Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Unfallversicherung

    Kürzungsmöglichkeit des VR bei Unfallschäden wegen degenerativer Vorschäden

    von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte

    Ist ein Unfall ursächlich für eine dauerhafte Schädigung im Schultergelenk, berechtigen degenerative Vorschäden des Schultergelenks, die vor dem Unfall weder behandlungsbedürftig waren noch zu einer Funktionsbeeinträchtigung geführt hatten, nicht zur Kürzung der Invaliditätsentschädigung (OLG Stuttgart 7.8.14, 7 U 35/14, Abruf-Nr. 143240).

     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Der VN war bei Glatteis ausgerutscht und auf seine rechte Schulter gefallen. Dabei war seine bereits erheblich vorgeschädigte Rotatorenmanschette weiter geschädigt worden. Trotz operativer Versorgung verblieb ein Invaliditätsgrad von 4/10 Armwert. Die dafür vereinbarte Invaliditätssumme hat der VN gegenüber dem VR geltend gemacht. Dieser hat 2/5 der geforderten Beträge gezahlt und die Erbringung weiterer Leistungen abgelehnt, weil die Vorschädigungen zu 3/5 zu den Unfallfolgen beigetragen hätten und dies nach Ziff. 3 AUB 2008 anspruchsmindernd zu berücksichtigen sei.

     

    Das LG hat nach Beweisaufnahme aus diesem Grunde die Klage abgewiesen. Die Berufung hat aus folgenden Gründen Erfolg gehabt:

     

    Gemäß § 182 VVG hat der VR die Voraussetzungen für einen Wegfall oder eine Minderung des Anspruchs nachzuweisen. Dafür gelten die Regeln des Strengbeweises. Zweifel am Vorliegen einer mitwirkenden Krankheit oder eines mitwirkenden Gebrechens gehen daher zulasten des VR. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist zwar davon auszugehen, dass bei dem VN nicht unerhebliche, über das geschlechts- und altersentsprechende Maß hinausgehende degenerative Vorschädigungen im Bereich des rechten Schultergelenks vorgelegen haben. Es lässt sich aber nicht feststellen, dass es sich dabei um „Krankheiten oder Gebrechen“ im Sinne von Ziff. 3 AUB 2008 handelt.

     

    • Unter Krankheit ist ein regelwidriger - in der Regel heilbarer Q- Körper- oder Geisteszustand von einer gewissen (eher vorübergehenden) zeitlichen Dauer zu verstehen, der eine ärztliche Behandlung erfordert. Als Gebrechen wird ein dauernder abnormer Gesundheitszustand verstanden, der die Ausübung normaler Körperfunktionen jedenfalls teilweise behindert (vgl. z.B. BGH VK 10, 6).

     

    • Ein behandlungsbedürftiger regelwidriger Körperzustand kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beim VN nicht festgestellt werden. Eine bedingungsgemäße Krankheit scheidet deswegen aus. Es kann aber auch nicht festgestellt werden, dass an der rechten Schulter des VN vor dem Unfall ein Gebrechen vorgelegen hätte. Der Sachverständige hat insoweit ausgeführt, trotz des objektiven klinischen Erscheinungsbilds sei es häufig so, dass solche Vorschädigungen klinisch stumm verliefen und die Betroffenen keinerlei Symptome verspüren und keinerlei Einschränkung des Schultergelenks bestehe. Beim VN sei das unwiderlegt auch so gewesen. Es lässt sich somit nicht feststellen, dass dem VN vor dem Unfall eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen nicht möglich gewesen ist. Dies geht zulasten des beweispflichtigen VR.

     

    Praxishinweis

    Das Urteil ist mit der darin für ein Gebrechen gegebenen Definition vereinbar. Es übersieht aber, dass der BGH in dem vom OLG Stuttgart zitierten Beschluss (VK 10, 6) von dieser Definition abgewichen ist. Dort hat er weiter ausgeführt, dass immer von einem Gebrechen auszugehen ist, wenn eine früher erlittene Körperverletzung auch ohne zwischenzeitliche Beschwerden zur Verstärkung der gesundheitlichen Folgen eines späteren Unfalls beigetragen hat (für einen folgenlos ausgeheilten Kreuzbandriss). Danach hätte das OLG die Berufung zurückweisen müssen. Dass es sich im Fall des BGH um Unfallfolgen und nicht, wie hier, um die Folgen einer Degeneration handelt, ändert nichts. Ziff. 3 AUB behandelt beides unterschiedslos gleich. Die Begründung des BGH, der durchschnittliche VN erwarte nicht, dass der VR für unfallfremde Verursachungsanteile Versicherungsschutz biete, trifft auf beides zu.

     

    Die geänderte Rechtsprechung des BGH ist bei den Tatgerichten angekommen (LG Dortmund VK 10, 93; LG Itzehoe VK 13, 205; OLG Schleswig VersR 14, 1074). Ich hatte allerdings schon darauf hingewiesen (VK 10, 93, 94), dass die Entscheidung des BGH Verwirrung deswegen stiften muss, weil er sich nicht bzw. nicht ausdrücklich von der üblichen Definition des Gebrechens verabschiedet hat. Nur deshalb wird auch die besprochene Entscheidung des OLG Stuttgart verständlich.

     

    Unverständlich ist allerdings, dass das OLG die Revision nicht zugelassen hat. Immerhin weicht sein Urteil gleich von mehreren höher- und gleichrangigen Gerichten ab. Unverständlich ist auch, dass es das Urteil der renommierten Versicherungskammer des LG Dortmund nicht in die rechtlichen Überlegungen einbezogen hat. So bleibt nur zu hoffen, dass der BGH, bei dem eine Nichtzulassungsbeschwerde unter dem Aktenzeichen IV ZR 312/14 anhängig ist, sich des Problems annimmt und klarstellt, was unter einem Gebrechen zu verstehen ist. Für die Praxis wäre das von großer Bedeutung. Bis dahin kann natürlich das der Partei günstigste Verständnis vom Begriff des Gebrechens zugrunde gelegt werden.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Invaliditätsentschädigung: Voraussetzungen für die Anrechnung von Vorschädigungen: BGH VK 10, 6.
    • Keine Kürzung der Leistung bei Mitursächlichkeit durch normalen Verschleiß: OLG Celle VK 10, 22.
    • Altersgerechte Verschleißerscheinungen sind weder Krankheit noch Gebrechen: OLG Saarbrücken VK 11, 42.
    • Kürzungsmöglichkeit des VR, wenn degenerative Verschleißerscheinungen mitursächlich für die Unfallfolgen waren: LG Dortmund VK 10, 93.
    Quelle: Ausgabe 12 / 2014 | Seite 208 | ID 43061945