ist nach Meinung des BGH zulässig, wenn keine anderweitig verlässlichen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigen Aufwand und ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn zu beschaffen sind (BGH 10.11.09, 1 StR 283/09, wistra 10, 148 ff.; BGH 6.2.13, 1 StR 577/12, wistra 13, 277 ff.). In den Fällen illegaler Beschäftigung kann der Tatrichter dabei in der Regel nach Meinung des BGH sogar verhältnismäßig höhere Nettolohnquoten zugrunde legen, als sie bei legaler Beschäftigung branchenüblich sind (BGH 6.2.13, 1 StR 577/12, wistra 13, 277 ff.).

     

    Wie bei der Steuerhinterziehung sollte vor der Schätzung durch das Strafgericht, die Ermittlung des Schadens durch die Behörde stehen. Die Träger der Rentenversicherung prüfen gemäß § 28p SGB IV bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen. Sie prüfen mindestens alle vier Jahre insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV). Gemäß § 28f Abs. 2 SGB IV hat der zu prüfende Träger der Rentenversicherung die Höhe der Arbeitsentgelte zu schätzen, wenn er sie nicht oder nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermitteln kann.

     

    Nach § 20 SGB X hat die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Dabei bestimmt sie Art und Umfang der Ermittlungen. Sie hat nach § 20 Abs. 2 SGB X alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Strafverfahrensrechtliche Ermittlungen, z.B. durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) der Zollverwaltung, ersetzen nicht die sozialverfahrensrechtliche Betriebsprüfung gemäß § 28p SGB IV (Bayerisches LSG 21.10.13, L 5 R 605/13 B ER, ASR 14, 23 ff.; Bayerisches LSG 4.12.13, L 5 R 652/13 B ER, juris). Die Berechnung eines Schadens durch die Deutsche Rentenversicherung für die FKS ist Amtshilfe und nicht präzise Ermittlung der Sozialversicherungsbeiträge. § 28f Abs. 2 SGB IV ähnelt inhaltlich § 162 AO zur Schätzung von Besteuerungsgrundlagen.

     

    Die Deutsche Rentenversicherung wird vor dem gleichen Problem stehen, dass sie keine Bemessungsgrundlagen vorfindet. Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben wird in diesen Fällen der Beteiligte auch an einer Verständigung mit der Deutschen Rentenversicherung interessiert sein. Ob ein Sachverhalt zudem steuer- und sozialversicherungsrechtlich gleich behandelt werden kann, macht die Verständigung nicht leichter. Staatsanwalt und Strafverteidiger müssen in diesen Fällen steuer-, sozialversicherungs- und strafrechtliche Aspekte beachten und einer Lösung zuführen.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Sommer, Anfechtung einer tatsächlichen Verständigung, PStR 12, 164 f.
    Quelle: Ausgabe 12 / 2014 | Seite 318 | ID 42853269