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  • · Fachbeitrag · Rücklagen

    NPO in Corona-Krise in der Existenz bedroht? Rücklagenbildung rückt in den Fokus

    von Rechtsanwälte Dr. K. Jan Schiffer, Matthias Pruns und Christoph J. Schürmann, alle Bonn (www.schiffer.de)

    | Die Corona-Krise betrifft auch gemeinnützige Organisationen (NPO), Wohlfahrtsverbände und soziale Dienste. Die Einnahmen brechen ein, die Kosten laufen aber weiter. Laut der in einem Spiegel-Online-Bericht vom 22.03.2020 zitierten Vorständin für Sozialpolitik beim Deutschen Caritasverband, Eva Welskopp-Deffaa, hat man als gemeinnütziger Träger keine Möglichkeiten, größere Rücklagen zu bilden. Welskopp-Deffaa spricht damit ein wichtiges Thema an, das viele gemeinnützige Körperschaften und gerade auch Stiftungen betrifft. Ihr Hinweis klingt dramatisch, ist aber so pauschal wohl nicht ganz zutreffend. Es lohnt jedenfalls ein genauerer fachlicher Blick. |

    Gemeinnützigkeit und zeitnahe Mittelverwendung

    Etwa 95 Prozent aller Stiftungen sind nach Erhebungen des Bundesverbands Deutscher Stiftungen steuerbegünstigt. Ihnen zur Seite stehen viele weitere steuerbegünstigte Körperschaften, insbesondere Vereine und gGmbH. Diese „NPO“ verfolgen gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke i. S. v. §§ 51 ff. AO. Den Umstand, dass das Vermögen, die Mittel und die Erträge dieser NPO für die Verwendung zu den jeweiligen steuerbegünstigten Zwecken gebunden und damit quasi gemeinnützig „infiziert“ sind, prämiert der Staat mit fast völliger Steuerfreiheit. Die konkrete Steuerbefreiung richtet sich nach den einzelnen Steuergesetzen, die für die Steuerfreiheit die „Gemeinnützigkeit“ im Sinne der Abgabenordnung fordern (z. B. § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG).

     

    Die Steuerbefreiung setzt voraus, dass eine NPO nach ihrer Satzung und ihrer tatsächlichen Geschäftsführung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgt (§ 63 Abs. 1 AO) und ihre Mittel für ihre jeweiligen steuerbegünstigen Zwecke verwendet. Dabei gilt nach § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO der Grundsatz, dass die betreffenden Körperschaften ihre Mittel zeitnah für die satzungsmäßigen Zwecke zu verwenden haben.

     

    Verwendung ist nach dem Gesetz auch die Verwendung der Mittel für die Anschaffung oder Herstellung von Vermögensgegenständen, die satzungsmäßigen Zwecken dienen. Eine zeitnahe Mittelverwendung ist nach § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO gegeben, „wenn die Mittel spätestens in den auf den Zufluss folgenden zwei Kalender- oder Wirtschaftsjahren für die steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke verwendet werden“. Werden sie nicht zeitnah verwendet, setzt die Finanzverwaltung in der Regel eine Frist zur Verwendung (§ 63 Abs. 4 AO).

    Erlaubte Rücklagenbildung ‒ ein Überblick

    Der Gesetzgeber beharrt aber nicht ausnahmslos auf dem Grundsatz zeitnaher Mittelverwendung, sondern lässt mit realistischem Blick auf die Praxis sehr wohl auch die Bildung von Rücklagen bei NPO zu.

     

    Eine steuerbegünstigte NPO ‒ und damit etwa auch eine gemeinnützige Stiftung ‒ kann im Rahmen von § 62 Abs. 1 und 2 AO davon absehen, ihre Mittel ganz oder teilweise für steuerbegünstigte Zwecke einzusetzen. Sie kann sie stattdessen einer Rücklage zuführen (zur Rücklagenbildung siehe etwa Spitaler/Schröder, DStR 2014, 2144, 2146 ff.; zur Prüfungspraxis der Finanzbehörden Kirchhain, DStR 2016, 104). Die Rücklagenbildung dient der dauerhaften Sicherung der Zweckerfüllung sowie der Erhaltung und Steigerung der Leistungsfähigkeit einer NPO.

     

    Arten zulässiger Rücklagenbildung nach dem Gesetz

    Das Gesetz nennt ausdrücklich verschiedene Arten zulässiger Rücklagenbildung (näher dazu Schiffer in: ders. (Hrsg.), Die Stiftung in der Beraterpraxis, 4. Aufl., 2016, Seite 407 ff.; Buchna/Leichinger/Seeger/Brox, Gemeinnützigkeit im Steuerrecht, 11. Aufl. 2015, Seite 246 ff.):

     

    • Die zur nachhaltigen Zweckerfüllung erforderliche (konkrete) Rücklage (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 AO). Davon erfasst ist insbesondere die Projektrücklage zur Finanzierung eines oder mehrerer konkreter Projekte der NPO, die in der Praxis erfahrungsgemäß eine wichtige Rolle spielt. Auch die Betriebsmittelrücklage für laufende Kosten (z. B. Miete, Löhne) ist von dieser Vorschrift erfasst (Einzelheiten dazu unten).

     

    • Die Wiederbeschaffungsrücklage für die beabsichtigte Wiederbeschaffung von Wirtschaftsgütern, die zur Verwirklichung der steuerbegünstigten, satzungsmäßigen Zwecke erforderlich sind (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 AO).

     

    • Die freie Rücklage (§ 62 Abs. 1 Nr. 3 AO), der jedoch höchstens ein Drittel des Überschusses aus der Vermögensverwaltung und darüber hinaus höchstens zehn Prozent der sonstigen zeitnah zu verwendenden Mittel zugeführt werden dürfen. Wird der Höchstbetrag für die Bildung der freien Rücklage in einem Jahr nicht ausgeschöpft, kann diese unterbliebene Zuführung aber in den folgenden zwei Jahren nachgeholt werden. Auch diese Art der Rücklage erscheint uns in dem vorliegenden Zusammenhang als besonders bedeutsam (Einzelheiten dazu unten).

     

    • Die Rücklage zum Erwerb von Gesellschaftsrechten zur Erhaltung der prozentualen Beteiligung an Kapitalgesellschaften (§ 62 Abs. 1 Nr. 4 AO), wobei die Höhe einer solchen Rücklage auf die Höhe einer freien Rücklage nach § 62 Abs. Abs. 1 Nr. 3 AO angerechnet wird.

     

    PRAXISTIPP | Gemeinnützige Körperschaften dürfen selbst dann solche gesetzlich vorgesehenen Rücklagen bilden, wenn diese Möglichkeit nicht explizit in ihrer Satzung erwähnt ist. Eine Satzungsänderung ist also nicht erforderlich. Vorsorglich sollte die Regelung aber ausdrücklich insbesondere in die Satzung einer Stiftung aufgenommen werden, um hier jegliche Diskussion zu vermeiden, ob der Stifter diese Möglichkeit der Rücklagenbildung gewollt hat ‒ oder eben gerade nicht. Denn es gilt bekanntlich der Primat des Stifterwillens. Die steuerliche Möglichkeit der Thesaurierung und Rücklagenbildung darf nicht den Blick auf das Zivilrecht verstellen, d. h. das Stiftungsrecht, das GmbH-Recht, das Vereins-

    recht etc. Die steuerrechtlichen Regelungen zur Rücklagenbildung sind gegenüber dem Zivilrecht nicht vorrangig. So ist etwa eine Rücklagenbildung, unabhängig von der steuerrechtlichen Unbedenklichkeit, nur bei entsprechendem Stifterwillen auch stiftungszivilrechtlich zulässig. Bei einer Errichtung der NPO sollten in den Satzungen entsprechende Rücklagenbildungen (ggf. unter Verweis auf die Bestimmungen der AO) ausdrücklich zugelassen werden.

     

    Verhältnis verschiedener Rücklagen unter- und zueinander

    Durch die verschiedenen Möglichkeiten zur Bildung von Rücklagen kann es dazu kommen, dass der Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben (Liquidität) in einem Veranlagungszeitraum gar nicht ausreicht, um alle denkbaren und im konkreten Fall erforderlichen Rücklagen zu dotieren. Ersichtlich können nur tatsächlich vorhandene Mittel in eine Rücklage eingestellt werden (so auch ausdrücklich AEAO Nr. 14 S. 2 zu § 62 Abs. 2 AO).

    Die Betriebsmittelrücklage

    Die Höhe einer Betriebsmittelrücklage für die laufenden Kosten der NPO (z. B. für Miete und Nebenkosten, Löhne etc.), die im vorliegenden Zusammenhand praktisch besonders bedeutsam ist, hängt im Einzelfall einerseits von den besagten tatsächlichen (ggf. prognostizierten) Kosten und andererseits von den regelmäßigen „Einnahmen“ der NPO ab. Auf die Herkunft der Mittel kommt es für die Rücklagenbildung nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht an (Buchna/Leichinger/Seeger/Brox, aaO., S. 248). Es können also alle der zeitnahen Verwendung unterliegenden Mittel, wie z. B. Spenden und laufende Vermögenserträge, einer solchen Rücklage zugeführt werden.

     

    Körperschaft kann zivilrechtlich an konkrete Auflage gebunden sein

    Etwas anderes kann im Einzelfall dann gelten, wenn ein Spender oder auch ein anderer Geldgeber (z. B. der Staat) mit einer konkreten Auflage die Verwendung ausdrücklich nur für eine bestimmte Zweckerfüllung vorgegeben hat. Auch hier gilt: Die steuerrechtliche Zulässigkeit einer Rücklagenbildung hebelt nicht das Zivilrecht aus. Nimmt die Körperschaft eine Zuwendung mit bestimmten Auflagen an, ist sie zivilrechtlich an diese Vorgaben gebunden (siehe etwa Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 8.83).

     

    Diese Frage dürfte z. B. auch bei dem von der Bundesregierung nun beschlossenen Rettungsschirm an Bedeutung gewinnen. So heißt es in Berichten zu dem Rettungsschirm, dass sich die sozialen Dienste, sozusagen als Gegenleistung für die zugesicherten Mittel, „zum Einsatz bei der Bekämpfung der Corona-Epidemie und ihrer Folgen verpflichten“ müssen. Das sei „Voraussetzung dafür, dass die Gelder weiter fließen. Dazu sollen sie so weit wie möglich Arbeitskräfte, Räume und Sachmittel zur Verfügung stellen. Konkret geht es um Einrichtungen wie Kitas, Behindertenwerkstätten, Tagespflege oder Rehakliniken“ (Spiegel Online vom 23.03.2020, „Bund rettet auch soziale Dienste ‒ Insolvenzen abgewendet“, www.iww.de/s3473).

     

    Erlaubt das auch die Einstellung solcher Mittel in eine Rücklage, etwa in eine Betriebsmittelrücklage? Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass diese Gelder ganz zeitnah zum Einsatz kommen und gerade nicht zurückgehalten werden sollen. Die betroffenen NPO und auch die Bundesregierung werden trotzdem gut daran tun, diese Frage zu klären. Denn nach ihrem Sinn und Zweck ist die Betriebsmittelrücklage gerade in Zeiten großer Planungsun-sicherheit essenziell für die Absicherung einer kontinuierlichen Arbeit. Das wurde in der Vergangenheit allerdings durchaus kritisch gesehen.

     

    Mittelbedarf ‒ Zeitspanne abhängig von Verhältnissen des Einzelfalls

    Die steuerrechtlich zulässige Betriebsmittelrücklage darf ohne weiteres den Mittelbedarf einer Zeitspanne von ein, zwei oder ggf. auch bis zu zwölf Monaten umfassen. Entscheidend sind die Verhältnisse des Einzelfalls. Maßgebend können etwa Forderungsausfälle in früheren Veranlagungszeiträumen sein. Die Zeitspanne ist umso weiter zu fassen, je ungewisser die Einkünfte sind. So lesen wir es zu der Zeitspanne etwa im „Standardwerk der Finanzverwaltung“ (Buchna/Leichinger/Seeger/Brox, aaO., Seite 249).

     

    Klar ist, dass dabei ein ganz besonderer Sachverhalt wie die „Corona-Krise“ nicht bedacht worden ist, sind doch gegenwärtig selbst bisher als sicher eingestufte Einkünfte nicht mehr ungefährdet. Klar scheint aber auch, dass das Sparen für die Zukunft bisher nicht besonders in Mode gewesen ist. Die Zeiten waren anders. Die Stichworte lauten beinahe überbordendes Controlling, Drücken der Verwaltungskosten, um als besonders „spendenwürdige“ Organisation zu erscheinen (Stichwort: Spendensiegel des DZI), zu oft unbefangen positiver Blick in die Zukunft nach langen erfolgreichen Jahrzehnten.

     

    So waren Diskussionen mit der Finanzverwaltung oder etwa auch dem Bundesrechnungshof über eine angeblich zu hohe Betriebsmittelrücklage über eine zu lange Zeitspanne in unserer Praxis nicht ganz selten. Eine längere Zeitspanne als sechs Monate erforderte bisher besonders gute Argumente und damit einen im Einzelfall nicht unerheblichen Diskussions- und Argumentationsaufwand, der oft gescheut wurde. Das rächt sich nun. Denn aus heutiger Sicht ist eine nach diesen eher strengen Maßstäben der Vergangenheit ausgestattete Betriebsmittelrücklage zu niedrig.

     

    Wichtig | Die Betriebsmittelrücklage gibt, wenn sie vorausschauend angewandt wird, den NPO erhebliche Sicherheit für ein nachhaltiges gemeinnütziges Wirken. Der Gesetzgeber hat den NPO dafür gute rechtliche Rahmenbedingungen gegeben. Die wurden in der Praxis aber sowohl auf Seiten der NPO als auch auf Seiten der Finanzverwaltung, jedenfalls zum Teil, nicht vorausschauend genug genutzt. Das wird sich ändern.

    Die freie Rücklage

    Ein Drittel des Überschusses aus der Vermögensverwaltung (AEAO Nr. 9 zu § 62 Abs. 1 Nr. 3 AO formuliert: „… ein Drittel des Überschusses der Einnahmen über die Ausgaben aus der Vermögensverwaltung …“) darf eine gemeinnützige NPO als freie Rücklage nach § 62 Abs. 1 Nr. 3 1. Hs. AO thesaurieren (näher dazu Schiffer, aaO., Seite 409 f.). Unter „Ausgaben aus der Vermögensverwaltung“ in diesem Sinne sind Aufwendungen zu verstehen, die dem Grunde nach Werbungskosten sind (AEAO Nr. 9 S. 2 zu § 62 Abs. 1 Nr. 3 AO).

     

    Dieses Drittel eines Überschusses aus der Vermögensverwaltung reicht bei der gegebenen geringen Kapitalverzinsung typischerweise aber nicht einmal für den Inflationsausgleich aus. Damit kann der Grundsatz der Vermögenserhaltung, der für eine rechtsfähige Stiftung gilt, aus steuerlicher und stiftungsrechtlicher Sicht hier ggf. nicht in einem absoluten Sinne erfüllt werden. Wir haben es hier seit Jahren mit „faktischen Verbrauchsstiftungen“ zu tun. Das ist genau betrachtet ein Zusatzargument dafür, die Betriebsmittelrücklage eher für eine längere als für eine kürzere Zeitspanne aufzubauen.

     

    Darüber hinaus ist es steuerlich unschädlich, wenn eine gemeinnützige Körperschaft höchstens zehn Prozent ihrer „sonstigen“ nach § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO zeitnah zu verwendenden Mittel einer freien Rücklage zuführt (§ 62 Abs. 1 Nr. 3 HS. 1 AO). Dazu zählen etwa Gewinne aus wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben oder Zweckbetrieben und Bruttoeinnahmen aus dem ideellen Bereich (Spitaler/Schröder, DStR 2014, 2144, 2148). Wird der Höchstbetrag für die Bildung der freien Rücklage in einem Jahr nicht ausgeschöpft, kann diese unterbliebene Zuführung nach dem Gesetz in den folgenden zwei Jahren nachgeholt werden (siehe dazu auch AEAO Nr. 11 zu § 62 Abs. 1 Nr. 3 AO).

     

    Wichtig | Damit hat der Gesetzgeber den NPO eine weitere erhebliche Möglichkeit der finanziellen Absicherung für ihr nachhaltiges Tun gegeben. Die NPO kann eine freie Rücklage jederzeit wieder auflösen, muss es aber nicht. Sie ist frei, die Mittel nach (ggf. auch nur teilweiser) Auflösung der Rücklage zeitnah zu verwenden, ihrem Grundstockvermögen zuzuführen oder ggf. eine neue, andere Rücklage zu bilden, sofern die Voraussetzungen dafür vorliegen.

    Zu hohe Verwaltungskosten in Krisenzeiten?

    Eine NPO muss für ihre Verwaltung und v. a. für ihre etwaige Spendenwerbung unvermeidlich finanzielle Mittel aufwenden. Unangemessen hohe Aufwendungen in diesem Bereich können zum Verlust der Gemeinnützigkeit führen und den Haftungstatbestand des § 10b Abs. 4 S. 4 EStG (Fehlverwendung gemeinwohlgebundener Mittel) begründen. Das ist in Zeiten drastisch sinkender Einnahmen bei mehr oder weniger gleichbleibenden Kosten ein erhebliches Problem, wenn man hier mit der traditionellen Sicht an die Dinge herangeht.

     

    In welchem Umfang eine gemeinnützige Körperschaft Mittel steuerunschädlich aufwenden darf, ist nach der Rechtsprechung des BFH eine Frage des Einzelfalls und nicht pauschal zu beurteilen (BFH DStR 1988, 1674, dazu BMF = DStR 2000, 969). Das lässt hinreichenden Raum für die Berücksichtigung besonderer Sachverhalte. Die Corona-Krise ist ein ganz besonderer Sachverhalt. Die außergewöhnlichen Umstände müssen zweifellos auch in den vorliegend betrachteten Zusammenhängen bei der Bewertung berücksichtigt werden.

     

    Bisher greift man in der Praxis vielfach ohne Weiteres auf die Empfehlungen des DZI für spendensammelnde Organisationen zurück, wonach ein Verwaltungskostenanteil von unter zehn Prozent als „niedrig“, von zehn bis unter 20 Prozent als „angemessen“ sowie von 20 Prozent bis 35 Prozent als „vertretbar“ bewertet wird (Abruf-Nr. 215003). Diese Empfehlungen sind aber schon bisher allenfalls Orientierungswerte gewesen und zudem ausdrücklich nur für spendensammelnde Organisationen gedacht. Auch wenn sie als Faustregeln hilfreich sein mögen, können sie nicht den Blick auf den konkreten Sachverhalt ersetzen. Das gilt ganz unabhängig davon, dass es genau betrachtet gar keine tragfähige rechtliche Grundlage dafür gibt, die Empfehlungen des DZI als „Soft-Law“ zur Anwendung zu bringen (zur Soft-Law Problematik siehe Schiffer, SB 5/2018, Seite 87). Angesichts der Dramatik der aktuellen Situation passen sie aber ohnehin ganz offensichtlich nicht mehr.

     

    Hilfreicher und tatsächlich auch rechtlich bindender sind deshalb die vom BFH aufgestellten Grundsätze (BFH, Beschluss vom 23.09.1998, Az. I B 82/98, Abruf-Nr. 214956), die in der Praxis bisher und auch in der Fachliteratur leider oftmals zu wenig Beachtung finden. Der BFH schreibt insbesondere:

     

    • Auszug aus der BFH-Entscheidung

    „Die Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG und die Steuervergünstigung gemäß § 10b EStG werden gewährt, um steuerbegünstigte Zwecke zu fördern. Das Ziel wird verfehlt, wenn die Körperschaft die Spenden weitgehend nicht für ihre satzungsmäßigen steuerbegünstigten Zwecke, sondern für ihre eigene Verwaltung und die Spendenwerbung einsetzt. Das Gesetz enthält jedoch keine absoluten oder prozentualen Obergrenzen für die Verwaltungskosten und die Aufwendungen für Spendenwerbung. Entscheidendes Kriterium ist deshalb, ob bei Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles das Ausgabeverhalten der Körperschaft angemessen ist. Angemessen ist ein Ausgabeverhalten, wenn es wirtschaftlich sinnvoll ist und dazu beiträgt, dass ein möglichst hoher Anteil der Mittel unmittelbar und effektiv den hilfsbedürftigen Personen zugutekommt. Zu berücksichtigen ist auch, ob sich die Körperschaft noch in der Aufbauphase befindet, in der sie zunächst und unvermeidbar einen sehr hohen Anteil ihrer Mittel für die Verwaltung und Spendenwerbung verwenden muss.“

     

    Entscheidend für die Angemessenheit sind zum einen also die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit des Ausgabeverhaltens und zum anderen die Frage, ob es dazu beiträgt, dass ein möglichst hoher Anteil der Mittel unmittelbar und effektiv den hilfsbedürftigen Personen zugutekommt. Gleichzeitig muss eine zeitliche Perspektive berücksichtigt werden. Der BFH verweist insoweit auf die besondere Aufbauphase einer Körperschaft, in der es unweigerlich zu erhöhten Ausgaben kommt. Man kann diesen Gedanken aber auch in zweifellos ebenfalls besonderen Krisenzeiten fruchtbar machen: Wenn Einnahmen aufgrund von Faktoren, die nicht im Einflussbereich der Organe der Körperschaft stehen, plötzlich wegbrechen und Ausgaben gleichbleiben, ändert sich die Verwaltungskostenquote automatisch, ohne dass den Organen der Körperschaft daraus zwingend ein Vorwurf gemacht werden kann.

     

    Wir kennen solche Phänomene in anderen Zusammenhängen. Das allgemeine Schuldrecht lässt etwa Anpassungen bestehender Verträge bei einer Störung der bisherigen Geschäftsgrundlage zu, also bei einer „schwerwiegenden“ Veränderung der Umstände, die Grundlage eines Vertrags waren (§ 313 BGB). Solche Ereignisse sind z. B. der Ausbruch eines Krieges, der Katastrophenfall, schwere Wirtschaftskrisen oder eine rasante Inflation. Auch im Stiftungsrecht begegnet uns dieser Gedanke. Eine wesentliche Änderung der Umstände kann ausnahmsweise eine Änderung der Stiftungszwecke zulassen, wenn sie dazu führt, dass die Stiftungszwecke nicht mehr oder nicht mehr wie ursprünglich gedacht verwirklicht werden können.

     

    Das alles macht deutlich, dass die bisherigen Standards nicht einfach unbesehen weiter angewendet werden können, nach denen etwa eine Quote von 20 bis 35 Prozent der Gesamtausgaben als noch vertretbar angesehen wurden, eine Quote von mehr als 50 Prozent aber nicht mehr (Geserich, DStR 2001, 604; Schauhoff, DStR 2002, 1694). Klar erschien schon in jüngerer Vergangenheit, dass diese Grundsätze, die noch aus der „Vorzeit“ hoher Zinsen und geringer Fundraising-Konkurrenz und damit geringerer Spendensammelkosten stammen, überdacht werden müssen (Schiffer, aaO., § 9 Rz. 116). Das gilt aktuell noch weitaus mehr als bisher. Auch das „Spendengeschäft“ etwa ist mit einer wesentlich geänderten („gestörten“) Geschäftsgrundlage konfrontiert. Das werden auch die Finanzämter und Stiftungsbehörden berücksichtigen müssen.

    Bedeutung für die Praxis: Aktuell und für die Zukunft

    Das Gesetz gibt NPO sehr wohl bedeutende Möglichkeiten zu Rücklagenbildungen, um deren nachhaltige gemeinnützige Tätigkeit abzusichern. Es mag allerdings sein, dass diese Möglichkeiten in der Praxis bislang nicht allerorten bekannt waren und sind, oder dass sie bisher zu zurückhaltend genutzt wurden. Auch eine strenge Handhabung der Finanzverwaltung und/oder der öffentlichen Geldgeber spielt hier eine Rolle. Insgesamt zeigt die Krise auch für den gemeinnützigen Sektor, dass wir in guten Zeiten viel zu oft „auf Kante genäht“ haben (siehe dazu schon Schiffer, SB 2/2019, Seite 21; ders. BC 2019, 376 ff.). Diesen Fehler dürfen wir in und nach der Krise nicht wiederholen. Es ist noch nicht ausgemacht, wie lange uns Corona in Atem halten wird. Manch eine Schätzung geht von Einschränkungen aus, die bis ans Ende des Jahres 2021 andauern werden. Mit dieser Ungewissheit müssen wir aktuell leben.

     

    Für die Vergangenheit gilt: Wer mutig war, sich argumentativ durchgesetzt und entsprechende Rücklagen gebildet hat, ist jetzt im Vorteil. Eine rückwirkende Rücklagenbildung für vergangene Jahre ist dagegen grundsätzlich nicht möglich, denn die Mittel sind ja bereits verwendet. Im Einzelfall mag das einmal anders sein, wenn es noch nicht verbrauchte, an sich zeitnah zu verwendende Mittel gibt. In solchen Fällen ist unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen zu einer großzügigeren Rücklagenbildung als bisher zu raten. Das gilt auch dann, wenn es noch immer Entscheider (z. B. Finanzbeamte) geben sollte, die an gestrigen Wahrheiten festhalten.

     

    Zahlreiche NPO finanzieren ihre Arbeit, insbesondere im Bereich der Zweckbetriebe, durch Entgelte und Zahlungen des Staats. Dort sind vielfach keine Rücklagen „eingepreist“ und damit faktisch ausgeschlossen. Hier haben staatliche Stellen bisher gerne einen sehr restriktiven Ansatz vertreten und ohne Blick auf die Nachhaltigkeit der gewünschten und geförderten NPO-Tätigkeit nur vom einen auf das andere Haushaltsjahr kalkuliert sowie das an sich auf der Hand liegende Erfordernis von Rücklagenbildungen negiert. Das rächt sich in der aktuellen Situation. Wir sollten uns deshalb hier gerade jetzt trauen, deutlich zu erklären, dass eine bestimmte nachhaltige Tätigkeit in Wirklichkeit eben nicht „100“ kostet, und schon gar nicht „95“, sondern eben etwa „110“. Das ist in unserem Jahrzehnt des vom Gedanken des Controllings gesteuerten (übersteuerten?) Einsparens in ganz vielen Bereichen ein heikles Thema. An der Richtigkeit des Gedankens für den Einzelfall ändert das allerdings nichts. NPO müssen hier die Krise als Chance begreifen und mit den Geldgebern realistischer und zukunftsweisender verhandeln als bisher. Nur so bekommen wir leistungsstarke und krisenfeste NPO.

    Quelle: Ausgabe 04 / 2020 | Seite 63 | ID 46462262