· Fachbeitrag · Pflichtverteidigung
Checklisten: Erst Wahl-, dann Pflichtverteidiger - wirkt die Pflichtverteidigerbestellung zurück?
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a. D., Münster/Augsburg
| Vergütungsansprüche gegen die Staatskasse entstehen für den Rechtsanwalt, der beigeordnet oder bestellt wird, erst für Tätigkeiten ab dem Zeitpunkt seiner Bestellung oder Beiordnung. Von diesem Grundsatz enthält § 48 Abs. 6 RVG durch die sog. Erstreckung eine Ausnahme für den Pflichtverteidiger: Ist dieser bereits vor seiner Beiordnung oder Bestellung als Wahlanwalt für den Mandanten tätig gewesen, kann er für diese Tätigkeiten ebenfalls gesetzliche Gebühren als Pflichtverteidiger verlangen. Die folgenden zwei Checklisten zeigen, worauf Sie achten müssen, damit Ihnen keine (gesetzlichen) Gebühren verloren gehen. Wir nehmen damit Anregungen unserer Leser zu unserem Beitrag aus RVG prof. 16, 151 auf. |
Checkliste 1 / Allgemeine Fragen der Erstreckung | |
Frage | Antwort |
| Ein Rechtsanwalt, der während des Verfahrens bestellt oder beigeordnet wird, erhält die (gesetzliche) Vergütung auch für Tätigkeiten, die er zuvor erbracht hat (sog. Erstreckung). |
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| Ja. § 48 Abs. 6 RVG gilt insbesondere auch für den im Wege der PKH dem Nebenkläger beigeordneten Rechtsanwalt (OLG Koblenz RVGreport 08, 139). |
| Nein. § 48 Abs. 6 RVG spricht von „Vergütung“, somit von „Gebühren und Auslagen“ (§ 1 Abs. 1 S. 1 RVG). Folge: Auch die vor Bestellung/Beiordnung entstandenen Auslagen können verlangt werden. |
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| Der Rechtsanwalt erhält, wenn er im Laufe des ersten Rechtszugs bestellt wird, seine Vergütung auch für Tätigkeiten als Wahlanwalt vor dem Zeitpunkt der Bestellung oder Beiordnung. |
| Nein (OLG Schleswig SchlHA 06, 301). Für den (früheren) Wahlverteidiger entsteht im Fall der Beiordnung als Pflichtverteidiger der Anspruch auf alle gesetzlichen Gebühren allein durch den Umstand der Bestellung als solches, unabhängig davon, wann die Beiordnung erfolgt. |
| Ja, vgl. § 48 Abs. 6 S. 1 RVG: „einschl. seiner Tätigkeit vor Erhebung der öffentlichen Klage“
Achtung: § 48 Abs. 6 S. 1 RVG gewährt aber keinen Vergütungsanspruch für nicht erbrachte Tätigkeiten. Vielmehr muss der Rechtsanwalt vor der Beiordnung/Bestellung eine Tätigkeit erbracht haben (OLG Hamm AGS 05, 437; OLG Rostock AGS 14, 179; LG Berlin AGS 05, 401). |
| Ja, vgl. § 48 Abs. 6 S. 2 RVG. |
| Der Rechtsanwalt erhält im Fall der Beiordnung in einem späteren Rechtszug nur die Vergütung aus diesem Rechtszug und nicht auch die aus früheren (Burhoff, a.a.O., § 48 Abs. 6 Rn. 14 ff.). Achtung: Einbezogen wird aber über § 48 Abs. 6 S. 1 RVG die Tätigkeit, die er vor seiner Bestellung in dem späteren Rechtszug erbracht hat. |
| Werden Verfahren verbunden, kann das Gericht „die Wirkungen des § 48 Abs. 6 S. 1 auch auf die Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war“. Es ist also ein besonderer Erstreckungsantrag des Anwalts erforderlich. |
| Wenn der Rechtsanwalt in einem von mehreren Verfahren bereits als Pflichtverteidiger beigeordnet ist und zu diesem Verfahren weitere Verfahren, in denen er nicht als Pflichtverteidiger beigeordnet ist, aber Tätigkeiten für den Mandanten erbracht hat, hinzu verbunden werden, muss der Rechtsanwalt einen Erstreckungsantrag stellen. |
| M. E. gilt das Erfordernis eines Erstreckungs-antrags dann nicht (KG JurBüro 09, 531; OLG Bremen RVG prof. 12, 186; OLG Hamm AGS 05, 437; OLG Jena Rpfleger 09, 171; LG Aurich RVGreport 11, 221; LG Dortmund StraFo 06, 258; Burhoff, a.a.O., § 48 Abs. 6 Rn. 29 ff.; Burhoff in: Gerold/Schmidt, RVG, 22. Aufl., § 48 Rn. 205).
Diese Sicht wird inzwischen aber bestritten (OLG Braunschweig NStZ-RR 14, 232; OLG Koblenz RVG prof. 13, 42; OLG Oldenburg RVG prof. 11, 104; ähnlich OLG Celle, 2.2.07, 1 Ws 575/06; OLG Rostock, RVG prof. 09, 155). Der Rechtsanwalt sollte daher regelmäßig in allen Fällen einen Erstreckungsantrag stellen, in denen eine Erstreckung in Betracht kommen könnte. |
| Ja (AG Tiergarten RVG prof. 09, 203; vgl. aber LG Aurich RVGreport 14, 69). |
Checkliste 2 / Erstreckungsantrag, Voraussetzungen und Rechtsmittel | |
Frage | Antwort |
| Nein, in den Fällen des S. 1 und 2 ist ein Antrag nicht erforderlich. In diesen Fällen tritt die Erstreckung von Gesetzes wegen ein. Im Fall des S. 3 ist für die Erstreckung eine Entscheidung des Gerichts erforderlich. |
| Nein, das RVG sieht einen Antrag nicht zwingend vor. I. d. R. wird aber die Erstreckung nur auf Antrag erfolgen (KG JurBüro 09, 531). |
| I. d. R. wird der Rechtsanwalt den Antrag ausdrücklich stellen. Er kann den Antrag aber auch konkludent stellen (OLG Celle 2.1.07, 1 Ws 575/06). Dies kann z. B. in einem Vergütungsfestsetzungsantrag des Verteidigers aber auch in einer Erinnerung gegen die Ablehnung der Vergütungsfestsetzung gesehen werden (LG Freiburg RVGreport 06, 183). |
| Zwingend ist dies nicht. Eine Begründung empfiehlt sich aber. |
| Das RVG regelt keinen Zeitpunkt der Antragstellung. Der Verteidiger sollte den Erstreckungsantrag aber so früh wie möglich stellen. |
| Ja. Der Erstreckungsantrag ist rein kostenrechtlicher Natur (KG RVG prof. 12, 6; [inzidenter] OLG Düsseldorf RVG prof. 07, 175; OLG Hamm, Beschl. 29. 1. 08, 4 Ws 9/08; LG Braunschweig RVG prof. 16, 24; LG Cottbus RVG prof. 13, 44; LG Dresden RVG prof. 08, 75; LG Freiburg RVG prof. 06, 93; offengelassen von LG Berlin JurBüro 06, 29).
Der Erstreckungsantrag sollte aber auf jeden Fall vor Abschluss des Verfahrens gestellt werden, um ggf. die Diskussion über die Frage zu vermeiden, ob der Erstreckungsantrag als Regelung im Zusammenhang mit der Pflichtverteidigerbestellung noch nach Abschluss des Verfahrens gestellt werden kann. |
| Hierfür ist funktionell das Gericht, nicht etwa allein der Vorsitzende zuständig (OLG Düsseldorf RVG prof. 07, 175). |
| Über den Antrag wird i. d. R. ausdrücklich entschieden (OLG Jena RVG prof. 09, 2; a.A. LG Koblenz StraFo 07, 525). |
| Nein, nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG steht sie im Ermessen des Gerichts, da dort mit „kann“ formuliert ist. |
| Nach der Gesetzesbegründung zu § 48 Abs. 5 S. 3 RVG a.F. soll die Erstreckung erfolgen, wenn eine Beiordnung oder Bestellung unmittelbar bevorgestanden hätte, falls die Verfahren nicht verbunden worden wären (BT-Drucksache 15/1971, S. 201).
Achtung: Entscheidend ist, ob die materiellen Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung vorgelegen haben und deshalb dem Beschuldigten auch in dem hinzuverbundenen Verfahren ein Pflichtverteidiger hätte bestellt werden müssen, wenn er dort keinen Wahlverteidiger gehabt hätte (so zutreffend [inzidenter] OLG Düsseldorf RVG prof. 07, 175; OLG Hamm 18.1.11, 5 Ws 394/10; LG Kiel 29.8.06, 32 Qs 52/06).
Es ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen (OLG Düsseldorf, a.a.O.; LG Bielefeld 4.1.06, Qs 731/05 III; LG Dortmund 19.12.06, I Qs 87/06). Es kommt nicht darauf an, welchen Umfang die Tätigkeit hatte, die der Rechtsanwalt vor der Verbindung der Verfahren in dem hinzu-verbundenen Verfahren entfaltet hat, ob sie ggf. „überschaubar“ war (OLG Düsseldorf, a.a.O.). |
| Nein (KG RVG prof. 12, 6; LG Cottbus RVG prof. 13, 44; LG Kiel RVG prof. 06, 202; a.A. LG Berlin JurBüro 06, 29; LG Bielefeld RVG prof. 08, 154; offengelassen von OLG Hamm 18. 1. 11, 5 Ws 394/10). |
| Ja, der Rechtsanwalt kann aus eigenem Recht Beschwerde einlegen (KG RVG prof. 12, 6; OLG Düsseldorf RVG prof. 07, 175; OLG Hamm 29.1.08, 4 Ws 9/08; LG Bielefeld 4.1.06, Qs 731/05 III; LG Cottbus RVG prof. 13, 44). |
| Nein, der Mandant hat kein eigenes Recht, eine (nicht) erfolgte Erstreckung anzufechten (RVG prof 12, 6). |
Weiterführender Hinweis
- Erst Wahlanwalt, dann Pflichtverteidiger, oder: Wirkt die Pflichtverteidigerbestellung zurück?, RVG prof. 16, 151