· Fachbeitrag · Steuerstrafverfahren
Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung in Steuerstrafsachen
von RA Dr. Peter Talaska, FA StR und RA Benedikt Hoffmann, Streck Mack Schwedhelm, Köln Berlin München
| Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kann nur in ganz außergewöhnlichen Sonderfällen zu einem Verfahrenshindernis führen. In der Regel ist der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot durch seine Feststellung und den Ausspruch, dass ein Teil der Strafe als vollstreckt anzusehen ist, zu kompensieren - so der BGH am 11.8.16. |
Sachverhalt
Der Angeklagte verbrachte unversteuerte Zigaretten von Polen in das deutsche Steuergebiet, ohne bei den Zollbehörden eine Steuererklärung abzugeben. Er verstieß damit gegen die Erklärungspflicht gemäß § 23 TabStG.
Das LG verurteilte wegen Steuerhinterziehung unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe aus einer früheren - aus einem abgetrennten Verfahren resultierenden - Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten. Wegen einer im Urteil festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung von drei Jahren sollten davon vier Monate als vollstreckt gelten. Die Strafe aus der früheren Verurteilung hatte der Angeklagte bereits teilweise im Gefängnis verbüßt.
Er war im Zeitpunkt des aktuellen Urteils bereits wieder auf freiem Fuß, da der Rest der Strafe der früheren Verurteilung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Nun musste der Angeklagte wieder zurück ins Gefängnis („Drehtüreffekt“). Der Angeklagte machte mit der Revision geltend, es habe ein Verfahrenshindernis vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Der BGH stellte bei der Prüfung eines Verfahrenshindernisses wegen Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren und den Beschleunigungsgrundsatz allein auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ab und sah dieses nicht als gegeben an (BGH 11.8.16, 1 StR 196/16, Abruf-Nr. 189145).
Lediglich in ganz außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen einer Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht komme, könne eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu einem Verfahrenshindernis führen.
Ein solcher Sonderfall habe weder im Hinblick auf die dreijährige Verzögerung noch aufgrund der Abtrennung von Verfahrensteilen bestanden. Die Kompensation der festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sei rechtmäßig unter Anwendung des Vollstreckungsmodells erfolgt. Der „Drehtüreffekt“ sei vom LG ausdrücklich und rechtmäßig strafmildernd berücksichtigt worden.
Praxishinweis
Der Verteidiger müsste in einem Fall wie dem vorliegenden auch Art. 47 S. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („GRC“) in seine Verteidigungsstrategie aufnehmen.
Der Anwendungsbereich der GRC ist unseres Erachtens gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC eröffnet und hätte auch vom BGH herangezogen werden müssen: Das gegenständliche Steuerstrafverfahren soll Verstöße gegen das TabStG sanktionieren, welches die TabakStRL (RL 2011/64/EU) umsetzt. Es dient mithin der Durchführung des Rechts der Union (EuGH 26.2.13, C-617/10, Åklagare/Hans Åkerberg Fransson, PStR 13, 87).
Die Auslegung hat sich daher im vorliegenden Fall auch am Unionsrecht zu messen, insbesondere an der Rechtsprechung des EuGH. Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC kann durch das Unionsrecht im Einzelfall sogar ein weitergehender Schutz zu gewähren sein als auf Basis des nationalen Rechts und der EMRK. Im Verfahren hätte also geltend gemacht werden können, dass nach unionsrechtlichen Grundsätzen aufgrund der Kumulation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und dem an sich unerwünschten „Drehtüreffekt“ ein Verfahrenshindernis anzunehmen sei. Dies hätte gegebenenfalls zu einer Vorlage des Falls zum EuGH geführt, um den Grundsatz des fairen Verfahrens auszulegen.
Denkbar wäre auch, dass der „Drehtüreffekt“ nicht - wie vom LG angenommen - im Rahmen der Strafzumessung, sondern bei Anwendung des Vollstreckungsmodells nach den Grundsätzen der EuGH-Rechtsprechung hätte berücksichtigt werden müssen. So hätte möglicherweise ein Teil von mehr als vier Monaten bereits als vollstreckt gegolten.
Zudem kann durch den Verstoß gegen die GRC der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch ausgelöst werden. Die zusätzliche Anspruchsgrundlage ist vor dem Hintergrund der § 198 Abs. 2 S. 2 GVG, § 199 Abs. 3 S. 1 GVG relevant. Danach scheidet eine zusätzliche finanzielle Entschädigung in Geld aufgrund überlanger Verfahrensdauer bei erfolgter Kompensation im Wege des Vollstreckungsmodells grundsätzlich aus. Ein Amtshaftungsanspruch nach nationalem Recht kommt zumeist nicht in Betracht, da allein die überlange Verfahrensdauer eines Strafverfahrens regelmäßig noch keine schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darstellt.
Weiterführender Hinweis
- Tsambikakis, Strategien bei überlanger Verfahrensdauer, PStR 06, 205 ff.