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  • · Fachbeitrag · Steuerstrafverfahren

    Strafklageverbrauch, Verbot der Doppelbestrafung, Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt

    von RA Prof. Dr. Markus Füllsack und RAin Katharina Reinauer, KMZ Rechtsanwälte, Sindelfingen

    | Das LG Mannheim lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung (Umsatzsteuerkarussell) wegen Strafklageverbrauchs ab ‒ der Beschuldigte ging im Ergebnis straffrei aus. Das Verfahren war zuvor in Italien wegen Verjährung eingestellt worden. |

    1. Sachverhalt

    Der Entscheidung des LG Mannheim lag folgender Beschluss zugrunde (LG Mannheim 5.6.19, 23 KLs 616 Js 21611/11, Abruf-Nr. 210505): Nach langjährigen Ermittlungen der Steuerfahndung (Durchsuchung im Dezember 2006) aufgrund eines italienischen Rechtshilfeersuchens der StA Forli, warf die StA Mannheim mit Anklageschrift vom 29.12.11 dem Beschuldigten als Inhaber und Geschäftsführer einer Export-Import-Kfz-Einzelfirma mit Sitz in Deutschland Steuerhinterziehung in 13 Fällen durch Abgabe falscher Umsatzsteuererklärungen in den Jahren 2003 bis 2006 ‒ mittels Beteiligung an einem Umsatzsteuerkarussell ‒ vor. Aufgrund Absprache mit seinen italienischen Geschäftspartnern habe er unter Einschaltung sogenannter „Missing Trader“ und „Buffer“ eine Lieferkette fingiert, um seinen Geschäftspartnern unberechtigten Abzug von Vorsteuer zu ermöglichen.

     

    Der Beschuldigte B soll dabei ohne korrespondierende Warenlieferungen Scheinrechnungen über angebliche innergemeinschaftliche Lieferungen i.S. der § 4 Nr. 1b UStG und § 6a UStG an angebliche Abnehmer in Italien erstellt haben, um die tatsächlich geschuldete Umsatzsteuer nicht an das deutsche FA abführen zu müssen. Hierdurch soll er insgesamt rund 2,5 Mio. EUR USt verkürzt haben.

     

    Zwischen Durchsuchung und Verfahrensabschluss lagen über 13 Jahre. Steuerlich war im Mai 2009 vom FG ‒ nach Erörterungstermin ‒ für Umsatzsteuerforderungen i.H. von 3,5 Mio. EUR gegen Sicherheitsleistung von unter 10 % AdV gewährt worden. Abgeschlossen wurde das Besteuerungsverfahren nach einer mehrtägigen mündlichen Verhandlung mit umfangreicher Beweisaufnahme (14 Auslandszeugen) im Dezember 2012. Auch die im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung auf 850.000 EUR reduzierten USt-Forderungen führen zur Insolvenz.

     

    In Italien verurteilte die Strafkammer des LG Forli den Beschuldigten erstinstanzlich im Mai 2013 wegen Steuerbetrugs zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten sowie diversen Nebenstrafen, das Verfahren wurde jedoch letztlich vom Appellationsgericht in Bologna mit Urteil vom 9.1.17 (rechtskräftig am 9.4.17) wegen am 1.7.14 eingetretener absoluter Verjährung eingestellt.

     

    Das Verfahren endet für den in Deutschland Beschuldigten aufgrund der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das LG Mannheim letztendlich straffrei.

    2. Dauerhaftes Verfahrenshindernis

    Das LG Mannheim begründete seine Entscheidung mit dem Entgegenstehen eines dauerhaften Verfahrenshindernisses ‒ eines Strafklageverbrauchs. Dieser sei dadurch eingetreten, dass das Verfahren gegen den Beschuldigten mit Urteil des italienischen Appellationsgerichts wegen der gleichen ‒ und solchermaßen konkretisierten ‒ prozessualen Taten eingestellt worden war, weil nach den dort geltenden Rechtsvorschriften die absolute Verjährung festgestellt wurde.

     

    Nach Ansicht des LG Mannheim kam es nicht entscheidend auf die Unterscheidung und Zugrundelegung eines nationalen oder europäischen Tatbegriffs an. Der nationale Tatbegriff definiert den Begriff der Tat nach dem Recht des Urteilsstaats, sodass der Verfahrensgegenstand und die Reichweite des Strafklageverbrauchs aus dem italienischen Urteil abzuleiten wäre.

     

    Der EuGH sieht als maßgebliches Kriterium für die Identität der Tat, dass ein Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen vorhanden sei, also die einzelnen Handlungen objektiv ‒ in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ‒ und nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind.

     

    Zu der Frage des Strafklageverbrauchs hat der BGH für Einzeltaten der Umsatzsteuerhinterziehung im Rahmen eines Umsatzsteuerkarussells ausgeführt, dass es jeweils darauf ankomme, welche Taten der Steuerhinterziehung einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bilden. Für die Annahme eines einheitlichen Lebenssachverhalts i.S. des § 264 Abs. 1 StPO sollen demnach Tatzeit und -dauer sowie die personelle Zusammensetzung der Gruppierung des Umsatzsteuerkarussells eine Indizwirkung bilden (BGH 7.9.16, 1 StR 422/15, NZWiSt 17, 74).

     

    Die Strafkammer hat ‒ im Gegensatz zu der StA ‒ den Einzelumstand, dass die über die Firma XY abgerechnete Lieferung in den Jahren 2003 und 2004 in dem italienischen Urteil keine Erwähnung gefunden hat, für nicht ausschlaggebend gehalten. Vielmehr sieht es die gegenständlich angeklagten Taten in räumlicher, zeitlicher und personeller (Tätergruppierung) Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar mit dem in Italien verfolgten Geschehen als verbunden an, sodass von Identität auszugehen ist. Der zugrunde liegende, durch Tatort, Tatzeit, an der Tat beteiligte Personen und den Modus Operandi geprägte Lebenssachverhalt, der in Italien verfolgt wurde, sei nach der Ansicht des LG Mannheim nicht so eng, dass er bei einer Einbeziehung der Firma XY wesentlich verändert würde. Es würde sich allenfalls bei der Berechnung des Steuerschadens eine ‒ nicht unbeachtliche ‒ Änderung ergeben.

     

    Das LG Mannheim stellt im Ergebnis auf dieselbe Tätergruppierung ab und geht somit sowohl bei den in Italien abgeurteilten und in Deutschland angeklagten Taten von den gleichen prozessualen Taten aus, obwohl zu diesem Täterkreis der in Deutschland Beschuldigte und eine Vielzahl weiterer Tatbeteiligter gehören, die teilweise ausdrücklich benannt sind, aber weder in den italienischen Urteilen, noch in der deutschen Anklageschrift abschließend aufgelistet sind.

     

    Außerdem stellt die Kammer in Übereinstimmung mit dem EuGH (5.6.14, C-398/12, NJW 14, 3010) zutreffend fest, dass gemäß Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) Taten deshalb nicht mehr in Deutschland verfolgt werden können, weil auch eine Verfahrenseinstellung wegen Strafverfolgungsverjährung zum Strafklageverbrauch führt und insoweit das Verbot der Doppelbestrafung greift.

     

    Die seitens der StA abgegebene Stellungnahme widersetzt sich dieser Aussage und hält demgegenüber den in Art. 55 SDÜ formulierten Vorbehalt für einschlägig, da die Taten jedenfalls auf deutschem Staatsgebiet begangen wurden. Dem entgegnet das LG Mannheim mit der ‒ ungeschriebenen, aber durch herrschende Meinung und Rechtsprechung des BGH gestützten ‒ Einschränkung des Art. 55 Abs. 1a S. 2 SDÜ, die diesen Vorbehalt dann ausschließt, wenn „diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist“. Grund für diese Einschränkung soll der Umstand sein, dass sich Deutschland seinen europarechtlichen Bindungen wohl kaum entziehen wollte und konnte.

     

    Das LG Mannheim verweist zudem auf die obergerichtliche Rechtsprechung des OLG Stuttgart (9.1.08, 2 Ws 338/07, StV 08, 402), das vormals eindeutig darauf hingewiesen hatte, dass der Anwendung des Art. 54 SDÜ nicht entgegenstünde, dass die Vertragsstaaten des Abkommens unterschiedliche Rechtsvorschriften zu den Verjährungsregeln erlassen haben ‒ die Verjährung würde indes in Deutschland erst im Januar 2022 eintreten.

     

    Als weiteren Punkt stellte die Staatsanwaltschaft kritisch fest, ob die vorliegende Frage der Einstellung nach § 206a StPO i.V. mit Art. 54 SDÜ ‒ beziehungsweise Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens ‒ den den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtungen aus Art. 325 AUEV widerspricht. Nach Art. 325 Abs. 2 AEUV ergreifen die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.

     

    Die Staatsanwaltschaft bezieht sich hierbei auf Urteile des EuGH in Sachen Taricco und Gasparini (Gasparini: EuGH 28.9.06, C 467/04, Rn. 22 ff.; Taricco I: EuGH 8.9.15, C 105/14, Rn. 37 und Rn. 47 bis 53, modifiziert in Taricco II: EuGH 5.12.17, C 42/17). Hier wurde die Frage behandelt, wie mit Verjährungsvorschriften des italienischen Rechts umzugehen sei, die eine effektive Sanktionierung von Umsatzsteuerkarussellen verhindern. Nach Ansicht der StA sei Art. 54 SDÜ dahingehend auszulegen, dass dieser keine Anwendung finde, wenn ‒ wie vorliegend ‒ der Angeklagte wegen Verjährung freigesprochen wurde und dieser Freispruch auf nationalen Verjährungsregelungen beruht, die die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen beeinträchtigen.

    3. „ne bis in idem“ geht vor

    Die Strafkammer des LG Mannheim sieht das Verbot der Doppelbestrafung jedoch auch unter Berücksichtigung von Art. 325 AEUV als anwendbar an: Die nationalen Gerichte haben, selbst wenn sie in laufenden Verfahren die einschlägigen Vorschriften unangewendet lassen müssen, um Art. 325 AEUV Geltung zu verschaffen ‒ was in dem vorliegenden deutschen Verfahren allerdings nicht der Fall war ‒, darauf zu achten, dass die Grundrechte der beschuldigten Personen geachtet werden. Das in Art. 54 SDÜ enthaltene Verbot der Doppelbestrafung kann auch durch Art. 325 AEUV nicht ausgehebelt werden.

     

    Im Ergebnis sicherlich zutreffend urteilt das Gericht, dass es nicht Aufgabe der nationalen Gerichte sein kann, etwaige Versäumnisse des nationalen ‒ vorliegend des italienischen ‒ Gesetzgebers zu korrigieren. Weder die Veranlassung noch die Befugnis bestehe, sich über internationale Abkommen hinwegzusetzen, weil die Verjährungsvorschriften des italienischen Strafrechts, die der italienische Gesetzgeber normiert und das italienische Gericht angewendet hat, hinsichtlich einer effektiven Sanktionierung von Umsatzsteuerkarussellen den finanziellen Interessen und der gemeinschaftlichen Arbeitsweise der EU nicht genügen könnten.

    4. Fazit

    Der Beschluss umfasst drei Kernbereiche: Die Frage der prozessualen Tat im Zusammenhang mit der Problematik internationaler Umsatzsteuerkarusselle und dem damit zusammenhängenden schwer zu umschreibenden Täterkreis. Außerdem die Fragen des Strafklageverbrauchs nach Art. 54 SDÜ sowie nach dem Umgang und vermeintlichen Vorrang der völkerrechtlichen Regelung vor den europäischen Normen. Die Entscheidung zeigt eindrücklich, dass rechtsstaatlich mehrfach verankerte Grundsätze wie „ne bis in idem“ nicht ausgehebelt werden können.

     

    Er zeigt aber auch den zunehmenden Einfluss des europäischen Rechts auf das deutsche Strafprozessrecht. Vor allem aus anwaltspraktischer Sicht wird deutlich, zu welchen Ergebnissen eine maximal effektive Strafverteidigung führen kann und dass dies oft den Einsatz sämtlicher „Register“ erfordert. Ohne gerichtlichen AdV-Antrag und umfangreiche mehrtägige mündliche Verhandlung mit entsprechendem Prozessstoff im Hauptsacheverfahren vor dem FG wäre es im deutschen Strafverfahren vermutlich zu einer Verurteilung gekommen, noch vor der Verjährung des italienischen Parallelverfahrens. Quintessenz: Die erfolgreiche Verteidigung führt in Steuerstrafsachen oft nur über den Steueranspruch.

    Quelle: Ausgabe 09 / 2019 | Seite 216 | ID 46011175