· Fachbeitrag · Festsetzungsverjährung
BFH zur Ablaufhemmung des § 171 AO bei Fahndungsprüfungen
von RAin Christina Odenthal-Middelhoff, LL.M., Zertifizierte Beraterin für Steuerstrafrecht (DAA), und RA Dominic Vallera, Ebner Stolz, Köln
| Der BFH hat sich erneut mit der Festsetzungsverjährung sowie deren Ablaufhemmung beschäftigt und zugleich die Anforderungen an die Sachverhaltsfeststellungen eines finanzgerichtlichen Urteils konkretisiert. |
Sachverhalt
Die Klägerin (K), auf deren Name ein gewerbliches Einzelunternehmen angemeldet war, reichte am 27.11.02 ihre Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2001 ein. Das FA erließ im März 2003 einen Einkommensteuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. 2006 durchsuchte die Steuerfahndung die Geschäftsräume dieser Firma, bei der die K persönlich nicht anwesend war. Während der Durchsuchung händigte die Steuerfahndung eine „Nachweisung“ über die beschlagnahmten Unterlagen vor Ort an eine Frau E aus. Erst am Folgetag wurde gegen die K ein Steuerstrafverfahren eingeleitet, ohne dass es zu einer Bekanntgabe kam. Seitens des FA erging sodann im Januar 2010 ein geänderter Einkommensteuerbescheid, der den Betriebsausgabenabzug für zwei Provisionszahlungen und eine Handwerkerrechnung versagte.
Im Einspruchsverfahren berief sich die K u. a. auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung und eine schenkweise Übertragung der Firma bereits Ende 2003 an Frau E. Das FG wies die anschließende Klage ab; die Festsetzungsfrist sei gem. § 171 Abs. 5 S. 1 AO gehemmt worden, da für die Steuerpflichtige aus dem Beschlagnahmeprotokoll vor dem Ablauf der regulären Festsetzungsfrist klar erkennbar gewesen sei, dass und inwieweit die Steuerfahndung gegen sie ermittle. Die K legte Revision ein.
Entscheidungsgründe
Der BFH hat die Revision der K als begründet angesehen und die Sache mithin an das FG zur anderweitigen Entscheidung zurückverwiesen (6.5.20, X R 26/19, Abruf-Nr. 218226). Zunächst rügte der X. Senat die Sachverhaltsfeststellungen des FG. Es hatte schlicht unterstellt, die K habe von der Nachweisung noch vor dem Ablauf der regulären Festsetzungsfrist Kenntnis erlangt. Zudem ist ein im Konjunktiv abgefasster Tatbestand, der nicht erkennen lässt, welche der darin wiedergegebenen Tatsachenbehauptungen der Beteiligten das FG mit Bindungswirkung für das Revisionsgericht hat feststellen wollen, fehlerhaft. Darüber hinaus muss das FG nach Ansicht des BFH erwägen, ob die angefochtene Steuerfestsetzung schon aus materiell-rechtlichen Gründen rechtswidrig ist, weil die K das Unternehmen möglicherweise nicht selbst geführt hat. Der Gewinn aus einem Einzelunternehmen ist demjenigen zuzurechnen, der Unternehmerinitiative entfaltet, das Unternehmen also tatsächlich führt, und das Unternehmerrisiko trägt. Zweifel daran können sich hier insbesondere aus der Entfernung der Geschäftsräume zum Wohnort, der individuellen Fachkenntnisse hinsichtlich des Unternehmensgegenstandes und etwaig nach außen auftretender Personen ergeben.
Zudem stellen die Richter klar, dass das FG im Rahmen der Prüfung der Festsetzungsfrist zunächst eine mögliche Verlängerung auf zehn Jahre durch eine Steuerhinterziehung in den Blick nehmen muss, § 169 Abs. 2 S. 2 AO. Für eine solche Verlängerung ist es nicht erforderlich, dass die Tat durch den Steuerschuldner oder einen seiner Erfüllungsgehilfen begangen wurde, § 169 Abs. 2 S. 3 AO.
Erst nachdem die konkrete Festsetzungsfrist bestimmt worden ist, kann es auf deren mögliche Ablaufhemmung ankommen. So ist etwa die Festsetzungsfrist gem. § 171 Abs. 7 AO an die straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfolgungsverjährung gekoppelt. Bei Annahme einer leichtfertigen Steuerverkürzung könnte der Eintritt der Verfolgungsverjährung im März 2008 (fünf Jahre nach Bekanntgabe des Erstbescheids) entsprechend der richterlichen Ausführungen durch mögliche Durchsuchungsbeschlüsse gegen die K im Oktober 2006 unterbrochen worden sein. Mithin hätte die Verfolgungsverjährung sodann von Neuem begonnen, und eine Festsetzungsverjährung wäre zum Zeitpunkt des angefochtenen Bescheids im Januar 2010 noch nicht eingetreten.
Nach Ansicht des BFH wäre allenfalls in einem nächsten Schritt noch eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 5 AO zu prüfen. Dabei stellen die Richter klar, dass § 171 Abs. 5 S. 1 AO in objektiver Hinsicht nicht den gesamten Steueranspruch umfasst. Die Ablaufhemmung bezieht sich nicht auf eine bestimmte Steuerart und einen bestimmten Veranlagungszeitraum, sondern auf einen bestimmten Sachverhalt bzw. Sachverhaltskomplex; sie tritt allein hinsichtlich der Steuern ein, die sich aus Sachverhalten ergeben, die Ermittlungsgegenstand waren. Da aus der vom FG zugrunde gelegten Nachweisung kein konkreter Sachverhaltskomplex ersichtlich sein dürfte, wird es sich dem Senat zufolge mit der Frage befassen müssen, welche Anforderungen an die Erkennbarkeit der Ermittlungsmaßnahmen zu stellen sind, um die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 5 S. 1 AO in subjektiver Hinsicht zu konkretisieren. Innerhalb der BFH-Rechtsprechung sei bisher nicht geklärt, ob auch die Erkennbarkeit ‒ wie der objektive Umfang der Fahndungsprüfung ‒ auf den betroffenen Sachverhaltskomplex bezogen sein muss oder ob insoweit eine nicht näher spezifizierte Erkennbarkeit von Ermittlungsmaßnahmen der Steuerfahndung ausreicht.
Auch könnte sich die von der K behauptete schenkweise Übertragung des Einzelunternehmens in 2003 auf die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 5 S. 1 AO auswirken, da es tatbestandlich auf Ermittlungen „beim Steuerpflichtigen“ ankommt.
Relevanz für die Praxis
Das Urteil belegt die praktische Relevanz des Zusammenspiels von strafrechtlicher Verfolgungsverjährung und steuerlicher Festsetzungsverjährung. Insbesondere bei der Ablaufhemmung muss der Berater sorgfältig herausarbeiten, wann wer innerhalb der Finanzbehörde welchen Sachverhaltskomplex inwieweit geprüft hat. Ob es ausreicht, dass der Steuerpflichtige abstrakt erkennt, dass Ermittlungsmaßnahmen gegen ihn ergriffen wurden, bleibt fraglich und wird auch weiterhin ein Problem darstellen. Erst im Juli 2018 bestätigte der VIII. Senat des BFH seine Rechtsprechung und entschied, dass sich die erforderliche Erkennbarkeit i. S. d. § 171 Abs. 5 S. 1 AO auf den von der Ermittlungsmaßnahme konkret betroffenen Sachverhaltskomplex beziehen muss (dazu Külz/Odenthal, PStR 19, 2 f.). Das FA wird sich aber wohl auf den gegenteiligen Standpunkt stellen, um so eine Ablaufhemmung begründen zu können.