· Fachbeitrag · Beschlagnahme
Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen ‒ das sind die Voraussetzungen
von RA Prof. Dr. Carsten Wegner, Krause & Kollegen, Berlin
| In Fällen, in denen Kopien oder eingescannte Unterlagen im weiteren Verfahren nicht in gleicher Weise zu Beweiszwecken verwendet werden können wie die Originale, sind in Papierform aufgefundene (Original-) Unterlagen ‒ insbesondere solche i. S. d. § 257 HGB, §§ 140-148 AO ‒ im Original zu beschlagnahmen. Das hat das LG Nürnberg-Fürth entschieden. |
Sachverhalt
Der Beschuldigte (B) ist alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH. Ferner fungiert er als Kommanditist einer GmbH & Co. KG, deren Komplementärin die o. a. GmbH ist. Die Finanzbehörde führt gegen B ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Das AG erließ einen Durchsuchungsbeschluss gem. § 102 StPO, um die Wohnung des B sowie seine Arbeitsplätze in den Firmengebäuden zu durchsuchen. Des Weiteren erließ es Beschlüsse gem. § 103 StPO, um Geschäftsräume sowie beim ehemaligen Steuerberater, ehemaligen Geschäftspartnern und den Banken des B zu durchsuchen. Dabei wurden zahlreiche Unterlagen und elektronische Datenträger aufgefunden. Der Abschluss der Durchsicht der vorläufig sichergestellten Unterlagen wurde in der Akte vermerkt. Die BuStra beantragte die Beschlagnahme von 82 näher bezeichneten sichergestellten Gegenständen als Beweismittel. Zugleich wurde die Rückgabe von Unterlagen sowie der forensisch gesicherten IT-Beweismittel an B verfügt.
Die Verteidigung merkte hierzu an, dass aufgrund der Durchsicht des sichergestellten Materials kein Beschlagnahmebedürfnis bestehe. Zudem habe die Verteidigung Anspruch auf Einsicht in die gesamte Akte unter zumutbaren Rahmenbedingungen. Ferner benötige B die Unterlagen bzw. zumindest erhebliche Teile dringend für den Betrieb. Daraufhin teilte das AG der BuStra mit, dass eine Beschlagnahme der Unterlagen im Original jedenfalls unverhältnismäßig sei, wenn der B nicht an Kopien der Unterlagen gelangen könne, um seinen Geschäftsbetrieb fortzuführen. Es werde daher um Mitteilung an das Gericht gebeten, bis wann die beweisrelevanten Unterlagen zur Einsichtnahme für die Verteidiger digitalisiert werden könnten. Ohne die Aussicht einer zeitnahen Möglichkeit, zumindest an Kopien der Unterlagen zu kommen, sei der Antrag auf Beschlagnahme wohl abzulehnen. Mit Beschluss lehnte das AG den Beschlagnahmeantrag ab und verfügte die Herausgabe der Unterlagen an den letzten Gewahrsamsinhaber. Gegen diesen Beschluss legte die BuStra erfolgreich Beschwerde ein.
Entscheidungsgründe
Das LG hob den Beschluss auf und ordnete die Beschlagnahme von ‒ im Einzelnen näher bezeichneten ‒ Gegenstände und Unterlagen an (LG Nürnberg-Fürth 1.8.24, 18 Qs 14/24, Abruf-Nr. 244117).
PRAXISTIPP | Während der Durchsuchung vor Ort selbst wird regelmäßig nicht abschließend über die Verfahrensrelevanz einzelner Unterlagen oder Daten entschieden; dafür ist regelmäßig auch gar nicht die Zeit.
Die Staatsanwaltschaft und auf deren Anordnung ihre Ermittlungspersonen sind gem. § 110 StPO bei Durchsuchungen befugt, Papiere und elektronische Daten durchzusehen. Die Durchsicht stellt noch keine formelle Sicherstellung oder Beschlagnahme dar. Vielmehr dient sie dazu zu prüfen, ob eine richterliche Beschlagnahme zu beantragen oder eine Rückgabe notwendig ist (BGH 5.6.19, StB 6/19; OLG Frankfurt a. M. 23.10.96, 3 VAs 4/96; OLG Jena 20.11.00, 1 Ws 313/00). |
Im Rahmen der sog. Durchsicht ist es nicht gestattet, Beweismittel auszuwerten. Dies darf erst nach richterlicher Anordnung der Beschlagnahme erfolgen, § 94 Abs. 2 i. V. m. § 98 Abs. 1 S. 1 StPO (BVerfG 17.11.22, 2 BvR 827/21).
MERKE | Werden bei einer Durchsuchung Unterlagen zur Durchsicht sichergestellt, ist eine richterliche Beschlagnahme oder jedenfalls eine richterliche Bestätigung der Sicherstellung erforderlich, bevor die Unterlagen ausgewertet werden (LG Stralsund 26.7.22, 26 Qs 45/21). Dieses Zwischenstadium ist der endgültigen Entscheidung über die Beschlagnahme vorgelagert (BGH 18.5.22, StB 17/22). |
Zu Beweisstücken i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO werden die im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellten Unterlagen bzw. Datenträger erst, wenn die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO erfolgt und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist (vgl. OLG Koblenz 30.3.21, 5 Ws 16/21). Kurzum: alles nicht so einfach und ein Grund mehr, die strafprozessualen Zusammenhänge noch einmal darzustellen:
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1. Wie gelangen Unterlagen oder Daten in den Besitz von Ermittlungsbehörden? | Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung bedeutsam sein können, sind in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen, § 94 Abs. 1 StPO. Befinden sich die Gegenstände in dem Gewahrsam einer Person und werden sie nicht freiwillig herausgegeben, bedarf es der Beschlagnahme, § 94 Abs. 2 StPO. |
2. Wer darf eine Beschlagnahme anordnen? | Beschlagnahmen dürfen nur durch das Gericht, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 GVG) angeordnet werden, § 98 Abs. 1 S. 1 StPO. |
3. Sind Fristen zu beachten? | Der Beamte, der einen Gegenstand ohne gerichtliche Anordnung beschlagnahmt hat, soll binnen drei Tagen die gerichtliche Bestätigung beantragen, wenn der Betroffene gegen die Beschlagnahme ausdrücklichen Widerspruch erhoben hat, § 98 Abs. 2 S. 1 StPO.
Merke | Ein Verstoß gegen diese Frist beeinflusst die Wirksamkeit der Beschlagnahme nicht. Ausnahme: Die Fristüberschreitung dient der bewussten Ausschaltung der richterlichen Kontrolle (MüKo/Hauschild, StPO, 2. Aufl., § 98 Rn. 23; KK-StPO/Greven, 9. Aufl., § 98 Rn. 16). |
4. Was sind Beweismittel? | Beweismittel sind alle Gegenstände, die mittelbar oder unmittelbar für die Tat oder die Umstände ihrer Begehung Beweis erbringen (OLG Hamm 18.8.20, 2 Ws 108/20) oder für den Straffolgenausspruch beweisbedeutsam sind (OLG Hamm 18.8.20, 2 Ws 107/20). |
5. Was ist eine Untersuchung? | Untersuchung i. S. d. § 94 StPO meint das Strafverfahren von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss (OLG, Hamm a. a. O.).
Merke | Das Vorliegen eines einfachen Anfangsverdachts genügt, ein bestimmter Verdachtsgrad wird nicht vorausgesetzt (BGH 23.8.23, StB 47/23). Dass zumindest der einfache Anfangsverdacht vorliegen muss, heißt, dass konkrete Tatsachen die Annahme belegen, es sei eine verfolgbare Straftat begangen worden; bloße Vermutungen genügen nicht (BVerfG 23.1.04, 2 BvR 766/03). |
6. Welche Anforderungen werden an die Bedeutung gestellt? | Um die Bedeutung als Beweismittel für die Untersuchung zu bejahen, ist erforderlich ‒ aber auch ausreichend ‒, dass bei einer Ex-ante-Betrachtung die nicht völlig fernliegende Möglichkeit besteht, dass der Gegenstand im weiteren Verfahren in irgendeiner Weise zu Beweiszwecken verwendet werden kann (BVerfG 1.10.87, 2 BvR 1178/86; BGH 11.1.24, StB 75/23; OLG Düsseldorf 2.9.93, 3 Ws 466/93).
Einer (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit bedarf es nicht. Vielmehr genügt schon die Erwartung, dass der Gegenstand oder dessen Untersuchung Schlüsse auf verfahrensrelevante Tatsachen zulässt. Für welche Beweisführung er im Ergebnis in Betracht kommt, braucht noch nicht festzustehen (BGH 14.6.18, StB 13/18; LG Hamburg 23.4.20, 620 Qs 1/20). Es kommt auch nicht darauf an, ob der Gegenstand später tatsächlich als Beweismittel verwendet wird. |
7. Schließt die freiwillige Herausgabe eine förmliche Beschlagnahme aus? | Nein (BGH 7.9.56, 1 BJs 182/55, StB 28/56; MüKo/Hauschild, a. a. O., § 94 Rn. 45; KK-StPO/Greven, a. a. O., § 94 Rn. 16; Menges in: Löwe-Rosenberg/Menges, StPO, 27. Aufl., § 94 StPO Rn. 41). |
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1. Ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Beschlagnahmerecht bedeutsam? | Ja. Die Sicherstellung (und Beschlagnahme) muss geeignet und erforderlich sein, um ihren Zweck ‒ insbesondere die Beweissicherung ‒ zu erreichen; sie darf ferner ‒ insbesondere unter Berücksichtigung der Beweisbedeutung des Gegenstands und des Gewichts des strafrechtlichen Vorwurfes, der damit bewiesen werden soll ‒ nicht außer Verhältnis zu den mit ihr verbundenen Nachteilen für den Gewahrsamsinhaber stehen (Löwe-Rosenberg/Menges, a. a. O., § 94 StPO Rn. 51).
Merke | Die Sicherstellung (Beschlagnahme) muss in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts stehen und für die Ermittlungen notwendig sein (BVerfG 5.8.66, 1 BvR 586/62, 610/63, 512/64; OLG Hamm 18.8.20, 2 Ws 107/20, 2 Ws 108/20, 2 Ws 109/20). Es ist stets zu prüfen, ob mildere Maßnahmen ausreichen. |
2. Welche Abwägung ist im jeweiligen Einzelfall vorzunehmen? | Im Einzelfall ist das Interesse der Allgemeinheit an einer leistungsfähigen Strafjustiz, die zum Gewährleistungsbereich des Rechtsstaatsprinzips gehört und deshalb ebenfalls Verfassungsrang hat, gegen das Grundrecht der störungsfreien Ausübung des Eigentumsrechts, hilfsweise der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, aber auch gegen das Recht auf Achtung der Privatsphäre des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, abzuwägen (vgl. BayObLG 28.7.20, 8 St ObWs 5/20; Löwe-Rosenberg/Menges a. a. O., § 94 StPO Rn. 51).
Eine im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit einzustellende Alternative ist nicht gleichwertig, wenn zwar der Regelungsadressat weniger belastet wird, aber Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet werden.
Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Rechtspflege zu gewährleisten, umfasst regelmäßig auch die Pflicht, sicherzustellen, dass ein Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wird (vgl. BVerfG 19.6.79, 2 BvR 1060/78). |
3. Welche Leitlinien werden bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Beschlagnahme von Schriftstücken in Papierform allgemein vertreten? | Der Betroffene sollte als erforderliches, aber zugleich auch mildestes Mittel Kopien von dringend benötigten Geschäftsunterlagen anfertigen können, um das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren (vgl. BVerfG 18.2.08, 2 BvR 2697/07).
Merke | Dem Begehren eines Gewerbetreibenden, anhand der Buchhaltungsunterlagen noch fehlende Jahresabschlüsse erstellen zu wollen, werde hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass er Fotokopien dieser Unterlagen erstellen könnte (vgl. KG Berlin 27.9.99, 2 AR 38/98, 4 Ws 203/99).
Ferner wird vertreten, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme sei zumindest zu bedenken, ob ggf. Originalurkunden durch beglaubigte Fotokopien ersetzt werden könnten oder ob dem Betroffenen Gelegenheit zu geben sei, Ablichtungen fertigen zu lassen (vgl. BGH 9.1.89, StB 49/88; LG Magdeburg 18.3.96, 24 Qs 3/96). Ihre Grenze fänden derartige Erwägungen jedoch, wenn die noch nicht abgeschlossene inhaltliche Auswertung der sichergestellten Unterlagen besonders schwierig sei und nach der Sachlage die nicht bloß abstrakte, fernliegende Möglichkeit bestehe, dass sich weitere kriminaltechnische Untersuchungen im weiteren Verfahren als notwendig erweisen würden. Dann reiche es nicht aus, von den beschlagnahmten Gegenständen Fotografien oder Kopien zu fertigen (BGH 20.10.95, StB 81/95). |
4. Sind weitere Differenzierungen denkbar? | Ja. So wurde auch bereits vertreten, dass in Fällen, in denen beglaubigte Fotokopien den Beweiszweck ebenso wie die Originalurkunden erfüllten, die Originale nach Herstellung von Fotokopien, die beschlagnahmt würden, an den früheren Inhaber zurückzugeben. |
5. Gibt es noch strengere Ansätze? | Ja. Z. T. wird sogar vertreten, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete (stets) Folgendes: Unterlagen, die erforderlich seien, um den Geschäftsbetrieb fortzuführen und insbesondere Steuererklärungen zu bearbeiten, seien dem Betroffenen im Original alsbald ‒ jedenfalls ohne unzumutbare Behinderung des Geschäftsbetriebs ‒ wieder zur Verfügung zu stellen, nachdem die Kopien erstellt worden seien (LG München 22.11.02, 14 Qs 200/02).
Komme es auf das Original an, könne der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz es gebieten, dem Betroffenen Ablichtungen der beschlagnahmten Schriftstücke zur Verfügung zu stellen. Aus Gründen der Praktikabilität könnten dabei in beiden Fällen die infrage stehenden Urkunden selbst zunächst mit der Maßgabe beschlagnahmt werden, dass dem früheren Inhaber gestattet werde, Ablichtungen zu fertigen, die dann entweder anstelle der Originale beschlagnahmt oder dem Inhaber zur Verfügung gestellt würden (vgl. LG Aachen 31.5.89, 63 Qs 131/89). |
6. Ist das zur Last gelegte Delikt insoweit bedeutsam? | Ja. Bei der Prüfung der Angemessenheit einer Beschlagnahme können eine Bagatellstraftat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Objekte sowie die Vagheit des Anfangsverdachts, der auf konkreten Tatsachen beruhen muss, im Einzelfall der Verhältnismäßigkeit entgegenstehen (vgl. MüKo/Hauschild, a. a. O., § 94 Rn. 24). |
7. Sind Zeitabläufe relevant? | Ja, durchaus. Werden umfangreiche Aktenbestände beschlagnahmt, kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine zeitnahe Durchsicht und die Aussonderung der sichergestellten Akten erfordern, die offensichtlich nicht beweisbedeutsam sind (vgl. MüKo/Hauschild, a. a. O., § 94 Rn. 29). |
8. Gibt es schematische Lösungen? | Nein. Die Frage, ob sich die Anordnung der Beschlagnahme insbesondere von in Papierform aufgefundenen (Original-) Unterlagen i. S. d. § 257 HGB, §§ 140-148 AO als verhältnismäßig erweist und ob und ggf. welche Ersatzmaßnahmen im Rahmen der Erforderlichkeit als milderes Mittel zu wählen sind, um das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu wahren, kann nur unter Würdigung und Abwägung aller Umstände und Interessenlagen des Einzelfalles insbesondere anhand der Merkmale Erforderlichkeit und Angemessenheit erfolgen.
Merke | Grundsätze, dass insbesondere bei (Original-) Unterlagen i. S. d. § 257 HGB, §§ 140-148 AO die Originale stets herauszugeben seien, oder aber vom umgekehrten Ansatz auszugehen sei, lehnt das LG Nürnberg-Fürth ab. |
9. Was folgt aus all dem? | In Fällen, in denen Kopien oder eine elektronische Erfassung durch Einscannen im weiteren Verfahren nicht in gleicher Weise zu Beweiszwecken verwendet werden können wie die Originale, werden in Papierform aufgefundene (Original-) Unterlagen ‒ insbesondere solche i. S. d. § 257 HGB, § 140-148 AO ‒ durch die Ermittlungsbehörden also regelmäßig im Original beschlagnahmt.
Merke | Benötigt der Betroffene allerdings Kopien ‒ für einen von ihm darzulegenden oder sonst allgemein nachvollziehbaren dringenden Zweck, z. B. um sich aus den §§ 238 ff., 242 ff. HGB ergebenden oder auch steuerlichen Verpflichtungen zu erfüllen ‒, ist es zu ermöglichen, solche selbst zu fertigen, oder ihm sind solche zur Verfügung zu stellen.
In allen anderen Fällen jedoch ‒ insbesondere wenn keine Echtheitsprüfung erforderlich ist ‒ ist es aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten, Papierbeweismittel lediglich in Kopie zu beschlagnahmen. |
10. Was folgt hieraus für Steuerstrafverfahren? | Hier wird es für die Ermittler häufig auf Originale ankommen, etwa wenn es um die Frage der Befugnis zur Schätzung nach § 162 Abs. 2 S. 2 AO geht. Im Kern geht es darum, ob ordnungsgemäße Bücher oder sonstige Aufzeichnungen vorliegen und der Besteuerung zugrunde gelegt werden können oder nicht.
Eine Buchung oder eine Aufzeichnung darf z. B. nicht in einer Weise verändert werden, dass der ursprüngliche Inhalt nicht mehr feststellbar ist.
Auch solche Veränderungen dürfen nicht vorgenommen werden, deren Beschaffenheit es ungewiss lässt, ob sie ursprünglich oder erst später gemacht worden sind, § 146 Abs. 4 AO.
Eine (Beweis-) Lage ‒ insbesondere ‒ i. d. S. kann ‒ bei in Papierform aufgefundenen (Original-) Unterlagen i. S. d. § 257 HGB, §§ 140-148 AO ‒ regelmäßig nur mittels der Original-(papier-)Unterlagen geführt werden, die (auch optisch) Auskunft darüber geben, an welcher Stelle, in welcher Form und wie einzelne Belege erfasst sind.
Beachten Sie | Um Manipulationen zu prüfen, ist vielfach eine Echtheitsprüfung erforderlich.
Die Annahme, Kopien von (Original-) Unterlagen i. S. d. § 257 HGB, §§ 140-148 AO oder deren elektronische Erfassung könnten ein mit ihnen identisches Abbild darstellen, widerspricht nach Ansicht des LG Nürnberg-Fürth jeder Lebenserfahrung: „Derartige Papiere zeichnen sich durch unterschiedliche Papierformate aus, häufig sind sie beidseitig beschriftet und geklammert oder in Sichtfolien abgelegt, haben unterschiedliche Schriftstärken und Farben und befinden sich teilweise in Briefumschlägen und (Papier-)Tüten oder in Form ungeöffneter Briefe. Dieser Zustand (i. S. d. § 158 Abs. 2 Nr. 1 AO) lässt sich nicht ‚kopieren‘ und auch nicht ‚einscannen‘, ungeachtet der Tatsache, dass auch bei Einsatz modernster Vervielfältigungstechnologie die Gefahr besteht, dass bei schwacher Schriftstärke und/oder farbigem (Original-)Papier mit der Folge einer schwarzen Kopie Zahlen, Symbole oder Buchstaben nicht lesbar sind.“
Mehr noch: „Letztlich wäre bei Unterlagen i. d. S. die Gefahr gegenwärtig, dass der Betroffene ‒ in diesem Fall meist der Beschuldigte ‒ nach Rückerhalt der Originale weitere ‒ ihm günstige ‒ Papierbeweismittel erstellen und mit der schwer zu widerlegenden Behauptung vorlegen könnte, diese hätten sich bei den aufgefundenen Unterlagen befunden und seien nur lediglich nicht kopiert worden.“ |
11. Dürfen die Ermittler bereits bei der Durchsicht nach § 110 StPO für sich selbst Kopien fertigen? | Ja. Zwar ist im Rahmen der ‒ möglicherweise auch lang andauernden ‒ Durchsicht nach § 110 StPO eine Auswertung von Beweismitteln noch nicht gestattet. Dennoch wird das Anfertigen von Kopien betreffend Unterlagen, bei denen bei einer Ex ante-Betrachtung die ‒ nicht völlig fernliegende ‒ Möglichkeit bejaht werden kann, dass sie im weiteren Verfahren in irgendeiner Weise zu Beweiszwecken verwendet werden können, vom LG Nürnberg-Fürth für zulässig erachtet. Das Interesse der Allgemeinheit an einer leistungsfähigen Strafjustiz und die Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Rechtspflege zu gewährleisten, seien im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit zu berücksichtigen. |
Rechte der Verteidigung im weiteren Verlauf
Nach § 147 Abs. 1 StPO ist der Verteidiger berechtigt, amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. Im Fall einer Vorgehensweise gemäß § 110 StPO entsteht dieses Recht allerdings erst, wenn die Durchsicht abgeschlossen und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist (OLG Koblenz 30.3.21, 5 Ws 16/21; OLG Jena 20.11.00, 1 Ws 313/00).
MERKE | Ein pauschaler Anspruch auf Vervielfältigung sämtlicher sichergestellter bzw. beschlagnahmter (Papier-) Beweismittel durch die Ermittlungsbehörden, unabhängig davon, ob diese im weiteren Verfahren in irgendeiner Weise zu Beweiszwecken verwendet und Aktenbestandteil werden sollen, soll nach Ansicht des LG Nürnberg-Fürth nicht bestehen. |
Allerdings können als Beweismittel verwahrte Schriftstücke, die einer unkomplizierten Vervielfältigung zugänglich sind, bei einer Besichtigung nach § 147 Abs. 1 StPO an Amtsstelle in Kopie mitgegeben bzw. zu deren Eigenfertigung durch die Verteidigung an Amtsstelle überlassen werden. Die notwendigen technischen Voraussetzungen werden allerdings jeweils in der Verantwortlichkeit der Verteidigung liegen.
MERKE | Idealerweise sollte bereits am Tag der Durchsuchung noch versucht werden, während der Zusammenstellung der Unterlagen in den Geschäftsräumen noch Kopien zu fertigen. Entsprechende Wünsche sollten früh im Tagesverlauf kommuniziert werden, denn erfahrungsgemäß schwindet die ermittlungsbehördliche Bereitschaft zu einer solchen einvernehmlichen Abwicklung, je näher das übliche Ende der behördlichen Dienstzeit kommt. |
Sicherstellung/Beschlagnahme beim Steuerberater
Durchsuchungen beim Steuerberater weisen keine Besonderheiten auf. Entsprechende Beschlüsse nach § 103 StPO werden stets eine sog. Abwendungsklausel enthalten, d. h., der Berufsträger kann die entsprechenden Unterlagen eigenverantwortlich zusammenstellen.
PRAXISTIPP | Der Steuerberater sollte stets auf eine Beschlagnahme von Unterlagen und Daten bestehen, d. h. nur freiwillig heraussuchen, aber niemals freiwillig herausgeben. |